Übersichtsarbeiten - OUP 01/2023

Diagnostik und Therapie der idiopathischen Skoliose

Florian Völlner

Zusammenfassung:
In der Gruppe der Skoliosen stellt die idiopathische Skoliose mit einem Anteil von ca. 80–90 % die größte Gruppe dar. Die idiopathischen Skoliosen werden in die idiopathische infantile (0–3 Jahre), juvenile (4–10 Jahre) und die Adoleszentenskoliose (> 10 Jahre) unterteilt. Die Diagnostik umfasst neben einer ausführlichen Anamnese, eine ausführliche körperliche Untersuchung sowie bildgebende Verfahren, wie die Oberflächenrasterstereometrie und Röntgenbildgebung. Die Therapie erfolgt in Abhängigkeit der Wahrscheinlichkeit der Progredienz der Skoliose, dem Cobb-Winkel der Wirbelsäulenkrümmung und Skelettalter. So werden milde Skoliosen konservativ, idealerweise mittels Krankengymnastik, Sport und evtl. dem konsequenten Tragen eines Korsetts behandelt. Hochgradige Skoliosen sollten operativ versorgt werden, wobei die Indikationsstellung individuell zu stellen ist und neben den Operationsrisiken eine ausführliche Aufklärung über die natural history der Skoliose, die postoperativen Einschränkungen, die das gesamte Leben betreffen, beinhalten sollte. Grundsätzlich stehen bei vorhandenem Wachstumspotential verschiedene Techniken wie traditionelle Wachstumsstäbe, magnetisch verlängerbare Wachstumsstäbe, aber auch neuere Techniken wie das vertebral body tethering zu Verfügung. Bei Skoliosen > 50° und einem ausgewachsenen Skelett sollte bei einer absehbaren Progredienz der Krümmungen zu einer Fusion geraten werden.

Schlüsselwörter:
Idiopathische Skoliose, Deformität, Korsett, konservative Therapie, operative Therapie

Zitierweise:
Völlner F: Diagnostik und Therapie der idiopathischen Skoliose.
OUP 2023; 12: 18–24
DOI 10.53180/oup.2023.0018-0024

Summary: In the scoliosis group, idiopathic scoliosis represents the largest group with a share of approximately 80–90 %. The group of idiopathic scoliosis itself is further divided into idiopathic infantile (0–3 years), juvenile, (4–10 years) and adolescent scoliosis (> 10 years), depending on the occurrence of the scoliosis. The therapy depends on the probability of progression of the scoliosis, the Cobb angle of the spinal curvature and skeletal parameters. Scoliosis in mild stages is treated conservatively, ideally with physiotherapy, sports and bracing. Servere scoliosis should be treated surgically, whereby the indication must be made individually. In principle, if there is growth potential, various techniques such as traditional growing rods, magnetically extendable growing rods or the vertebral body tethering are available. In the case of scoliosis > 50° and a fully grown skeleton, a fusion should be recommended, if a progress of the curvature is expected.

Keywords: Scoliosis, deformity, brace, conservative treatment, surgical treatment

Citation: Völlner F: Treatment of idiopathic scoliosis.
OUP 2023; 12: 18–24. DOI 10.53180/oup.2023.0018-0024

Medartes, Neutraubling

Definition der
idiopathischen Skoliose

Die idiopathische Skoliose ist definiert als eine strukturelle dreidimensionale Wirbelsäulendeformität mit einem Cobb-Winkel in der Frontalebene von mindestens 10° und eine Rotations- bzw. Torsionskomponente der Wirbelkörper. Die Skoliose ist (teil-)fixiert und kann weder aktiv noch passiv vollständig korrigiert werden. Davon abzugrenzen sind funktionelle Skoliosen oder „skoliotische“ Fehlhaltungen. Es handelt sich hierbei um eine alleinige Verkrümmung der Wirbelsäule in der Frontalebene ohne erkennbare strukturelle Veränderung oder eine Rotation der Wirbelkörper. Ursachen einer funktionellen Skoliose sind z.B. lokale Schmerzen im Sinne einer Lumbalgie oder eine Beinlängendifferenz mit konsekutivem Beckenschiefstand. Die funktionelle Skoliose ist dabei mit der Behandlung der Grundpathologie reversibel. Eine Sonderform der funktionellen Skoliose stellt die Säuglingsskoliose dar. Sie zeichnet sich durch einen langstreckigen, meist linkskonvexen Bogen aus und tritt im Alter von wenigen Monaten auf. Der Bogen ist in Bauchlage des Säuglings in beide Richtungen flexibel, eine Spontanheilung ist in 95 % der Fälle zu erwarten.

Ätiopathogenese und
Epidemiologie der Skoliose

Im Bereich der Skoliosen unterscheidet man die idiopathischen Skoliosen von den sekundären Skoliosen. Die Ätiologie für die idiopathischen Skoliosen ist weitgehend unbekannt. Aufgrund der erhöhten Inzidenz bei Verwandten ersten Grades (7–16 %) im Vergleich zu Normalbevölkerung (1,8 %) scheint eine genetische Prädisposition sicher. Darüber hinaus werden individuelle Störungen der Neuromodulation oder ein disproportionales Wachstum der vorderen und hinteren Anteile der Wirbel diskutiert [3]. Die idiopathische Skoliose ist mit 80–90 % aller Fälle die größte Gruppe der Skoliosen. In Abhängigkeit des Entstehungsalters der Skoliose wird die idiopathische Skoliose weiter in
3 Subtypen unterteilt: Die infantile Skoliose (0–3 Jahre), die juvenile Skoliose (4–10 Jahre) und die adoleszente Skoliose (> 10 Jahre). Der Anteil der infantilen Skoliosen beträgt 1–2 % an den idiopathischen Skoliosen. Wegen der starken Progredienz ist die Prognose trotz frühzeitiger Korsettbehandlung schlecht, vor allem auch wegen der Einschränkung der Lungenfunktion. Die Skoliose ist meist linkskonvex und häufig mit einer
Kyphose assoziiert. Der Anteil der juvenilen Skoliosen beträgt 10–20 %. Auch sie haben aufgrund der Progredienz eine schlechte Prognose. Nur 5 % der Skoliosen sind nicht progredient, die übrigen nehmen bis zum 10. Lebensjahr jährlich um 1–3°, während des pubertären Wachstumsschubes um 5–10° pro Jahr zu [14]. Aufgrund des ähnlichen Progredienzverhaltens und ähnlicher Behandlungsstrategien werden die infantilen Skoliosen und die juvenilen Skoliosen daher auch zu den Early-Onset-Skoliosen (EOS) zusammengefasst. In der Gruppe der idiopathischen Skoliosen ist die Adoleszentenskoliose mit 80–90 % wiederum die größte Untergruppe. Die Prävalenz beträgt in unseren Breitengraden etwa 2–3 % für Skoliosen mit einem Cobb-Winkel von > 10° bzw. für Skoliosen mit einem Cobb-Winkel > 20° ca. 0,5 %. Das Verhältnis weiblich/männlich variiert
zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts und beträgt für gering ausgeprägte Krümmungen 1:1, hingegen für moderate Verkrümmungen > 20° 4:1 und für schwere und sehr schwere Verkrümmungen 7:1.

Die verbleibenden 10–20 % der Skoliosen – auch sekundäre Skoliosen genannt – sind Folge unterschiedlicher Erkrankungen. So finden sich kongenitale Skoliosen, die sich aufgrund von Formationsfehler der Wirbelkörper sog. Halbwirbel oder Segmentationsfehler durch fehlerhafte Anlage des Bandscheibenfachs ausbilden. Auch neuromuskuläre Erkrankungen infolge peripher schlaffer oder zerebral spastischer Lähmungen oder Muskelschwäche bei progressiver Muskeldystrophie oder anderer kongenitalen Muskeldefekten führen oftmals zu Skoliosen. Eine weitere Ursache für Skoliosen sind Systemerkrankungen, wie z.B. die Neurofibromatosen, Osteogenesis imperfecta, Marfan-Syndrom oder Achondroplastie. Zuletzt finden sich degenerative Skoliosen, die sich aufgrund abnutzungsbedingter Veränderungen der Bewegungssegmente im Alter ausbilden (De-novo-Skoliosen).

Natürlicher Verlauf der
idiopathischen Skoliose

Der natürliche Verlauf der idiopathischen Skoliose hängt im Wesentlichen vom Alter und damit vom Restwachstum der Patientin/des Patienten und vom Krümmungsausmaß ab. Sie ist aber auch typabhängig. So sind balanciert doppelbogige Skoliosen stabiler im zeitlichen Verlauf als z.B. einbogige Skoliosen. Je größer der Cobb-Winkel und je jünger die Patientin/des Patienten ist, desto größer ist das Risiko einer Progredienz (Tab. 1). Bei Krümmungen mit einem Cobb-Winkel > 50° thorakal und > 30° lumbal bleibt auch nach Wachstumsabschluss ein Erfolg der konservativen Therapie fraglich. Hier ist mit einer Progredienz von 0,4–1° jährlich zu rechnen [19]. Im Langzeitverlauf kann es im Rahmen der Degeneration der Wirbelsäule zu Rückenschmerzen aber auch zu psychosozialen Problemen durch die kosmetische Deformität kommen. Thorakale Wirbelsäulenkrümmung > 80° führt zu Einschränkungen der Herz- und Lungenfunktion [12].

Klassifikationen der
idiopathischen Skoliose

Die einfachste Einteilung der idiopathischen Skoliose erfolgt nach dem Scheitelwirbel (Apexwirbel) der Hauptkrümmung in der a.p.-Wirbelsäulenganzaufnahme: Thorakalskoliosen (Scheitelwirbel BWK 2–BWK 11), Thorakolumbalskoliosen (Scheitelwirbel BWK 12 und LWK 1) und Lumbalskoliosen (Scheitelwirbel LWK 2–LWK4). Dies ist jedoch nur eine grobe Einteilung, wenig spezifisch und aussagekräftig. In der operativen Therapie hat sich die Lenke-Klassifikation durchgesetzt [7]. Die von King beschriebene Einteilung der Skoliose in 5 verschiedene Kurventypen findet aufgrund der unvollständigen Abbildung kaum mehr Verwendung [5]. Bei der Lenke-Klassifikation zunächst wird die Skoliose über die strukturellen Krümmungen im a.p.-Röntgenbild in die Typen I–VI eingeteilt und die Abweichung des lumbalen Apex-Wirbels von der sakralen Lotachse bestimmt („lumbar modifier“ A–C). Im seitlichen Bild erfolgt dann die Bewertung der thorakalen Kyphose („sagittal modifier“ –, N, +). In der Physiotherapie ist weltweit weiterhin die Lehnert-Schroth-Klassifikation [6] in Gebrauch, in der Korsettversorgung die Rigo-Klassifikation [13] sowie die Augmentierte Lehnert-Schroth-Klassifikation [20].

Diagnostik der
idiopathischen Skoliose

Anamnese

Bei der Erstanamnese der Skoliose sollten das Alter, Reifegrad und das Pubertätsstadium bestimmt werden. So weist der Zeitpunkt der Menarche beim Mädchen oder der Stimmbruch bei den Jungen darauf hin, dass sich das Wachstum etwas verlangsamt und in etwa 2–2,5 Jahren sistieren wird. Darüber hinaus sollte die Erstmanifestation, die bisherige Entwicklung der Skoliose, sowie die bereits erfolgte Behandlung erfragt werden und urologische, kardiovaskuläre oder pulmologische Grunderkrankung hinsichtlich syndromaler Skoliosen ausgeschlossen werden.

Klinische Untersuchung

Ein Überblick zur klinischen Untersuchung der idiopathischen Skoliosen findet sich in den Leitlinien der
SOSORT (2; Society on Scoliosis Orthopaedic and Rehabilitation Treatment). Essenziell sind die Lotbestimmung der Wirbelsäule, die Beurteilung des sagittalen Profils und die Beurteilung der Symmetrie der Schultern, der Taillendreiecke und des Beckens. Im Vorneigetest nach Adams erfolgt anschließend die Beurteilung und Messung des Rippenbuckels und des Lendenwulstes. Gemessen wird die Rotationsabweichung bevorzugt mit einem Skoliometer nach Bunnell [1]. Werte über 5° bedürfen einer radiologischen Abklärung mit Wirbelsäulenganzaufnahmen.

Bildgebende Verfahren

Bei den bildgebenden Verfahren stehen die Oberflächenrasterstereometrie, die konventionelle Röntgendiagnostik bzw. das EOS, die schnittbildgebenden Verfahren wie CT und MRT zu Verfügung. MRT und CT spielen in der Primärdiagnostik und in der Verlaufskontrolle der idiopathischen Skoliose keine Rolle und sind erst im Vorfeld operativer Maßnahmen indiziert, zum Ausschluss etwaiger intraspinaler Pathologien z.B. tethered cord, Diastematomyelie, Syringomyelie oder zur Schraubenplanung.

Zur strahlungsfreien Vermessung und Monitoring von Patientinnen und Patienten bietet sich die Oberflächenrasterstereometrie an. Hierbei werden Lichtstreifen definierter Breite und festgelegtem Abstand auf die Rückenoberfläche projiziert. Die Verzerrung der Lichtstreifen auf der Rückenoberfläche wird über ein Doppelkamerasystem erfasst und ein virtueller Gipsabdruck errechnet. Die Oberflächenrotation im Scheitelwirbelbereich zeigt dabei eine gute Korrelation zur tatsächlichen Wirbelkörperrotation mit einem Messfehler von ca. 3 % [21].

Zur radiologischen Erstdiagnostik und bei Progression der Skoliose sollten a.p.- und seitliche Wirbelsäulenganzaufnahmen im Stehen oder EOS-Aufnahmen durchgeführt werden. In den Röntgenbildern werden die Cobb-Winkel der Krümmungen und ggf. die Rotation des Apexwirbels nach Nash und Moe bestimmt [10]. Der Rippenwirbelkörperwinkel (RVAD („rib vertebral angle difference“) nach Mehta ist ein Prognosefaktor bzgl. der Progredienz nicht nur bei der infantilen Skoliose [8]. Bendingaufnahmen in maximaler Lateralflexion nach links und rechts werden dann zusätzlich zur Planung operativer Maßnahmen durchgeführt, um die Flexibilität der Wirbelsäule weiter einschätzen zu können.

Zur Bestimmung des Skelettalters wird weit verbreitet das Skelettalter nach Risser anhand der Verknöcherung der Beckenapophysen abgeschätzt (Risser I–V). Das Zeichen nach Risser lässt jedoch keine sichere Vorhersage des noch vorhandenen Wachstums zu, da die einzelnen Stadien sehr variabel im Vergleich zum Skelettalter auftreten und die Verknöcherung der Apophyse erst nach dem Wachstumspeak einsetzt [2, 9, 15]. Für die Abschätzung des Skelettalters sollten besser Handaufnahmen d.v. der nichtdominanten Hand durchgeführt werden und die Wachstumsprognose nach Greulich und Pyle oder über den Skelettreifescore nach Sanders abgeschätzt werden [4, 15]. Eine sehr exakte Abschätzung des Skelettalters ist auch über die Verknöcherung am Ellenbogen möglich [2, 16].

Konservative Therapie

Primärziel der konservativen Therapie ist die Verhinderung der Kurvenprogression der Skoliose. Eine vollständige Korrektur darüber hinaus ist leider in den wenigsten Fällen möglich. Nach Wachstumsabschluss sollte ein Skoliosewinkel unter 40° erreicht werden, da dies das Risiko für ein Fortschreiten der Skoliose und damit das Risiko für eine operative Therapie nach Wachstumsende minimiert wird. ().

Die konservative Therapie umfasst zunächst regelmäßige klinische Kontrollen. Die Frequenz der klinischen Verlaufskontrollen richtet sich zum einen nach der Ausprägung und zum anderen nach der zu erwartenden Progredienz der Wirbelsäulenkrümmung. So genügt es Patienten mit einem Cobb-Winkel < 20° und/oder einem geringen Progredienzrisiko alle 6 Monate einzubestellen, Patienten dagegen mit einem Cobb-Winkel > 20° und/oder einem erhöhten Progredienzrisiko sollten alle 3 Monate gesehen werden. Besonders in den ersten
5 Lebensjahren und nach dem 10. Lebensjahr ist die Gefahr einer Progredienz gegeben.

Ein weiterer wichtiger Baustein der Skoliosetherapie ist die regelmäßige Durchführung von Krankengymnastik, möglichst nach Katharina Schroth. Ziel ist es, muskuläre Dysbalancen zu behandeln, die Rückenmuskulatur zu stärken und die Erlernung der Haltungskontrolle bei den activities of daily living (ADL), um krümmungsförderndes Verhalten im Alltag zu vermeiden. Grundvoraussetzung für einen Therapieerfolg ist aber eine gute Compliance der Patientin/des Patienten. So sollten neben regelmäßiger Übungseinheit bei dem speziellen Schroth-Therapeuten (möglichst ein- bis zweimal pro Woche), auch möglichst täglich eigenständige Übungen durchgeführt werden. Die Therapiedauer der Physiotherapie sollte begleitend zur Korsetttherapie über den gesamten Zeitraum der Behandlung erfolgen, idealerweise 1–2 Jahre darüber hinaus. Durch stationäre Rehabilitationsmaßnahmen kann die Behandlung intensiviert werden und ermöglicht einen Ausstauch mit anderen Betroffenen.

Bei der Korsetttherapie hat sich in Europa das Korsett nach Chêneau durchgesetzt. Es basiert auf 3-Punkte-Systeme, die den Wirbelsäulenverkrümmungen entgegenwirken. Expansionsräume im Korsett gegenüber dem Apex der Wirbelsäulenkrümmung bieten dabei einen Ausweichraum für die zu verschiebenden asymmetrischen Körpervolumina. Die rhythmischen Expansionsbewegungen des Thorax, der Rippen und des Abdomens drücken während der Atmung gegen die Pelotten des Korsetts und bewirken zusätzlich eine aktive Aufrichtung. Für ein optimales Therapieergebnis sind ebenfalls eine gute Compliance der Patientin/des Patienten und eine tägliche Tragedauer von 16–23 Stunden anzustreben. Die Indikation und Kontraindikationen einer Korsetttherapie sind in Tabelle 3 zusammengefasst (Tab. 3).

Konservative Therapie der
infantilen Skoliose

Infantile Skoliosen treten bis zum
3. Lebensjahr auf. Oft zeigt sich eine phänotypische Häufung mit einer linkskonvexen Thorakalkrümmung. Dabei zeigt ein Großteil der infantilen Skoliosen eine gute Spontanheilungsrate. Jedoch gibt es auch Fälle, bei denen es zu einer raschen Zunahme der Krümmung kommt. Zur Prognose hat sich die Rippen-Wirbelkörper-Winkel-Differenz nach Mehta am Scheitelwirbel als hilfreich erwiesen (Rib Vertebral Angle Difference, RVAD) [8]. Hierbei werden zunächst am Apexwirbel die Winkel der abgehenden Rippen zur Mittelachse des Wirbelkörpers bestimmt und dann die Differenz der beiden berechnet. Liegt der Betrag dieser Differenz unter 20°, so kann mit einer großen Wahrscheinlichkeit von ca. 80 % von einer Spontanremission ausgegangen werden [3]. Bei Werten > 20° muss dagegen in > 85 % der Fälle mit einer Progredienz gerechnet werden.

Therapeutisch sollten Skoliosen mit eine Cobb-Winkel < 25° und Skoliosen mit einem Cobb-Winkel von 25–50° und einem RVAD < 20° Krankengymnastik erhalten und je nach Progredienz regelmäßig kontrolliert werden (Tab. 4). Skoliosen mit einem Cobb-Winkel von 25–50° und einem RVAD > 20° oder Skoliosen mit einem Cobb-Winkel > 50° sollten in einem Gips redressiert oder mit einem Korsett versorgt werden. Bei der Gipsredression wird der Gips in Kurznarkose in Korrekturstellung oder leichter Überkorrektur angelegt. Die Gipsredression verspricht eine größere Auflageflächen und bessere Korrektur als ein Korsett. Der Aufwand ist aber groß und wird nur noch in wenigen Zentren praktiziert, zumal das Gipskorsett in 4–5-wöchigem Abstand angepasst werden muss. Bei einer Progredienz oder klinischen Verschlechterung sollte die konservative Therapie frühzeitig eskaliert werden und durch Non-Fusion-Operation z.B. mit mitwachsenden Stäben die Wirbelsäule stabilisiert werden.

Konservative Therapie der
juvenilen Skoliose

Im Gegensatz zu den infantilen Skoliosen treten bei der juvenilen Skoliose überwiegend einbogige rechtsthorakale Skoliosen, aber auch s-förmige Skoliosen auf. Mit einer Remission ist nur in 25 % der Fälle zu rechnen. In den allermeisten Fällen ist jedoch mit einer Progredienz im Verlauf zu rechnen, sodass engmaschige Kontrollen notwendig sind. Besonders gefährdet sind die Skoliosen mit einem Cobb-Winkel > 30° bei Eintritt in die Pubertät. Hier ist mit einer jährlichen Progredienz von 5–10° zu rechnen [14].

Die konservative Therapie gleicht der Therapie der adoleszenten Skoliose (Tab. 5). So sollte neben der Anwendung von Krankengymnastik, möglichst nach Katharina Schroth und regelmäßigen Kontrollen bei Winkeln von 20–50° eine Korsetttherapie durchgeführt werden. Kommt es zu einer Progredienz der Skoliose, sollte in Abhängigkeit der Verschlechterung ab 50° über eine Operation beraten werden. Hierbei kommen vor Wachstumsabschluss vor allem Non-Fusion-Operationen zum Einsatz.

Konservative Therapie der
adoleszenten Skoliose

Die Behandlung der idiopathischen adoleszenten Skoliose erfolgt nach Behandlungsleitlinien der SOSORT. Demnach wird bei einer Wachstumsprognose von > 2 Jahren und einem Krümmungsbereich von 20–50° (thorakale Hauptkrümmung) bzw. 15–30° (lumbale Hauptkrümmung) konservativ behandelt. Neben regelmäßigen klinischen Kontrollen sollten die Patienten Physiotherapie, möglichst nach Katharina Schroth erhalten, zu regelmäßigem Sport angehalten werden und mit einem Korsett versorgt werden. Bei Krümmungen > 50 wird eine operative Behandlung empfohlen. Die Indikation gerade bei grenzwertigen Krümmungen um die 50° ist schwierig und individuell zu stellen.

Operative
Therapiemöglichkeiten der idiopathischen Skoliose

Ziel der operativen Therapie ist eine möglichst optimale dreidimensionale Korrektur der Deformität mit Rekonstruktion des sagittalen Profils. Die Fusionsstrecke sollte dabei möglichst kurz sein, um möglichst viele Bewegungssegmente zu erhalten. Der Übergang von der Fusion zum ersten Bewegungssegment sollte möglichst physiologisch sein. So lassen sich Anschlussdegenerationen verringern, auszuschließen ist dies dennoch nicht. Aus kosmetischer Sicht ist für die Patientinnen und Patienten die Reduzierung der Rippenvorwölbung und der Lendenwulst wichtig, sowie die Korrektur der Schulterpartie.

Bei der Indikationsstellung sind verschiedene Faktoren bei der Entscheidung für das operative Vorgehen hinsichtlich Operationszeitpunkt, Operationsverfahren und Zugangsweg ausschlaggebend. Besonders wichtig ist das Progredienzverhalten der Skoliose und die Ausprägung der Krümmungen und die damit verbundenen Komorbiditäten. Ein weiterer wichtiger Faktor hinsichtlich der Entscheidung Non-Fusion-Operationen und Fusionsoperationen ist das noch zu erwartende Restwachstum der Patientinnen und Patienten. Aber die Möglichkeiten weiterer konservativer Möglichkeiten und ästhetische Beeinträchtigungen spielen vor allem aus Patientensicht eine große Rolle.

Bei der operativen Versorgung stehen grundsätzlich ventrale und dorsale Operationsverfahren zur Verfügung. Die Auswahl für den jeweiligen Zugangsweg hängt dabei im Wesentlichen vom vorliegendem Kurventyp und der jeweiligen Präferenz des Operateurs ab. So bietet sich für einbogige Skoliosen (Typ Lenke 1 und 5) ein ventrales Vorgehen an. Vorteil der ventralen Versorgung ist die kürzere Fusionsstrecke von End- zu Endwirbel der Krümmung und eine gute segmentale Derotation und Rekonstruktion des sagittalen Profils über ein ventrales Release durch Diskektomien. Nicht geeignet für ein ventrales Vorgehen sind dagegen kyphotische Skoliosen. Nachteilig ist jedoch die zugangsbedingte Morbidität mit Einschränkung der Lungenfunktion. Dorsale Operationsverfahren bieten sich vor allem bei doppelbogigen Skoliosen (Typ Lenke 2, 3, 4 und 5) an. Vorteil der dorsalen Versorgung liegt in der geringeren Morbidität des Zugangs. Zudem haben sich gerade in den letzten Jahren durch Weiterentwicklung der Implantationssysteme mit vielfältigen Verankerungsmöglichkeiten und die höhere Implantatdichte die Korrekturmöglichkeiten deutlich verbessert. Damit hat sich die Fusionslänge fast an die der ventralen Operationsverfahren angenähert und damit weitestgehend durchgesetzt.

Non-Fusions-Operationen finden eine Anwendung, wenn der präpubertäre Wachstumsschub noch nicht eingetreten ist. Die unterschiedlichen Verfahren sind so konzipiert, dass Sie mit der Patientin/dem Patienten mitwachsen und nach Wachstumsabschluss mit Ausnahme des Vertebral Body Tethering in eine Fusion münden. Aktuell stehen folgende Optionen zur Verfügung: Vertical Expandable-Prosthetic Titanium Rib (VEPTR), Traditioneller Growing Rod, Magnetischer Growing Rod und das Vertebral Body Tethering.

Das VEPTR-System findet vor allem eine Anwendung bei kongenitalen, neurogenen oder idiopathischen Skoliosen mit einer Thoraxdeformität mit Rippenfusionen oder Fehlanlagen. Über eine kleine Thorakotomie erfolgt die Implantation der Rippenhalterung am kranialen Befestigungspunkt und Implantation der Gegenhalterung am kaudalen Befestigungspunkt z.B. einer Rippe, Lamina eines Wirbelkörpers oder am Ilium. Die Verlängerungsschiene wird über eine Untertunnelung eingebracht. Vorteil des Verfahrens ist die minimalinvasive Einbringung des Systems und dass die Wirbelsäule selbst nicht freigelegt wird. Spontanfusionen sind im Vergleich zum Growing Rods damit seltener. Nachteilig ist jedoch, dass regelmäßige Nachoperation für die Verlängerungen notwendig sind und Wundheilungsstörungen. Zudem kommt es wie bei fast allen Non-Fusion-Operationen zu einer Entlordosierung der Wirbelsäule.

Eine weitere Möglichkeit der Non-Fusions-Operationen stellen die Growing Rods dar. Sie finden Anwendung bei flexiblen, progredienten infantilen und juvenilen Skoliosen. Die Einbringung erfolgt ebenfalls minimalinvasiv mit Einbringung von Pedikelschrauben, Haken oder Laminabändern am kranialen und caudalen Ankerpunkt der Skoliose. Die Stäbe werden dann subfaszial eingeschoben. Bei den traditionellen Growing Rods erfolgt die Verlängerung über eine mechanische Distraktion des Konstrukts ca. alle 6 Monate in einer Operation. Vorteil des traditionellen Growing Rods ist im Vergleich zu den magnetisch verlängerbaren Systemen die größere Kraftaufbringung in axialer Richtung. Der wesentliche Vorteil der magnetisch verlängerbaren Growing Rods ist die transdermale Distraktion über eine Magnetspule ohne Operation. Die magnetische Kopplung der beiden Spulen am Growing Rod selbst und Verlängerungsgerät ist aber von der Distanz der Spulen abhängig. Eine Kopplung bei tiefliegenden Growing Rods ist daher mitunter problematisch. Zudem können die Antriebe arrodieren. Beiden Verfahren gemein ist die Entlordosierung der Wirbelsäule sowie die Kyphosierung der angrenzenden Wirbelsäulensegmente. Nach Wachstumsabschuss erfolgt dann die Fusion der Wirbelsäule.

Relativ neu ist die Möglichkeit des Vertebral Body Tethering. Es wird bei flexiblen idiopathischen Adoleszentenskoliosen mit einem Restwachstum von mindestens 2 Jahren eingesetzt. Beim Tethering werden über konvexseitige Thorakotomien bzw. Lumbotomien Schrauben an den seitlichen Wirbelkörpern eingebracht und ein Kunststoffseil zwischen den Schrauben gespannt. Der Vorteil ist, dass die Beweglichkeit der Wirbelsäule erhalten bleibt. Jedoch gibt es zu diesem Verfahren noch keine Langzeiterfahrungen. Bekannt ist jedoch, dass das Seil zwischen den Schrauben reißen kann und es somit zu einem Korrekturverlust kommen kann. Die Gefahr ist besonders im lumbalen Bereich vorhanden, der im Vergleich zum Thorax deutlich flexibler ist. So werden hier bereits 2 Seile eingebracht, um das Risiko zu minimieren. Das Verfahren selbst eignet nicht für infantile oder juvenile Skoliosen mit großer Wachstumsprognose.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Dipl.-Ing. Florian Völlner

Medartes

Regensburger Straße 13

09401 Neutraubling

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