Übersichtsarbeiten - OUP 06/2022

Die geriatrische Beckenringfraktur
Im Spannungsfeld zwischen therapeutischem Nihilismus und 360°-Versorgung

Juliana Hack, Julia Lenz, André Wirries, Ludwig Oberkircher, Steffen Ruchholtz, Christopher Bliemel

Zusammenfassung:
Geriatrische Fragilitätsfrakturen des Beckens gehören zu den häufigsten osteoporoseassoziierten Frakturen. Sie entstehen meist im Rahmen eines Bagatelltraumas und ihre Frakturmorphologie unterscheidet sich grundlegend von Beckenringfrakturen junger Patienten. Dementsprechend werden sie anders klassifiziert und es sind auch andere Therapiestrategien erforderlich als bei Beckenringfrakturen, die im Rahmen eines Hochrasanztraumas entstehen. Bei der Therapieplanung müssen neben der anderen Frakturmorphologie auch die Besonderheiten und speziellen Bedürfnisse geriatrischer Patienten berücksichtigt werden. Geriatrische Beckenringfrakturen gehen, ähnlich wie proximale Femurfrakturen, mit einer erhöhten Mortalität und mit einer langfristigen, relevanten Einschränkung von Mobilität, Lebensqualität und Alltagsfertigkeiten einher.

Schlüsselwörter:
Fragilitätsfraktur, Beckenringfraktur, Alterstraumatologie, Osteoporose

Zitierweise:
Hack J, Lenz J, Wirries A, Oberkircher L, Ruchholtz S, Bliemel C: Die geriatrische Beckenringfraktur. Im Spannungsfeld zwischen therapeutischem Nihilismus und 360°-Versorgung.
OUP 2022; 11: 257–262
DOI 10.53180/oup.2022.0257-0262

Summary: Geriatric fragility fractures of the pelvis are among the most frequent osteoporosis-associated fractures. They usually result from a minor fall and their fracture morphology differs fundamentally from pelvic fractures in younger patients. Besides the differences concerning the fracture morphology, the special demands of the mostly multimorbid and frail patients have to be considered in the treatment. Fragility fractures of the pelvis lead to increased mortality and long-lasting deterioration in mobility, quality of life, and activities of daily living, comparable with hip fractures.

Keywords: Fragility fracture, pelvic fracture, geriatric traumatology, osteoporosis

Citation: Hack J, Lenz J, Wirries A, Oberkircher L, Ruchholtz S, Bliemel C: Fragility fractures of the pelvis. Between therapeutic nihilism and 360° fixation.
OUP 2022; 11: 257–262. DOI 10.53180/oup.2022.0257-0262

Juliana Hack, Julia Lenz, Steffen Ruchholtz, Christopher Bliemel: Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Marburg

André Wirries: Hessing Stiftung, Augsburg

Ludwig Oberkircher: Unfallchirurgie, Orthopädische Chirurgie und Endoprothetik, Medizin Campus Bodensee, Friedrichshafen/Tettnang

Einleitung

Geriatrische Beckenringfrakturen sind nach Wirbelkörperfrakturen, Handgelenksfrakturen und proximalen Femurfrakturen die vierthäufigsten osteoporoseassoziierten Frakturen [1]. Die Inzidenz von geriatrischen Beckenringfrakturen hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen [2, 3]. Etwas einschränkend muss dazu angemerkt werden, dass hierbei auch die verbesserten Möglichkeiten zur Diagnostik mit flächendeckend schnell verfügbarer Schnittbildgebung eine Rolle spielen dürften [4]. Dennoch wird zukünftig eine weitere Zunahme der Inzidenz geriatrischer Beckenringfrakturen erwartet [2, 3]. Aktuell liegt die Inzidenz in Deutschland bei 22,4/10.000 in der Bevölkerung über 60 Jahre [5]. Frauen sind dabei aufgrund der höheren Inzidenz von Osteoporose häufiger betroffen als Männer [17, 28, 33, 44, 46].

Während Beckenringfrakturen bei jungen Patienten typischerweise im Rahmen von Hochrasanzunfällen entstehen und durch Bandzerreißungen meist mit einer relevanten Instabilität sowie häufig mit Blutungen und hämorrhagischem Schock einhergehen, liegt beim geriatrischen Patienten meist ein Bagatelltrauma zugrunde [10, 11]. Sowohl eine Instabilität der Fraktur als auch Blutungskomplikationen sind aufgrund des niedrigenergetischen Unfallmechanismus sowie des veränderten Kräfteverhältnisses zwischen Knochen und Bändern sehr selten [10, 12]. Aufgrund der Unterschiede in der Frakturmorphologie, aber auch wegen der Fragilität und Multimorbidität geriatrischer Patienten sowie der osteoporosebedingt reduzierten Knochenqualität bedürfen geriatrische Fragilitätsfrakturen des Beckenrings komplett anderer Therapiestrategien als Beckenringfrakturen bei jungen Patienten.

Auch wenn in den letzten Jahren das wissenschaftliche Interesse an diesem Thema gewachsen ist und inzwischen schon erste prospektive Studien publiziert wurden, ist aktuell noch deutlich weniger Wissen vorhanden als bspw. zu geriatrischen Wirbelkörperfrakturen oder proximalen Femurfrakturen und es existieren bisher noch keine evidenzbasierten Therapieempfehlungen zur Behandlung geriatrischer Beckenringfrakturen.

Klassifikation

Tile-/AO-Klassifikation

Die Einteilung von Beckenringfrakturen bei jüngeren Patienten erfolgt meist anhand der Klassifikation der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO) nach dem Vorschlag von Tile [13, 14]. Die Tile-/AO-Klassifikation teilt Beckenringfrakturen in die 3 Gruppen A-, B- und C-Verletzungen mit jeweils 3 Untergruppen ein, bei denen die Instabilität von Typ A- bis Typ C-Frakturen zunimmt.

Bei Typ A-Frakturen handelt es sich um stabile Beckenrandfrakturen. Bei Typ B-Verletzungen liegt eine horizontale Instabilität bei erhaltener vertikaler Stabilität vor. Typ B1-Frakturen sind die sog. „Open-Book-Läsionen“ mit Symphysensprengung, Typ B2-Frakturen beschreiben eine jeweils unilaterale Fraktur des vorderen Beckenrings und dorsale Stauchung und bei Typ B3-Frakturen liegen beidseits eine Fraktur des vorderen Beckenrings und eine dorsale Stauchung vor. Typ C-Verletzungen sind gekennzeichnet durch eine komplette Sprengung des vorderen und hinteren Beckenrings mit horizontaler und vertikaler Instabilität [15, 16].

Zur Einteilung von Fragilitätsfrakturen des Beckens ist die Tile-/AO-Klassifikation allerdings nur bedingt geeignet, da bei geriatrischen Patienten nur selten ligamentäre Verletzungen auftreten. Dies liegt einerseits am meist niedrigenergetischen Unfallmechanismus und andererseits am veränderten Kräfteverhältnis zwischen osteoporotischem, weicherem Knochen und durch degenerative Veränderungen rigideren, festeren Bandstrukturen [10, 12]. Dadurch besteht bei geriatrischen Patienten insbesondere bei den Typ B-Frakturen die Gefahr, die Instabilität der Fraktur zu überschätzen [12].

FFP-Klassifikation

Aufgrund der bereits genannten Unterschiede in Bezug auf Frakturmorphologie und besondere Bedürfnisse geriatrischer Patienten ist eine gesonderte Klassifikation für geriatrische Fragilitätsfrakturen des Beckens sinnvoll. Die erste eigene Klassifikation für geriatrische Beckenfrakturen haben Rommens et al. 2013 vorgestellt [10]. In dieser „Fragility Fractures of the Pelvis“-Klassifikation, abgekürzt FFP-Klassifikation, werden 4 verschiedene Frakturgruppen unterschieden, jeweils mit weiterer Unterteilung in Untergruppen. FFP-Typ I-Frakturen fassen isolierte Frakturen des vorderen Beckenrings zusammen, FFP-Typ II-Frakturen beschreiben undislozierte Frakturen des hinteren Beckenrings (Abb. 1), FFP-Typ III-Frakturen dislozierte einseitige hintere Beckenringfrakturen mit gleichzeitig vorliegender Instabilität des vorderen Beckenrings und FFP-Typ IV-Frakturen beidseitige dislozierte Frakturen des hinteren Beckenrings [10].

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