Originalarbeiten - OUP 12/2012

Die Bedeutung der sagittalen Balance in der Wirbelsäulenchirurgie

Zu den positionellen Parametern, beeinflussbar durch Körperhaltung, Muskeltonus und Statik der unteren Extremitäten, gehören Sacral slope (Sakrumkippung, SS) und Pelvic tilt (Beckenrotation, PT) sowie die spinalen Parameter (lumbale Lordose; thorakale Kyphose). Im Gegensatz dazu existieren morphologische Parameter in der Sagittalen, hier steht neben der angeboren Beckenform und Sakrumkrümmung die Pelvic incidence (Inzidenzwinkel, PI) im Vordergrund. Die Pelvic incidence ist eine individuell variierende morphologische Konstante und beschreibt geometrisch die Position des Sakrums im Becken und dadurch die Stellung des Beckens selbst. Die Pelvic incidence ist unabhängig von der räumlichen Beckenstellung oder der Wirbelsäuleneinstellung ein radiologisch erfassbarer Parameter, welcher nach abgeschlossenem Wachstum beim Erwachsenen lebenslang unverändert bleibt.

Die Bedeutung des Konzepts der spinopelvinen Balance liegt in der Interaktion der positionellen Parameter der Wirbelsäule und des Beckens untereinander und in der Interaktion mit dem morphologischen Parameter der Pelvic incidence. Wissenschaftliche Arbeiten konnten starke Korrelationen zwischen der individuellen PI und dem SS sowie der LWS-Lordose nachweisen. Die Größe der PI entspricht der arithmetischen Summe aus PT und SS. Die erarbeitete Formel (PI = PT + SS) reflektiert, dass bei einem Patienten aufgrund der fixierten PI jede Veränderung des Sacral slope zu einer Änderung des Pelvic tilt führt. Folgende mittleren Werte sind für die spinopelvinen Parameter an einem Kollektiv von 149 Menschen ermittelt worden [3]: Pelvic incidence 56° ± 10 bei Frauen und 53° ± 10,6 bei Männern. Sacral slope 43,2° ± 8,4 bei Frauen und 41° ± 8,5 bei Männern. Pelvic tilt 13,6° ± 6 bei Frauen und 13° ± 6 bei Männern.

Beobachtungen zeigen, dass die PI das sagittale Wirbelsäulenprofil und die Einstellung der Wirbelsäule zur Beckenposition reguliert. So ist beim gesunden Individuum die Grundeinstellung der individuellen Lordose abhängig vom SS und diese wiederum vorgegeben durch die Pelvic incidence. Kommt es etwa zum Auftreten einer thorakolumbalen Kyphosierung (z.B. durch Degeneration oder Fraktur) werden diese Kompensationsmechanismen durch eine Inklination des Beckens (Zunahme des SS), Steigerung der segmentalen Lordose und Abflachung der thorakalen Kyphose eingeleitet, mit dem Ziel, den Rumpf über den Hüftgelenken zu halten.

Diese kompensatorischen Änderungen sind jedoch nur in dem Rahmen möglich, der einerseits durch die individuelle Pelvic incidence (PI) vorgegeben ist, und andererseits durch die Flexibilität der benachbarten Segmente der Brust- und Lendenwirbelsäule. Bei fehlenden Kompensationsmöglichkeiten wie etwa bei degenerativen Veränderungen führt die Kyphosierung zur Verlagerung des Körperschwerpunktes nach ventral. Das einwirkende Flexionsmoment steigt, und durch Retroversion des Beckens (Abnahme des SS, Zunahme PT) wird versucht, die Wirbelsäule wieder ins Lot zu bringen. Sind diese Kompensationsmöglichkeiten bei progredienter Kyphosierung ausgereizt, so entwickelt sich eine dekompensierte sagittale Imbalance mit ventralem Rumpfüberhang.

In einer Studie an gesunden Erwachsenen wurden 3 verschiedene Muster der sagittalen Imbalance gefunden: Zum einen die gesteigerte lumbale Lordose als Kompensation der thorakalen Hyperkyphose (bei normalen SS und PI), erhöhte Sacral slope bei normalem PI und erhöhter lumbaler Lordose bei Flexionskontraktur der Hüften bei Koxarthrose sowie die „Flat back deformity“ mit Retroversion des Beckens und und vermindertem SS um ein Vornüberkippen des Körpers zu verhindern [4].

Klinische Relevanz

Die Anpassungen des Körpers an ein pathologisches sagittales Profil erfolgen über die benachbarten Segmente, die angrenzenden Wirbelsäulenkrümmungen und die spinopelvinen Parameter. Jüngere Menschen haben aufgrund der beweglicheren benachbarten Wirbelsäulenabschnitte bessere Kompensationsmöglichkeiten, wohingegen fehlende Kompensationsmechanismen zur sagittalen Imbalance und ventralen Lotabweichung führen können. So lässt bei weniger muskelstarken Patienten etwa im höheren Lebensalter die Kompensation über den Lauf der Jahre schrittweise nach. Man muss sich verdeutlichen, dass auch jede Fusion der mobilen Wirbelsäule die kompensatorischen Möglichkeiten hinsichtlich einer sagittalen Imbalance einschränken.

Auch ist das Ausmaß der Anpassungsvorgänge abhängig von der Lokalisation der verletzten Segmente. Je kaudaler sich die Pathologie befindet, desto größer sind die Auswirkungen auf die sagittale Balance und umso schwieriger die Kompensation. So können etwa thorakale Kyphosen besser kompensiert werden als tief lumbale.

Unabhängig von der Art der Grunderkrankung ist jedoch die Retroversion des Beckens immer Ausdruck einer nicht balancierten spinopelvinen Situation. Die Beschwerden können oft erst viele Jahre nach Bestehen der Deformität auftreten. Bei bestehender Hyperkyphose mit stärkerer Zugbelastung der dorsalen Elemente und Druckbelastung der ventralen Elemente ermüdet die autochthone Rückenmuskulatur. Die Folgen sind neben fokalen Beschwerden auf Höhe der Fehlstellung Beschwerden auch im Muskelansatzbereich. Lumbosakral werden diese Symptome wegen ihres temporären Ansprechens auf Infiltrationsbehandlungen dann oft irrtümlich den sakroiliakalen Gelenken zugeschrieben. Auch kommt es durch die Fehlstellung der Nachbarsegmente und die unphysiologische Lastverteilung zur erhöhten Belastung ligamentärer, vertebragener und myogener Strukturen mit der möglichen Folge einer degenerativen Anschlussinstabilität. Ausgereizte Kompensationsmechanismen verursachen in der Folge jedoch lokale und perifokale Beschwerden, Immobilität und Verlust an Funktionalität.

OP-Indikation

Das Konzept der spinopelvinen Balance hat Bedeutung für die operative Therapie aller Deformitäten der Wirbelsäule. Unabhängig von der Art der bestehenden Deformität sollte eine möglichst vollständige Wiederherstellung des sagittalen Profils der Wirbelsäule angestrebt werden. Die häufigste Indikation zur Operation ist die Schmerzsymptomatik aufgrund der progredienten Lotabweichung und Fehlstatik des Rumpfes. Diese Schmerzen können vertebragen oder neuropathisch bedingt sein, können aber auch bereits Ausdruck einer mangelhaften Balance und myofaszialer Überlastung sein. Bei der sagittalen Imbalance im höheren Alter muss die OP-Indikation selbstverständlich in Abhängigkeit vom Alter und bestehenden Komorbiditäten gestellt werden. Der Leidensdruck, das individuelle Schmerzniveau und auch die Langzeitprognose müssen berücksichtigt werden. Ein aufwendiger Revisionseingriff muss gut abgewogen werden, insbesondere die Frage, mit welchem operativen Aufwand im höheren Lebensalter eine adäquate Korrektur erreicht werden kann.

Operative Grundprinzipien

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