Originalarbeiten - OUP 12/2012

Die Bedeutung der sagittalen Balance in der Wirbelsäulenchirurgie

L. Ferraris1, H. Koller1, O. Meier1, A. Hempfing1

Zusammenfassung: Die Bestimmung der sagittalen und spinopelvinen Parameter der Wirbelsäule gehören zur Beurteilung jeder Deformität der Wirbelsäule. Die Pelvic incidence (PI) ist der wesentliche geometrische Parameter des Beckens, welcher direkt die Ausrichtung des Beckens sowie die lumbale Lordose und auch die globale sagittale Balance beeinflusst. Demgegenüber spiegeln die positionellen Parameter Sacral slope (SL) und Pelvic tilt (PT) Anpassungsvorgänge des Beckens wider. Es ist inzwischen durch umfangreiche Literatur über Deformitäten der Wirbelsäule belegt, dass nur bei Wiederherstellung der sagittalen Balance und der spinopelvinen Harmonie im Rahmen der operativen Therapie gute Langzeitergebnisse erzielt werden können. Die vorliegende Arbeit gibt einen Überblick über das Konzept des spinopelvinen Alignements und fasst die wesentlichen Ergebnisse der Literatur im Hinblick auf die unterschiedlichen Krankheitsbilder zusammen.

Schlüsselwörter: Wirbelsäule, sagittale Balance, lumbale
Lordose, spinopelvine Parameter, Osteotomie

Abstract: The evaluation of the sagittal and spinopelvic parameters are an integral part of the examination of spinal deformities. The pelvic incidence (PI) is the fundamental geometric parameter of the pelvis, which directly influences the orientation of the pelvis as well as lumbar lordosis and global sagittal balance. In contrast, sacral slope (SL) und pelvic tilt (PT) are positional parameters reflecting compensation mechanisms of the pelvis. A significant amount of literature regarding spinal deformities shows, that only with restoration of the sagittal alignement and spinopelvic harmony, good long term outcome can be achieved. This paper gives an overview about the concept of spinopelvic alignement and summarizes the most significant literature regarding various spinal deformities.

Keywords: spine, sagittal balance, lumbar lordosis, spinopelvic parameters, osteotomy

Einleitung

Die Bedeutung des sagittalen Profils für die normale Funktion der Wirbelsäule ist seit Jahrzehnten bekannt. Die Konsequenzen für die Wirbelsäulenchirurgie wurden diskutiert und die inzwischen umfangreiche Literatur zeigt die Notwendigkeit des operativ wiederhergestellten sagittalen Profils.

Als ein neuerer Aspekt der sagittalen Balance ist auch die Beziehung zwischen Becken und der Wirbelsäule (spinopelvine Parameter) in den letzten Jahren zunehmend in den Blickpunkt geraten, auch wenn Dubousset bereits 1975 beschrieben hat, dass nur ein physiologisches spinopelvines Alignement eine energie-effiziente Haltung ermöglicht. Zum einen existieren Hinweise, dass eine spezifische Morphologie des Beckens (pelvic incidence) die Entstehung bestimmter Krankheitsbilder wie etwa der Spondylolisthese fördert, zum anderen spiegelt eine pathologische Beckenkippung (pelvic tilt) Anpassungsvorgänge an eine Imbalance der Wirbelsäule wider.

Dieser Artikel bietet einen Überblick über die speziellen Charakteristika der sagittalen und spinopelvinen Balance. Es soll das Verständnis dafür vertieft werden, dass dem sagittalen Profil eine wesentliche Bedeutung in der Diagnostik und Behandlung zahlreicher Wirbelsäulendeformitäten zukommt. So müssen im Rahmen der OP-Planung die individuelle Beckengeometrie (pelvic incidence) sowie die dynamischen spinopelvinen Parameter und die lumbale Lordose berücksichtigt werden, um unabhängig von der Art der bestehenden Wirbelsäulen Pathologie eine Korrektur zum physiologischen Bereich zu erzielen und eine fixierte sagittale Imbalance zu vermeiden.

Sagittale Balance
der Wirbelsäule

Grundlage der Diagnostik des sagittalen Wirbelsäulenprofils ist die seitliche Röntgenaufnahme der gesamten Wirbelsäule. Dass das Verständnis für die Bedeutung der sagittalen Statik auch heute oft noch fehlt, zeigt sich auch daran, dass insbesondere in der Traumatologie häufig nur der Bereich der Pathologie geröntgt wird. So sind aber etwa bei der Beurteilung einer posttraumatischen Kyphose oder zur OP-Planung einer multisegmentalen degenerativen Instabilität eine Wirbelsäulen Ganzaufnahme unerlässlich. Zunächst erfolgt die Beurteilung der lokalen Kyphose, der thorakalen Kyphose sowie der LWS-Lordose. Als Anhaltspunkt und Hilfestellung für den orthopädisch-unfallchirurgischen Alltag dienen folgende Referenzwerte der Scoliosis Research Society: Hochthorakal (T1–T5): ? 20°; thorakal (T5–T12): ? 50°; thorakolumbal (T10–L2): ? 20°; und lumbal (T12–S1): ? –40°.

Die Erfassung der globalen Balance in der sagittalen Körperebene ist ein altes, aber elementares Instrument zur Beurteilung von Wirbelsäulendeformitäten: Die Schwerpunktlinie des Körpers einer frei stehenden Person liegt ventral der Wirbelsäule zentriert über der Hüftgelenkachse und wird über einen kleinen Bereich zwischen den Füßen balanciert. Unter idealen statischen Bedingungen ist die Wirbelsäule in der Sagittalen balanciert, wenn ein Lot, zentral bei C7 angelegt, hinter L3 fällt, den hinteren Anteil der S1-Endplatte schneidet und hinter der Hüftgelenkachse verläuft. Die Erfassung des radiologischen C7-Lots erlaubt daher eine einfache Beurteilung der globalen sagittalen Balance.

Kommt es aufgrund von strukturellen oder haltungsbedingten (muskulären) Fehlstellungen einzelner Wirbelsäulenabschnitte zu einer C7-Lotverlagerung ventral der Hinterkante von S1, > + 5 cm, so spricht man von einer positiven sagittalen Imbalance. Fällt das C7-Lot ventral der Hüftgelenkachse, so spricht man von einer dekompensierten sagittalen Imbalance. Sowohl für die Beurteilung der sagittalen Balance als auch für die im folgenden beschriebene spinopelvine Balance müssen die Hüftgelenke auf dem seitlichen Röntgenbild der Gesamt-Wirbelsäule mit abgebildet sein.

Spinopelvine Balance

Die Positionierung einzelner Wirbelsäulenabschnitte in der Sagittalebene folgt dem Konzept der spinopelvinen Balance und ist für das Verstehen der Diagnostik und Therapie sagittaler Deformitäten der Wirbelsäule essenziell. Die spinopelvinen Parameter beschreiben das physiologische Abhängigkeitsverhältnis einzelner Wirbelsäulenabschnitte untereinander sowie zum Becken. Die Position des Beckens in Relation zur Wirbelsäule ist von besonderer Bedeutung, da das Becken als Regulator für die sagittale Einstellung der Wirbelsäule wirkt. Die radiologische Beurteilung der spinopelvinen Balance wurde durch Entwicklung differenzierter radiologischer Messtechniken [1, 2] möglich und charakterisiert die angeborene Geometrie des Beckens, die Beckenkippung und die Rotation des Beckens in der sagittalen Ebene. Die wichtigsten Parameter sind einfach zu erfassen und in Abb. 1 zusammengefasst.

Zu den positionellen Parametern, beeinflussbar durch Körperhaltung, Muskeltonus und Statik der unteren Extremitäten, gehören Sacral slope (Sakrumkippung, SS) und Pelvic tilt (Beckenrotation, PT) sowie die spinalen Parameter (lumbale Lordose; thorakale Kyphose). Im Gegensatz dazu existieren morphologische Parameter in der Sagittalen, hier steht neben der angeboren Beckenform und Sakrumkrümmung die Pelvic incidence (Inzidenzwinkel, PI) im Vordergrund. Die Pelvic incidence ist eine individuell variierende morphologische Konstante und beschreibt geometrisch die Position des Sakrums im Becken und dadurch die Stellung des Beckens selbst. Die Pelvic incidence ist unabhängig von der räumlichen Beckenstellung oder der Wirbelsäuleneinstellung ein radiologisch erfassbarer Parameter, welcher nach abgeschlossenem Wachstum beim Erwachsenen lebenslang unverändert bleibt.

Die Bedeutung des Konzepts der spinopelvinen Balance liegt in der Interaktion der positionellen Parameter der Wirbelsäule und des Beckens untereinander und in der Interaktion mit dem morphologischen Parameter der Pelvic incidence. Wissenschaftliche Arbeiten konnten starke Korrelationen zwischen der individuellen PI und dem SS sowie der LWS-Lordose nachweisen. Die Größe der PI entspricht der arithmetischen Summe aus PT und SS. Die erarbeitete Formel (PI = PT + SS) reflektiert, dass bei einem Patienten aufgrund der fixierten PI jede Veränderung des Sacral slope zu einer Änderung des Pelvic tilt führt. Folgende mittleren Werte sind für die spinopelvinen Parameter an einem Kollektiv von 149 Menschen ermittelt worden [3]: Pelvic incidence 56° ± 10 bei Frauen und 53° ± 10,6 bei Männern. Sacral slope 43,2° ± 8,4 bei Frauen und 41° ± 8,5 bei Männern. Pelvic tilt 13,6° ± 6 bei Frauen und 13° ± 6 bei Männern.

Beobachtungen zeigen, dass die PI das sagittale Wirbelsäulenprofil und die Einstellung der Wirbelsäule zur Beckenposition reguliert. So ist beim gesunden Individuum die Grundeinstellung der individuellen Lordose abhängig vom SS und diese wiederum vorgegeben durch die Pelvic incidence. Kommt es etwa zum Auftreten einer thorakolumbalen Kyphosierung (z.B. durch Degeneration oder Fraktur) werden diese Kompensationsmechanismen durch eine Inklination des Beckens (Zunahme des SS), Steigerung der segmentalen Lordose und Abflachung der thorakalen Kyphose eingeleitet, mit dem Ziel, den Rumpf über den Hüftgelenken zu halten.

Diese kompensatorischen Änderungen sind jedoch nur in dem Rahmen möglich, der einerseits durch die individuelle Pelvic incidence (PI) vorgegeben ist, und andererseits durch die Flexibilität der benachbarten Segmente der Brust- und Lendenwirbelsäule. Bei fehlenden Kompensationsmöglichkeiten wie etwa bei degenerativen Veränderungen führt die Kyphosierung zur Verlagerung des Körperschwerpunktes nach ventral. Das einwirkende Flexionsmoment steigt, und durch Retroversion des Beckens (Abnahme des SS, Zunahme PT) wird versucht, die Wirbelsäule wieder ins Lot zu bringen. Sind diese Kompensationsmöglichkeiten bei progredienter Kyphosierung ausgereizt, so entwickelt sich eine dekompensierte sagittale Imbalance mit ventralem Rumpfüberhang.

In einer Studie an gesunden Erwachsenen wurden 3 verschiedene Muster der sagittalen Imbalance gefunden: Zum einen die gesteigerte lumbale Lordose als Kompensation der thorakalen Hyperkyphose (bei normalen SS und PI), erhöhte Sacral slope bei normalem PI und erhöhter lumbaler Lordose bei Flexionskontraktur der Hüften bei Koxarthrose sowie die „Flat back deformity“ mit Retroversion des Beckens und und vermindertem SS um ein Vornüberkippen des Körpers zu verhindern [4].

Klinische Relevanz

Die Anpassungen des Körpers an ein pathologisches sagittales Profil erfolgen über die benachbarten Segmente, die angrenzenden Wirbelsäulenkrümmungen und die spinopelvinen Parameter. Jüngere Menschen haben aufgrund der beweglicheren benachbarten Wirbelsäulenabschnitte bessere Kompensationsmöglichkeiten, wohingegen fehlende Kompensationsmechanismen zur sagittalen Imbalance und ventralen Lotabweichung führen können. So lässt bei weniger muskelstarken Patienten etwa im höheren Lebensalter die Kompensation über den Lauf der Jahre schrittweise nach. Man muss sich verdeutlichen, dass auch jede Fusion der mobilen Wirbelsäule die kompensatorischen Möglichkeiten hinsichtlich einer sagittalen Imbalance einschränken.

Auch ist das Ausmaß der Anpassungsvorgänge abhängig von der Lokalisation der verletzten Segmente. Je kaudaler sich die Pathologie befindet, desto größer sind die Auswirkungen auf die sagittale Balance und umso schwieriger die Kompensation. So können etwa thorakale Kyphosen besser kompensiert werden als tief lumbale.

Unabhängig von der Art der Grunderkrankung ist jedoch die Retroversion des Beckens immer Ausdruck einer nicht balancierten spinopelvinen Situation. Die Beschwerden können oft erst viele Jahre nach Bestehen der Deformität auftreten. Bei bestehender Hyperkyphose mit stärkerer Zugbelastung der dorsalen Elemente und Druckbelastung der ventralen Elemente ermüdet die autochthone Rückenmuskulatur. Die Folgen sind neben fokalen Beschwerden auf Höhe der Fehlstellung Beschwerden auch im Muskelansatzbereich. Lumbosakral werden diese Symptome wegen ihres temporären Ansprechens auf Infiltrationsbehandlungen dann oft irrtümlich den sakroiliakalen Gelenken zugeschrieben. Auch kommt es durch die Fehlstellung der Nachbarsegmente und die unphysiologische Lastverteilung zur erhöhten Belastung ligamentärer, vertebragener und myogener Strukturen mit der möglichen Folge einer degenerativen Anschlussinstabilität. Ausgereizte Kompensationsmechanismen verursachen in der Folge jedoch lokale und perifokale Beschwerden, Immobilität und Verlust an Funktionalität.

OP-Indikation

Das Konzept der spinopelvinen Balance hat Bedeutung für die operative Therapie aller Deformitäten der Wirbelsäule. Unabhängig von der Art der bestehenden Deformität sollte eine möglichst vollständige Wiederherstellung des sagittalen Profils der Wirbelsäule angestrebt werden. Die häufigste Indikation zur Operation ist die Schmerzsymptomatik aufgrund der progredienten Lotabweichung und Fehlstatik des Rumpfes. Diese Schmerzen können vertebragen oder neuropathisch bedingt sein, können aber auch bereits Ausdruck einer mangelhaften Balance und myofaszialer Überlastung sein. Bei der sagittalen Imbalance im höheren Alter muss die OP-Indikation selbstverständlich in Abhängigkeit vom Alter und bestehenden Komorbiditäten gestellt werden. Der Leidensdruck, das individuelle Schmerzniveau und auch die Langzeitprognose müssen berücksichtigt werden. Ein aufwendiger Revisionseingriff muss gut abgewogen werden, insbesondere die Frage, mit welchem operativen Aufwand im höheren Lebensalter eine adäquate Korrektur erreicht werden kann.

Operative Grundprinzipien

Die chirurgischen Grundprinzipien der Therapie einer sagittalen Imbalance beinhalten die Verlängerung der ventralen Säule und die Verkürzung der dorsalen Säule. Um dies erreichen zu können, muss ein suffizientes Release mit Facettektomie, Flavektomie, Diskektomie, Osteotomie oder Korporektomie erfolgen. Darüber hinaus ist die instrumentierte Spondylodese mit dem Ziel der möglichst hohen Primärstabilität anzustreben. Insbesondere bei reduzierter Knochenqualität ist auf eine ausreichende Länge und Rigidität der Instrumentation zu achten. Sicher durchführbare Korrekturen sind jedoch nur möglich, wenn knöcherne Stenosen komplett beseitigt und narbige Verwachsungen der Dura gelöst werden, um nicht bei der Korrektur ein Kneifzangenphänomen des Myelons zu erzeugen.

Bei allen Deformitäten-korrigierenden Eingriffen stellt sich die Frage nach der exakten Planung der Korrektur und damit der Planung der Osteotomien. Liegt lediglich eine fokale Deformität bei ansonsten mobiler Wirbelsäule mit intakten Kompensationsmechanismen vor, so muss bei der Korrektur nur der lokale Kyphosewinkel wiederhergestellt werden. Besteht jedoch eine sagittale Imbalance, so wird klassischerweise das Korrekturausmaß bestimmt anhand von herkömmlichen Röntgen-Wirbelsäulenganzaufnahmen. Die Kalkulation der gewünschten lumbalen Lordose kann dann zur Korrekturplanung verwendet werden.

Kann durch eine lokale Korrektur keine physiologische globale sagittale Balance hergestellt werden, so muss eine längerstreckige Korrektur erfolgen. Selbstverständlich ist es wichtig zwischen der notwendigen Stabilität (und damit der Länge einer Instrumentation) und dem Erhalt von intakten Segmenten abzuwägen, vor allem bei jüngeren Patienten. Meist werden die nachfolgend genannten OP-Verfahren kombiniert, insbesondere um komplexen Revisionsfällen gerecht zu werden. Eine HALO-Traktion kommt bei sagittalen Deformitäten nur in seltenen Fällen zur Anwendung. Liegt jedoch eine rigide Krümmung mit ausgeprägter sagittaler Imbalance in Kombination mit einer spinalen Enge oder Myelopathie vor, so sollte präoperativ über einen am Schädel angreifenden HALO-Ring extendiert werden.

Ventrales Release

Das ventrale Release mittels Thorakotomie, Lumbotomie oder Thorakophrenolumbotomie dient zur Lockerung der ventralen Wirbelanteile über die Entfernung von Bandscheiben bis hin zu kompletten Korporektomien, um eine nachfolgende dorsale Kyphosekorrektur zu ermöglichen. Über den gleichen Zugangsweg führt die ventrale intersomatische Fusion durch das Einbringen eines Knochenblockes oder Titanium-Mesh-Cages zur zusätzlichen Stabilisierung. Viele dieser ventralen Techniken können auch minimalinvasiv durchgeführt werden, wobei objektivierbare Unterschiede hinsichtlich der Zugangsmorbidität zwischen offenem und gering-invasivem Verfahren entsprechend aktuelleren Arbeiten [5] nicht zu bestehen scheinen. Es kommt auf eine adäquate OP-Technik am Ort der Pathologie an, also auf ein suffizientes Release, eine komplette ventrale Dekompression, eine maximale ventrale Defektrekonstruktion und Stabilisierung sowie eine gute knöcherne (biologische) Fusion an.

Osteotomien

Der instrumentierten Korrekturspondylodese geht das dorsale Release voraus, wobei natürlich das Ausmaß der gewünschten Korrektur die Technik des dorsalen Release bestimmt. Sind nur geringe segmentale Korrekturen vonnöten sind oft multisegmentale Facettektomien ausreichend. Die Korrekturergebnisse betragen dabei 2° bis max 5° pro Segment. Dann kann der Stab in der gewünschten Kyphose bzw. Lordose vorgebogen, der Stab eingebracht und so die gewünschte Korrektur erreicht werden. Dabei ist auf eine ausreichende Dekompression zu achten, um eine Stenosierung im Rahmen der Korrektur zu verhindern.

Sind größere Korrekturen nötig, um das sagittale Profil wiederherzustellen, kommen Osteotomien zum Einsatz. Die Osteotomie nach Ponte (1987) besteht in der partiellen Resektion der oberen und unteren Facettengelenke, der vollständigen interlaminären Weichteilresektion sowie dem Unterschneiden („undercutting“) der benachbarten Laminae. Es resultiert dann thorakal eine nahezu quer, und lumbal eine v-förmig verlaufende Osteotomie. Anschließend wird über das Schrauben-Stab System eine reine Kompression und Verkürzung der dorsalen Strukturen herbeigeführt. Es resultiert eine Korrektur von etwa 1° pro 1 mm reseziertem Knochen (max. 5° pro Segment). Die Smith-Peterson-Osteotomie wurde 1945 erstmals beschrieben. Es erfolgt wie bei der Ponte Osteotomie eine v-förmige interlaminäre segmentale Resektion aufsteigend in Richtung der Neuroforamina. Über ein Anheben des Oberkörpers und eine dorsale Kompression mit Verschluss der Osteotomie über das Schrauben-Stab-System kommt es im Unterschied zur Ponte-Osteotomie auch zu einem leichten ventralen Aufspreizen (bei vorhandener ventraler Mobilität). So sind Korrekturen von ca. 8–12° pro Segment möglich. Insbesondere bei langstreckigen, arkulären Kyphosen erfolgt der multisegmentale Einsatz derartiger Osteotomien.

Durch den Summationseffekt mehrerer Osteotomien können so Korrekturen von bis zu 40° erreicht werden. Die Pedikelsubtraktionsosteotomie (PSO) und ihre Varianten kommen bei ausgeprägten und angulären Kyphosen ab etwa 20° zur Anwendung. Die Varianten unterscheiden sich jeweils im Ausmaß der Knochenresektion. Es erfolgt die Entnahme eines Knochenkeils aus dorsalen Elementen und Wirbelkörper. Lamina und Pedikel werden beidseits entfernt, ggf. auch die bestehende dorsale Spondylodese bei einem Revisionseingriff. Dann erfolgt unter Kontrolle der lateralen Wirbelkörperwand die mediolaterale intrakorporale Knochenresektion inklusive der Hinterkante des Wirbelkörpers und anschließend die laterale Kortikalisresektion bis zum vorderen Wirbelkörperdrittel. Eine asymmetrisch durchgeführte Resektion und Kompression ermöglicht zusätzlich die Korrektur einer skoliotischen Komponente. Nach Osteotomie ist auf einen kontrollierten, langsamen Osteotomieverschluss zu achten um eine akute translatorische Instabilität in der anteroposterioren Ebene mit der Gefahr neurologischer Schäden zu vermeiden. Korrekturen von 20–40° können so in einem Segment erzielt werden. Die VCR (vertebral column resection), also die komplette Entfernung des Wirbels, bleibt aufgrund der iatrogen verursachten Instabilität und dem erhöhten neurologischen Risiko Sonderfällen der sagittalen Deformitäten vorbehalten [6]. Diese kann ventro-dorsal oder auch als einzeitiges rein dorsales Verfahren durchgeführt werden.

Allgemein lässt sich sagen, dass die multisegmentale Ponte- oder auch Smith-Peterson Osteotomie die Therapie der Wahl bei längerstreckiger Kyphosierung ist. Sie führt zur Wiederherstellung eines harmonischen sagittalen Wirbelsäulenprofils bei geringem neurologischen Risiko. Die PSO hingegen ist die Therapie der Wahl bei kurzstreckigen Kyphosen. Zu einem physiologischen sagittalen Profil kann diese jedoch nur bei erhaltenen Kompensationsmechanismen bzw. erhaltener Flexibilität der benachbarten Segmente führen. Anderenfalls müssen die verschiedenen Osteotomieformen kombiniert und zusätzliche PSO oder Ponte Osteotomien durchgeführt werden.

Literaturübersicht

Bei der Vielzahl der in den letzten Jahren erschienenen Literatur sollen im Folgenden die wesentlichen Aspekte der sagittalen Parameter bei einzelnen Krankheitsbildern zusammengefasst werden (umfangreiche Literaturübersicht bei [7]). In der Literatur finden sich zahlreiche Belege dafür, dass eine globale sagittale, sowie eine spinopelvine Imbalance mit einem schlechteren postoperativen Ergebnis einhergeht. Dies zeigt sich etwa deutlich bei der operativen Therapie einer degenerativen Lumbalskoliose [8]. Jedoch lässt sich auch bei Wiederherstellung des physiologischen sagittalen Profils nicht regelhaft ein gutes postoperatives Ergebnisse vorhersagen, bei verbleibender sagittaler Imbalance ist aber mit einem schlechten postoperativen outcome zu rechnen [9]. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei der operativen Rekonstruktion der Wirbelsäule die Wiederherstellung bzw. der Erhalt der sagittalen Balance von entscheidender Bedeutung ist.

Posttraumatische Kyphose

Die zunehmende Kyphosierung entsteht durch einen Kollaps des frakturierten Wirbelkörpers sowie der kranial angrenzenden Bandscheibe, wobei das Ausmaß der initialen Zerstörung des Wirbelkörpers das Ausmaß des segmentalen Kollaps bestimmt. Eine multinationale Auswertung ergab jedoch keine Übereinstimmung darüber, welches Ausmaß der Kyphose zur signifikanten posttraumatischen Deformität führt [10]. Eine ausführliche Literaturübersicht hinsichtlich der Bedeutung des sagittalen Profils bei der Frakturbehandlung findet sich in den Arbeiten von Koller [11, 12]. Kommt es bei der konservativen Behandlung der Patienten zu einer progredienten Kyphose, so konnte eine Korrelation dieser zum schlechten klinischen Ergebnis gezeigt werden.

Betrachtet man das Langzeitergebnis nach konservativer Therapie, so zeigen neben dem Ausmaß der Berstung insbesondere das Ausmaß der PTK und die reduzierte lumbale Lordose ein signifikant schlechteres Ergebnis [11]. Das klinische Ergebnis war jedoch gut, sofern kompensatorische Mechanismen ausreichten, um eine physiologische sagittale Balance herzustellen. Es existieren jedoch zu wenige Langzeitstudien, die die klinischen Ergebnisse hinsichtlich der sagittalen Balance bewerten. Im Rahmen des zunehmenden Wissens über die Bedeutung der spinopelvinen Balance finden sich jedoch zahlreiche Belege in der Literatur, die für die Korrelation des Ausmass der PTK und einem schlechteren klinischen Ergebnis sprechen (Literaturübersicht bei [13]. Als Grenzwert kann aktuell gelten, dass im akuten Stadium bei vorliegender Kyphose von > 15–20° operativ therapiert werden sollte. Auch im Fall einer progredienten Kyphosierung unter konservativer Therapie sollte operiert werden.

Die Herausforderung weiterer Studien wird sein herauszufinden, welche Frakturtypen konservativ behandelt werden können, und welche mit den beschriebenen operativen Methoden rekonstruiert werden müssen, um durch Vermeidung einer posttraumatischen Kyphose ein besseres klinisches Resultat zu erreichen.

Spondylolisthese

Eine Vielzahl von Studien konnte einen Zusammenhang zwischen einer erhöhten Pelvic incidence und der Entstehung, der Progredienz und der Schwere einer Spondylolisthese finden. So bedeutet eine erhöhte Pelvic incidence eine Vergrößerung der lumbalen Lordose und des Sacral slope, das Resultat ist die Horizontalisierung des Sakrums [14]. Durch diese spezifische Position des Sakrums kommt es theoretisch zum Impingement der pars interartikularis und so möglicherweise durch repetitiven Stress zur unvollständigen Synostose. Insofern scheint die Beckenmorphologie eine Bedeutung für die Ätiologie der Spondylolisthese zu haben. Auch korreliert die Wahrscheinlichkeit der Progredienz einer Spondylolisthese mehr mit dem Wert der Pelvic incidence als mit der Schwere des Gleitens [15]. Hinsichtlich der Therapie kann zwischen der Spondylolisthese mit balancierten und nicht balancierten spinopelvinen Parametern unterschieden werden [16].

Ob hieraus ein unterschiedliches Therapieregime abgeleitet werden kann, so dass eine vollständige Reposition nur bei unbalanciertem Becken angestrebt werden sollte, müssen zukünftige Studien zeigen. Aus unserer Sicht sollte die Reposition das Ziel jeder Spondylolisthese-Operation sein. Neben der Reposition spielt aber auch die Korrektur der kyphotischen Deformität eine wesentliche Rolle. Die Wiederherstellung der Lordose erfolgt hierbei durch die dorsale Kompression über den eingebrachten intervertebralen Cage als Hypomochlion.

Degeneration

Auch hinsichtlich degenerativer Veränderungen gibt es Hinweise, dass eine spezifische Beckenmorphologie von ätiologischer Bedeutung ist. Während sich bei reiner Bandscheiben Degeneration keine erhöhte Pelvic incidence zeigte, so scheint eine vergrößerte Pelvic incidence die Entstehung einer degenerativen Spondylolisthese zu fördern [17]. Auch als Folge von Schmerzen entstehen jedoch auch spinopelvine Anpassungen: Patienten mit Low back pain haben eine verringerte LWS-Lordose, ein vertikaleres Sakrum und eine gesteigerte Hüft Extension [18].

Deformitäten

Das heutige Wissen über die Bedeutung des physiologischen sagittalen Profils für ein gutes postoperatives Ergebnis stammt im Wesentlichen von Studien der Erwachsenen Deformitäten. Patienten mit einer dekompensierten sagittalen Imbalance zeigten eine erhöhte Pelvic incidence und abgeflachte LWS-Lordose [19]. Die Folge ist eine erhöhte Rate an Pseudarthrosen, Implantatversagen und Anschlussinstabilitäten. Bei der Korrektur von Deformitäten der Wirbelsäule kann ein gutes Outcome nur bei Wiederherstellung der sagittalen Balance erreicht werden [20]. Postoperativ korreliert auch die Lebensqualität mit der Beckenkippung: Eine Retroversion des Beckens als Kompensation einer sagittalen Deformität führt zu vermehrten Schmerzen [21]. Zusammenfassend zeigen die vorhandenen Studien, dass die präoperative Erfassung der spinopelvinen Parameter notwendig ist.

So sollte etwa im Fall einer vergrößerten Pelvic incidence auch postoperativ eine übernormale lumbale Lordose angestrebt werden. Weniger ist bekannt über die Bedeutung der spinopelvinen Parameter für andere Deformitäten wie etwa die idiopathische Skoliose. Es gibt Hinweise, dass Patienten mit idiopathischer Skoliose eine größere Pelvic incidence aufweisen [22]. Da neben der coronaren auch die Korrektur des Sagittalprofils der idiopathischen Lordoskoliose von wesentlicher Bedeutung ist, so könnte auch die Beachtung der Pelvic incidence hinsichtlich der angestrebten lumbalen Lordose zunehmend Betrachtung finden.

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Luis Ferraris

Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie

Werner-Wicker-Klinik

34537 Bad Wildungen-Reinhardshausen

ferraris@werner-wicker-klinik.de

Literatur

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Fussnoten

Werner-Wicker-Klinik, Bad Wildungen

DOI 10.3238/oup.2012.0502–0508

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