Übersichtsarbeiten - OUP 06/2024
Diagnostik und Klassifikation der HKB-RupturWann konservativ und wann operativ?
Das Diagnostikum der Wahl für das hintere Kreuzband sind die gehaltenen Aufnahmen [4]. Hierbei wird das Kniegelenk in einen Halteapparat eingespannt, um eine genau seitliche Aufnahme mit sich exakt überlagernden dorsalen Femurkondylen unter Applikation einer definierten Kraft von anterior nach posterior (hintere Schublade) und von posterior nach anterior (vordere Schublade) anzufertigen. In der Messmethode nach Jacobsen [5] lässt sich somit genau das Ausmaß der Verletzung darstellen und messen, wie weit sich der Tibiakopf im Vergleich zum Femur nach dorsal verschieben lässt. Der Abstand vom Mittelpunkt zwischen den dorsalen Femurkondylen zum Mittelpunkt zwischen den beiden Tibiaplateauhinterkanten wird auf einer Horizontalen zur Ebene des Tibiakopfes gemessen (Abb. 2). Somit lässt sich eine objektivierbare Quantifizierbarkeit erreichen. Die Aufnahmen werden initial beidseitig durchgeführt, um einen Vergleich zu den individuellen Normalwerten der unverletzten Seite zu haben. Bei frischen Verletzungen werden in den ersten 14 Tagen nach Verletzung die Aufnahmen, falls diese wirklich für die Diagnosestellung erforderlich sind, lediglich mit 5 kp angefertigt, um nicht das frische Regenerat und die beginnende Heilung mit einsetzender Narbenbildung durch Druck von vorne unnötig zu elongieren oder zu zerreißen. Aus demselben Grund wird nach über 14 Tagen nach der Verletzung auf gehaltene Aufnahmen meist verzichtet. Im chronischen Stadium (nach ca. 3 Monaten) kommen die oben beschriebenen Aufnahmen mit einer Kraftapplikation von 15 kp zum Einsatz. Physiologisch sind hier 0–3 mm Rückschub in den HSL-Aufnahmen, ab 5 mm Seit zu Seit Differenz ist der Verdacht auf eine HKB-Verletzung gegeben. Die Aufnahmen werden aber immer auch mit VSL-Aufnahmen kombiniert, um eine sogenannte fixierte hintere Schublade auszuschließen. Hierbei lässt sich der Tibiakopf trotz Kraftapplikation von posterior nach anterior nicht ausreichend nach ventral bewegen und der Schienbeinkopf bleibt in einer dorsalen Subluxationsstellung verhaftet, die mehr als –3 mm beträgt. Dies kommt vor, wenn die HKB-Verletzung elongiert der Schwerkraft folgend in einer Dorsalstellung verheilt ist und narbig fibrotisch in dieser Position verhaftet ist. Eine fixierte hintere Schublade sollte unbedingt vor einer operativen Stabilisierung ausgeschlossen werden, um das Knie nicht in einer unphysiologischen Position zu fixieren.
Achsaufnahmen müssen gerade auch im chronischen Fall in Erwägung gezogen werden, um ggf. auch die additive Behandlung weiterer knöcherner Pathologien zu diskutieren. Ganzbeinaufnahmen zur Bestimmung der frontalen Achse, aber gerade im Revisionsfall seitliche Röntgenaufnahmen mit langem Unterschenkel zur Evaluation des tibialen Slopes, sollten deshalb angefertigt werden. Ein niedriger Slope wurde in der Literatur als Risikofaktor für das Versagen einer HKB-Ersatzplastik bestätigt, sodass in derartigen Fällen eine Flexionsosteotomie diskutiert werden muss [6]. Ob die Korrektur eines flachen Slopes als Risikofaktor für eine HKB-Ruptur auch im Primärfall eine Rolle spielen sollte, ist derzeit Gegenstand der Forschung.
Eine MRT-Untersuchung muss bei jedem Verdacht auf eine HKB-Verletzung gerade auch bei initial schmerzbedingt schlechter Untersuchbarkeit angestrebt werden, wobei die meisten Patientinnen und Patienten im subakuten oder chronischen Stadium bereits eine Kernspintomografie erhalten haben. Während jedoch die Sensitivität bei frischen HKB-Verletzungen bei 100 % liegt, ist diese bei chronischen Verläufen deutlich geringer. Oft ist nur schwer zwischen einer Komplett- oder Partialruptur zu unterscheiden. Darüber hinaus erhält man im Gegensatz zu den gehaltenen Aufnahmen keine Information über die Funktionalität und das Ausmaß der biomechanischen Konsequenzen der HKB-Insuffizienz für das Knie. Aber dennoch ist die MRT-Untersuchung wichtig, um Kombinationsverletzungen oder Begleitverletzungen anderer Strukturen des übrigen Bandapparats, der Menisken und des Knorpels zu erkennen (Abb. 2). Derartige Läsionen haben einen wesentlichen Einfluss auf die Steuerung sowie das Timing der Therapie und können eine konservative Behandlung ausschließen.
Klassifikation
Es gibt neben der Unterscheidung in akute und chronische Verletzungen des HKB verschiedene Klassifikationen und Einteilungen, die jeweils mehr oder weniger Einfluss auf die Therapieentscheidung nehmen können.
Cooper et al. beschreiben in ihrer Klassifikation die Komplexität der Verletzung, so dass diese für Akutverletzungen verwendet werden kann [7]:
Grad 1: Isolierte Verletzung des HKB oder der posterolateralen Ecke
Grad 2: Kombinierte Verletzungen mit dorsaler Tibiaverschiebung ohne vermehrte mediale oder laterale Aufklappbarkeit in Streckung, aber in 30°-Flexion, sowie Zunahme der Außenrotation in 30°
Grad 3: wie Grad 2, aber mit zusätzlicher medialer bzw. lateraler Aufklappbarkeit in Streckung
Grad 4: Luxation
Eine sehr bekannte Klassifikation wurde von Harner et al. eher für chronische Verletzungen eingeführt und berücksichtigt die Schwere der HKB-Instabilität mit oder ohne posterolaterale Verletzung (Tab. 1) [8].
Nach der Auswertung von über 1000 gehaltenen Aufnahmen führten Schultz et al. [9] eine Klassifikation ein, an der zielgerichtet und pragmatisch das Ausmaß der Verletzung an der radiologischen posterioren tibialen Translation abgeschätzt werden kann (Tab. 2).
Zur genaueren Definition der posterolateralen Instabilität hat neben der Einteilung nach Fanelli (A: rotatorische Instabilität: Verletzung der Popliteussehne und des Lig. popliteofibulare; B: rotatorische und leicht varische Instabilität: zusätzlich Partialläsion des Außenbands; C: kombinierte hintere varische und rotatorische Instabilität: Ruptur HKB und Außenband) [10] eine neue Klassifikation, der sog. Posterolateral Instability Score (PoLIS) nach Weiler et al. [11] Einzug gehalten. In diesen fließen zur Beurteilung neben der (postero-) lateralen Instabilität und der Kreuzbandbeteiligung Kofaktoren wie Beinachse, Varus Thrust, Slope und das Vorliegen einer Fraktur mit ein.