Übersichtsarbeiten - OUP 01/2023

Diagnostik und Therapie der idiopathischen Skoliose

Die verbleibenden 10–20 % der Skoliosen – auch sekundäre Skoliosen genannt – sind Folge unterschiedlicher Erkrankungen. So finden sich kongenitale Skoliosen, die sich aufgrund von Formationsfehler der Wirbelkörper sog. Halbwirbel oder Segmentationsfehler durch fehlerhafte Anlage des Bandscheibenfachs ausbilden. Auch neuromuskuläre Erkrankungen infolge peripher schlaffer oder zerebral spastischer Lähmungen oder Muskelschwäche bei progressiver Muskeldystrophie oder anderer kongenitalen Muskeldefekten führen oftmals zu Skoliosen. Eine weitere Ursache für Skoliosen sind Systemerkrankungen, wie z.B. die Neurofibromatosen, Osteogenesis imperfecta, Marfan-Syndrom oder Achondroplastie. Zuletzt finden sich degenerative Skoliosen, die sich aufgrund abnutzungsbedingter Veränderungen der Bewegungssegmente im Alter ausbilden (De-novo-Skoliosen).

Natürlicher Verlauf der
idiopathischen Skoliose

Der natürliche Verlauf der idiopathischen Skoliose hängt im Wesentlichen vom Alter und damit vom Restwachstum der Patientin/des Patienten und vom Krümmungsausmaß ab. Sie ist aber auch typabhängig. So sind balanciert doppelbogige Skoliosen stabiler im zeitlichen Verlauf als z.B. einbogige Skoliosen. Je größer der Cobb-Winkel und je jünger die Patientin/des Patienten ist, desto größer ist das Risiko einer Progredienz (Tab. 1). Bei Krümmungen mit einem Cobb-Winkel > 50° thorakal und > 30° lumbal bleibt auch nach Wachstumsabschluss ein Erfolg der konservativen Therapie fraglich. Hier ist mit einer Progredienz von 0,4–1° jährlich zu rechnen [19]. Im Langzeitverlauf kann es im Rahmen der Degeneration der Wirbelsäule zu Rückenschmerzen aber auch zu psychosozialen Problemen durch die kosmetische Deformität kommen. Thorakale Wirbelsäulenkrümmung > 80° führt zu Einschränkungen der Herz- und Lungenfunktion [12].

Klassifikationen der
idiopathischen Skoliose

Die einfachste Einteilung der idiopathischen Skoliose erfolgt nach dem Scheitelwirbel (Apexwirbel) der Hauptkrümmung in der a.p.-Wirbelsäulenganzaufnahme: Thorakalskoliosen (Scheitelwirbel BWK 2–BWK 11), Thorakolumbalskoliosen (Scheitelwirbel BWK 12 und LWK 1) und Lumbalskoliosen (Scheitelwirbel LWK 2–LWK4). Dies ist jedoch nur eine grobe Einteilung, wenig spezifisch und aussagekräftig. In der operativen Therapie hat sich die Lenke-Klassifikation durchgesetzt [7]. Die von King beschriebene Einteilung der Skoliose in 5 verschiedene Kurventypen findet aufgrund der unvollständigen Abbildung kaum mehr Verwendung [5]. Bei der Lenke-Klassifikation zunächst wird die Skoliose über die strukturellen Krümmungen im a.p.-Röntgenbild in die Typen I–VI eingeteilt und die Abweichung des lumbalen Apex-Wirbels von der sakralen Lotachse bestimmt („lumbar modifier“ A–C). Im seitlichen Bild erfolgt dann die Bewertung der thorakalen Kyphose („sagittal modifier“ –, N, +). In der Physiotherapie ist weltweit weiterhin die Lehnert-Schroth-Klassifikation [6] in Gebrauch, in der Korsettversorgung die Rigo-Klassifikation [13] sowie die Augmentierte Lehnert-Schroth-Klassifikation [20].

Diagnostik der
idiopathischen Skoliose

Anamnese

Bei der Erstanamnese der Skoliose sollten das Alter, Reifegrad und das Pubertätsstadium bestimmt werden. So weist der Zeitpunkt der Menarche beim Mädchen oder der Stimmbruch bei den Jungen darauf hin, dass sich das Wachstum etwas verlangsamt und in etwa 2–2,5 Jahren sistieren wird. Darüber hinaus sollte die Erstmanifestation, die bisherige Entwicklung der Skoliose, sowie die bereits erfolgte Behandlung erfragt werden und urologische, kardiovaskuläre oder pulmologische Grunderkrankung hinsichtlich syndromaler Skoliosen ausgeschlossen werden.

Klinische Untersuchung

Ein Überblick zur klinischen Untersuchung der idiopathischen Skoliosen findet sich in den Leitlinien der
SOSORT (2; Society on Scoliosis Orthopaedic and Rehabilitation Treatment). Essenziell sind die Lotbestimmung der Wirbelsäule, die Beurteilung des sagittalen Profils und die Beurteilung der Symmetrie der Schultern, der Taillendreiecke und des Beckens. Im Vorneigetest nach Adams erfolgt anschließend die Beurteilung und Messung des Rippenbuckels und des Lendenwulstes. Gemessen wird die Rotationsabweichung bevorzugt mit einem Skoliometer nach Bunnell [1]. Werte über 5° bedürfen einer radiologischen Abklärung mit Wirbelsäulenganzaufnahmen.

Bildgebende Verfahren

Bei den bildgebenden Verfahren stehen die Oberflächenrasterstereometrie, die konventionelle Röntgendiagnostik bzw. das EOS, die schnittbildgebenden Verfahren wie CT und MRT zu Verfügung. MRT und CT spielen in der Primärdiagnostik und in der Verlaufskontrolle der idiopathischen Skoliose keine Rolle und sind erst im Vorfeld operativer Maßnahmen indiziert, zum Ausschluss etwaiger intraspinaler Pathologien z.B. tethered cord, Diastematomyelie, Syringomyelie oder zur Schraubenplanung.

Zur strahlungsfreien Vermessung und Monitoring von Patientinnen und Patienten bietet sich die Oberflächenrasterstereometrie an. Hierbei werden Lichtstreifen definierter Breite und festgelegtem Abstand auf die Rückenoberfläche projiziert. Die Verzerrung der Lichtstreifen auf der Rückenoberfläche wird über ein Doppelkamerasystem erfasst und ein virtueller Gipsabdruck errechnet. Die Oberflächenrotation im Scheitelwirbelbereich zeigt dabei eine gute Korrelation zur tatsächlichen Wirbelkörperrotation mit einem Messfehler von ca. 3 % [21].

Zur radiologischen Erstdiagnostik und bei Progression der Skoliose sollten a.p.- und seitliche Wirbelsäulenganzaufnahmen im Stehen oder EOS-Aufnahmen durchgeführt werden. In den Röntgenbildern werden die Cobb-Winkel der Krümmungen und ggf. die Rotation des Apexwirbels nach Nash und Moe bestimmt [10]. Der Rippenwirbelkörperwinkel (RVAD („rib vertebral angle difference“) nach Mehta ist ein Prognosefaktor bzgl. der Progredienz nicht nur bei der infantilen Skoliose [8]. Bendingaufnahmen in maximaler Lateralflexion nach links und rechts werden dann zusätzlich zur Planung operativer Maßnahmen durchgeführt, um die Flexibilität der Wirbelsäule weiter einschätzen zu können.

Zur Bestimmung des Skelettalters wird weit verbreitet das Skelettalter nach Risser anhand der Verknöcherung der Beckenapophysen abgeschätzt (Risser I–V). Das Zeichen nach Risser lässt jedoch keine sichere Vorhersage des noch vorhandenen Wachstums zu, da die einzelnen Stadien sehr variabel im Vergleich zum Skelettalter auftreten und die Verknöcherung der Apophyse erst nach dem Wachstumspeak einsetzt [2, 9, 15]. Für die Abschätzung des Skelettalters sollten besser Handaufnahmen d.v. der nichtdominanten Hand durchgeführt werden und die Wachstumsprognose nach Greulich und Pyle oder über den Skelettreifescore nach Sanders abgeschätzt werden [4, 15]. Eine sehr exakte Abschätzung des Skelettalters ist auch über die Verknöcherung am Ellenbogen möglich [2, 16].

Konservative Therapie

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