Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022

Diagnostische Kriterien und Stadieneinteilung als Basis für eine leitliniengerechte Therapie

Gunter Spahn, Cornelia Retzlaff, Gunther O. Hofmann

Zusammenfassung:
Die Prävalenz von Gelenkbeschwerden in der allgemeinen Bevölkerung ist sehr hoch. Diese Erkrankungen gelten daher als Zivilisationskrankheit. Mit zunehmendem Lebensalter steigt dabei die Arthroserate und bei einem großen Teil der älter werdenden Patienten sind Gelenkbeschwerden arthrosebedingt. Vor der Therapieplanung ist in jedem Einzelfall immer eine individuelle Analyse der Symptomatik (Schmerzen, Funktionseinschränkung und Minderung der Lebensqualität) in Kombination mit einer exakten klinischen Untersuchung und einer sinnvollen Anwendung weiterer, in der Regel radiologischer Verfahren erforderlich. Die Synopse dieser verschiedenen diagnostischen Bausteine gibt dann in den meisten Fällen ein Arthrosestadium vor, welches dann die individuelle Therapieplanung vorgibt. Allerdings muss dem Behandler klar sein, dass es bislang keinen diagnostischen Goldstandard für die Diagnostik dieses sehr komplexen Krankheitsbildes gibt. Immer wieder muss gewarnt werden, paraklinische Befunde überzubewerten und damit eine Übertherapie zu provozieren. In den letzten Jahren wurden die paraklinischen Methoden verfeinert und in Zukunft sind hier weitere Verbesserungen der diagnostischen Möglichkeit des Krankheitsbildes Arthrose zu erwarten.

Schlüsselwörter:
Arthrose, Diagnostik, Arthrose-Scores, Röntgen, MRT

Zitierweise: Spahn G, Retzlaff C, Hofmann GO: Diagnostische Kriterien und Stadieneinteilung als Basis für eine leitliniengerechte Therapie
OUP 2022; 11: 222–230
DOI 10.53180/oup.2022.0222-0230

Summary: The prevalence of joint complaints in the general population is very high. These diseases are therefore considered a so-called lifestyle disease. With increasing age, the arthrosis rate increases and in a large proportion of aging patients joint complaints are caused by arthrosis. Before planning therapy, an individual analysis of the symptoms (pain, functional impairment and reduction in quality of life) in combination with an exact clinical examination and a meaningful application of further, usually radiological procedures is always required in each individual case. The synopsis of these various diagnostic components then prescribes an arthrosis stage in most cases, which then prescribes the individual therapy planning. However, it must be clear to the practitioner that there is no diagnostic gold standard for the diagnosis of this very complex clinical picture. Again and again, it must be warned to overestimate paraclinical findings and thus provoke overtreatment. In recent years, the paraclinical methods have been refined and in the future further improvements in the diagnostic possibility of the clinical picture of osteoarthritis are to be expected.

Keywords: osteoarthritis, diagnostics, osteoarthritis scores, X-ray, MRI

Citation: Spahn G, Retzlaff C, Hofmann GO: Diagnostic criteria and stage classification as a basis for a guideline-compliant therapy
OUP 2022; 11: 222–230. DOI 10.53180/oup.2022.0222-0230

G. Spahn: Praxisklinik für Unfallchirurgie und Orthopädie Eisenach; Universitätsklinikum Jena

C. Retzlaff: Radiologie Eisenach-Eschwege BAG

G. O. Hofmann: Klinik für Unfall-, Hand-und Wiederherstellungschirurgie Justizklinikum Jena; BG-Klinik Bergmannstrost Halle/H.

Arthrosedefinition und
Epidemiologie

Der Terminus „Arthrosis deformans“ beschreibt einen Zustand der Gelenkfehlfunktion und/oder Gelenkzerstörung (Arthros = Gelenk; -osis = Normabweichung; deformans = Deformierung, Umformung).

Die wichtigste, aber nicht einzige pathophysiologische Ursache dieser Erkrankung ist eine Schädigung des hyalinen Gelenkknorpels und des darunterliegenden subchondralen Knochens (siehe Beitrag von Madry und Stöve in diesem Themenheft). Zunächst kommt es zu einer Erweichung des hyalinen Gelenkknorpels (Chondropathie/Chondromalazie). Dies führt zu verminderter biomechanischer Resistenz des Gelenkknorpels, der rissig wird und sich schließlich vorwiegend in den Hauptbelastungszonen der Gelenke komplett vom subchondralen Knochen löst. Die biomechanisch-unphysiologische Belastung des darunterliegenden subchondralen Knochens führt einerseits zu einer Sinterung mit Entstehung der Sklerose und andererseits einem Auswalzen, indem sie für die erkrankungstypischen Osteophyten entstehen.

Infolge der Gewebealterung (Degeneration) des hyalinen Gelenkknorpels kommt es in den meisten Gelenken mit zunehmendem Lebensalter zu solchen Körperschäden respektive zu Arthroseentwicklung. Eine solche Krankheitsentwicklung bezeichnet man definitionsgemäß als „idiopathische = primäre Arthrose“, für die ein altersabhängiges, normales Grundrisiko besteht. Allerdings sind davon nicht alle Gelenke des Körpers in gleicher Weise betroffen (Abb. 1).

Zusätzlich zu diesen normalem Grundrisiko gibt es eine Reihe von Faktoren, die das Risiko für die Entwicklung einer Arthrose in unterschiedlicher Weise erhöhen können.

Dies sind zum einen angeborene oder erworbene Fehlstellungen im Bereich der Gelenke selbst bzw. der betroffenen Extremität. Hackenbroch bezeichnet solche Fehlstellungen als „präarthrotische Deformierung“ [15]. Können solche Deformierungen mit hoher Wahrscheinlichkeit als Ursache für die Entstehung einer Arthrose identifiziert werden, spricht man definitionsgemäß von „sekundären Arthrosen“. Diese grundlegende Unterscheidung der Arthroseformen spiegelt sich auch in der ICD 10-Klassifikation wieder.

Die wichtigste erworbene Fehlstellungen die zu einer sekundären Arthrose führen kann, sind durchgemachte Verletzungen am Gelenk oder im Bereich der betroffenen Extremität (posttraumatische Arthrose). Der Zusammenhang zwischen Verletzungsfolgen und erhöhtem Arthroserisiko wurde in zahlreichen epidemiologischen und Fallstudien nachgewiesen.

Typische, nicht-traumatisch verursachten präarthrotische Deformierungen findet man vor allem im Bereich des Hüftgelenkes. Dies betrifft klassischerweise die persistierende Dysplasie beim Erwachsenen. In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, dass vor allem Störungen im Bereich des Hüftkopf-Schenkelhals-Übergangs (Cam-Deformierung) Koxarthrose sehr häufig durch diese verursacht werden. Ipach et al. führten eine Ursachenanalyse bei insgesamt 228 Patienten, die zum Zeitpunkt der Endoprothesenimplantation < 60 Jahre alt waren durch. Dabei fanden sie in 42,1 % der Fälle arthrosebegünstigende Ursachen für die Entstehung der Koxarthrose [17]. Die Ergebnisse der Copenhagen-Osteoarthritis-Study zeigten noch höhere Koinzidenzen von präarthrotische Deformierungen vor allem bei Männern (71,0 %) im Vergleich zu Frauen mit 36,6 %. Sie gelangen daher zur Schlussfolgerung, dass die sogenannte „idiopathische, d.h. also primäre Koxarthrose“ in der Vergangenheit oft überbewertet wurde [13].

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