Übersichtsarbeiten - OUP 06/2022

Die geriatrische Beckenringfraktur
Im Spannungsfeld zwischen therapeutischem Nihilismus und 360°-Versorgung

Die FFP-Klassifikation ermöglicht es, Frakturen geriatrischer Patienten anhand ihrer typischen Frakturmorphologie einzuteilen. Kritikpunkte an dieser Klassifikation sind einerseits, dass die Einteilung in die Untergruppen komplex ist und dadurch die Interobserver-Reliabilität relativ gering zu sein scheint; außerdem kann aus der FFP-Klassifikation nicht direkt eine Therapieentscheidung abgeleitet werden, wodurch ihr Nutzen relativiert wird [17–19].

Andere Klassifikationen

Inzwischen wurden noch weitere Klassifikationen zur Einteilung von Fragilitätsfrakturen des Beckens entwickelt. Krappinger et al. haben 2020 die ANC-Klassifikation („Alphanumeric classification of osteoporotic pelvic ring injuries”) vorgestellt, bei der zunächst die Unterteilung in vordere Beckenringfraktur (Typ A), hintere Beckenringfraktur (Typ P) oder vordere und hintere Fraktur (Typ AP) erfolgt und anschließend bei den Typen P und AP noch die Einteilung in verschiedene Gruppen (unilateral, bilateral, mit Kreuzen der Mittellinie) und Subgruppen (inkomplette Sakrumfraktur, komplette Sakrumfraktur, extrasakrale hintere Beckenringfraktur) [17]. Jedoch wurden auch in diese Klassifikation keine Modifikatoren für Patientenmerkmale wie Schmerzlevel, Mobilität, Vorerkrankungen oder Allgemeinzustand integriert, sodass es aktuell noch keine Klassifikation gibt, aus der sich Therapieentscheidungen ableiten lassen.

Diagnostik

Im konventionellen Röntgen können insbesondere wenig und nicht dislozierte Frakturen des hinteren Beckenrings bei geriatrischen Patienten aufgrund der meist osteopenen Knochenstruktur und den häufig ausgeprägten Darmgasüberlagerungen nicht zuverlässig diagnostiziert werden (Abb. 1) [4]. Um eine verzögerte Diagnosestellung mit negativen Konsequenzen für den Patienten zu vermeiden, sollte großzügig die Indikation zur Schnittbildgebung gestellt werden [12]. Während die Computertomografie noch das Standardverfahren darstellt, gibt es inzwischen Hinweise dafür, dass durch eine zusätzliche MRT-Untersuchung eine höhere Zahl an Frakturen detektiert werden kann und teilweise auch die Verletzungsschwere höher eingestuft wird als bei alleiniger Computertomografie [20, 21]. Somit erscheint eine zeitnahe zusätzliche MRT-Untersuchung zur Detektion okkulter Sakrumfrakturen zumindest bei persistierenden Beschwerden im Bereich des hinteren Beckenrings trotz unauffälligem Befund in der Computertomografie sinnvoll [12]. Eine noch relativ neue Alternative zur MRT stellt die Dual-energy CT (DECT) dar, bei der durch die gleichzeitige Anwendung von 2 Strahlenenergiespektren Knochenmarködeme dargestellt werden können. Ein Vorteil der DECT im Vergleich zur MRT ist die gute Darstellung knöcherner Strukturen, außerdem besteht dadurch eine Alternative für Patienten, bei denen beispielsweise aufgrund eines Herzschrittmachers eine MRT-Untersuchung nicht möglich ist. Die bisher vorliegenden Daten weisen darauf hin, dass die DECT genauso gut zur Diagnose von okkulten Beckenringfrakturen geeignet ist wie die MRT [22].

Therapie

Wegen der oben genannten Unterschiede zwischen geriatrischen und jungen Patienten mit Beckenringfraktur sind bei geriatrischen Beckenringfrakturen auch andere Therapiestrategien erforderlich als bei jungen Patienten. Dabei müssen zum einen die anderen Stabilitätsverhältnisse und andererseits die Besonderheiten geriatrischer Patienten wie Osteoporose und Multimorbidität berücksichtigt werden.

Begleitverletzungen wie hämodynamisch relevante Blutungen sind bei geriatrischen Patienten zwar die Ausnahme, können jedoch insbesondere bei Patienten unter therapeutischer Antikoagulation gelegentlich auftreten. Besteht der Verdacht auf eine relevante Blutung, muss eine notfallmäßige Computertomografie mit Kontrastmittel durchgeführt werden. Die Therapie einer relevanten Blutung erfolgt in der Regel interventionell-radiologisch mittels Angiografie und Embolisation [23].

Prinzipiell sind die Therapieziele bei geriatrischen Patienten mit Beckenringfraktur eine adäquate Schmerzreduktion sowie eine möglichst schnelle Mobilisierung, um immobilitätsassoziierte Komplikationen zu vermeiden.

Sowohl bei konservativer, als auch bei operativer Therapie hat das geriatrische Co-Management, bspw. im Rahmen regelmäßiger Visiten zusammen mit einem Geriater, eine wichtige Rolle für das Outcome der Patienten [24]. Auch Osteoporosediagnostik und -therapie sollten schon während des stationären Aufenthalts initiiert werden, da bei Patienten mit geriatrischer Beckenringfraktur ein hohes Risiko für das Auftreten einer weiteren osteoporoseassoziierten Fraktur im kurzfristigen Verlauf besteht [25].

Zwar sind in den letzten Jahren zahlreiche retrospektive und auch wenige prospektive Studien zum Thema geriatrische Beckenringfraktur veröffentlicht worden, jedoch fehlen aktuell noch prospektive, randomisierte Studien mit großen Fallzahlen, sodass momentan größtenteils noch auf „eminenzbasierte“ Therapieempfehlungen zurückgegriffen werden muss, die jedoch teilweise voneinander abweichen [26].

In Abbildung 2 ist der hausinterne Behandlungsalgorithmus dargestellt, der für die Therapie geriatrischer Beckenringfrakturen im Universitätsklinikum Marburg entwickelt wurde [12, 27, 28].

Konservative Therapie

In der Literatur besteht größtenteils Konsens darin, dass bei stabilen Frakturen, also FFP-Typ I- und Typ II-Frakturen nach Rommens, zunächst ein konservativer Therapieversuch unternommen werden soll. Nur bei unzureichender Besserung der Schmerzen oder wenn die Mobilisierung trotz intensiver Physiotherapie und analgetischer Therapie nicht adäquat gelingt, sollten auch diese Frakturen operativ stabilisiert werden [10, 12]. Im eigenen klinischen Vorgehen erfolgt bei konservativer Therapie nach 5–7 Tagen eine Reevaluation von Schmerzsituation und Mobilitätsniveau und bei unzureichendem Therapieerfolg werden die Patienten zeitnah der operativen Therapie zugeführt, um immobilitätsassoziierte Komplikationen zu vermeiden (Abb. 2). Bei dieser Entscheidung muss immer das OP-Risiko des Patienten individuell beurteilt werden.

Abweichend von diesem Konzept beschreiben vereinzelt Autoren, dass sie teilweise auch bei Patienten mit FFP-Typ III und Typ IV-Frakturen einen konservativen Therapieversuch unternehmen und bei den konservativ behandelten Patienten kein schlechteres Outcome in Bezug auf Mobilität und Komplikationen beobachten [29, 30].

Bei der konservativen Therapie sollte die Mobilisierung unter Freigabe der schmerzadaptierten Vollbelastung an Hilfsmitteln durchgeführt werden. Eine Entlastung oder Teilbelastung ist bei geriatrischen Patienten aufgrund der meistens schon vorbestehenden Gangunsicherheit, Nutzung von Gehhilfen und Einschränkung der koordinativen und kognitiven Fähigkeiten in der Regel nicht praktikabel. Entsprechende Maßgaben führen meist entweder zu Immobilisierung oder werden nicht umgesetzt [31, 32].

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