Übersichtsarbeiten - OUP 06/2022

Die geriatrische Beckenringfraktur
Im Spannungsfeld zwischen therapeutischem Nihilismus und 360°-Versorgung

Bei konservativ behandelten Patienten sollten im Verlauf Röntgenkontrollen durchgeführt werden, vor allem dann, wenn persistierende oder zunehmende Schmerzen beschrieben werden und die Mobilisierung nicht zufriedenstellend gelingt, um eine ausbleibende Frakturheilung oder eine Frakturprogression auszuschließen [12, 33]. Die Frakturprogression ist eine Besonderheit, die gelegentlich bei Fragilitätsfrakturen des Beckens beobachtet werden kann, bei der initial stabile Frakturen durch die veränderte Kraftübertragung im Verlauf auch ohne erneutes Trauma zu instabilen Frakturen fortschreiten können [33–35].

Operative Therapie

Die operative Therapie ist indiziert, wenn eine instabile Fraktur vorliegt, also bei FFP-Typ III- und Typ VI-Frakturen oder einer mechanischen Instabilität in der klinischen Untersuchung, sowie bei persistierenden Schmerzen und dadurch bedingter unzureichender Mobilität bei stabilen Frakturen.

Um bei den oft multimorbiden Patienten lange Operationszeiten und invasive offen-chirurgische Zugänge zu vermeiden, sollten minimalinvasive Verfahren genutzt werden, wenn die Frakturmorphologie dies zulässt. Durch ein minimalinvasives Vorgehen lassen sich peri- und postoperative Komplikationen sowie die Revisionsrate reduzieren [36, 37]. Die Stabilität der Osteosynthese ist hierbei wichtiger als eine anatomische Reposition der Fraktur [33].

Eine weitere Herausforderung bei der operativen Therapie geriatrischer Beckenringfrakturen besteht darin, im osteoporotisch veränderten Knochen eine stabile Osteosynthese zu erzeugen. Die Zementaugmentierung stellt dabei eine inzwischen etablierte Technik zur Verbesserung der Stabilität dar, die insbesondere bei der iliosakralen Schraubenosteosynthese häufig zur Anwendung kommt und deren positiver Einfluss auf die Stabilität der Osteosynthese in biomechanischen Studien gezeigt werden konnte [38–44].

Das am häufigsten angewandte Operationsverfahren zur Behandlung geriatrischer Beckenringfrakturen ist die iliosakrale Schraubenosteosynthese (Abb. 3) [26]. Sie wird bei Frakturen der Massa lateralis des Os sacrum eingesetzt und kann bei undislozierten oder wenig dislozierten Frakturen perkutan durchgeführt werden. Hierbei wird minimalinvasiv unter Durchleuchtungskontrolle eine kanülierte Voll- oder Teilgewindeschraube mit Unterlegscheibe vom hinteren Anteil des Os iliums durch das Iliosakralgelenk in den Korridor des S1-Wirbelkörpers positioniert [27]. In der Regel werden die Schrauben zementaugmentiert eingebracht. Um die Stabilität zu erhöhen, kann auch eine zweite Schraube – je nach anatomischer Gegebenheit in S1 oder S2 – implantiert werden. Bei bilateralen Frakturen ist auch eine beidseitige iliosakrale Schraubenosteosynthese möglich [12, 27]. Alternativ findet hier ein transsakraler Positionsstab Anwendung, für den ein langer Stab vom hinteren Anteil des Os iliums der ersten Seite durch den S1 hindurch bis durch den hinteren Anteil des Os iliums auf der Gegenseite eingebracht und auf beiden Seiten mit Muttern fixiert wird [45].

Mögliche Komplikationen der iliosakralen Schraubenosteosynthese sind Schraubenfehllage, Nervenläsionen, Schraubenlockerung sowie die Zementleckage bei zementaugmentierter Implantation [12, 33, 46].

Die seltenen Frakturen des hinteren Beckenrings im Bereich des Os iliums lateral des Iliosakralgelenks werden in der Regel mittels 2 von ventral eingebrachten Platten stabilisiert [12, 27].

Bei den ebenfalls seltenen geriatrischen Frakturen des hinteren Beckenrings mit deutlicher Dislokation sowie vertikaler Instabilität kommt die lumbopelvine Abstützung zum Einsatz. Dabei überbrückt ein Stab die Frakturregion, der mit Pedikelschrauben in der unteren Lendenwirbelsäule und einer Schraube im hinteren Os ilium fixiert wird. Zusätzlich wird in der Regel bei der sog. triangulären lumbopelvinen Fixierung eine iliosakrale Schraube eingebracht, um die Stabilität in horizontaler Richtung zu erhöhen [12, 27].

Eine Stabilisierung des vorderen Beckenrings ist bei geriatrischen Fragilitätsfrakturen relativ selten erforderlich; im eigenen klinischen Vorgehen wird sie nur bei relevanten Schmerzen im Bereich des vorderen Beckenrings durchgeführt sowie bei ausgeprägter vorderer und hinterer Instabilität in Kombination mit einer Osteosynthese des hinteren Beckenrings.

Als Standardverfahren kann hierzu ein Fixateur externe angebracht werden. Den Vorteilen wie Minimal-invasivität, kurzer Operationszeit, einfacher technischer Handhabung und breiter Verfügbarkeit stehen jedoch relevante Nachteile gegenüber, bspw. die begrenzte Anwendungsdauer aufgrund der Gefahr von Pintrakt-Infektionen, häufige Lockerungen, die Gefahr der sekundären Frakturdislokation, hoher pflegerischer Aufwand durch die tägliche Pflege der Pineintrittstellen, schlechter Patientenkomfort, Probleme bei der Mobilisierung sowie eingeschränkte Einsatzmöglichkeiten bei adipösen Patienten [47–50]. Deshalb ist nach initialer Anlage eines Fixateur externe in der Regel eine weitere Operation zur definitiven Stabilisierung erforderlich. Da bei geriatrischen Patienten jedoch die Versorgung mit nur einer Operation sowie eine schnelle Mobilisierung angestrebt werden, ist der Einsatz des Fixateur externe bei geriatrischen Beckenringfrakturen nur in Ausnahmefälle sinnvoll.

Als Alternative zum Fixateur externe gibt es seit einigen Jahren verschiedene Varianten minimalinvasiver interner Fixateure, die zur definitiven Osteosynthese von Beckenringfrakturen mit transpubischer oder transsymphysärer Instabilität eingesetzt werden, üblicherweise in Kombination mit einer Versorgung begleitender Frakturen des hinteren Beckenrings z.B. mit einer ISG-Schraube (sog. „270°-Versorgung“ bei unilateraler ISG-Schraube und „360°-Versorgung“ bei bilateraler ISG-Schraube, (Abb. 4)) [12, 51–58].

Vorteile der internen Fixateure sind die Tatsache, dass die Fraktur damit ausbehandelt werden kann, der bessere Patientenkomfort, da z.B. Sitzen und Liegen in Seitenlage möglich sind, weniger Pflegeaufwand durch Wegfallen der Pinpflege, Anwendbarkeit auch bei adipösen Patienten, eine niedrigere Lockerungsrate und weniger infektassoziierte Komplikationen als beim Fixateur externe. Potenzielle Komplikationen des Fixateur interne sind Läsionen des N. cutaneus femoris lateralis, heterotope Ossifikationen und lokales Irritationsgefühl bei schlanken Patienten [51, 55, 57].

Die meisten dieser internen Fixateure werden subkutan platziert [51, 53–58]. In unserer Klinik findet seit 2010 ein submuskulärer Fixateur interne Anwendung, bei dem ein vorgebogener Titanbügel minimalinvasiv direkt am oberen Schambeinast eingebracht und auf beiden Seiten mit supraazetabulären Pedikelschrauben fixiert wird. Die Pedikelschrauben werden beidseits über einen minimalinvasiven transabdominalen, retroperitonealen Zugang eingebracht, der Titanbügel wird nach stumpfer Weichteilpräparation unterhalb der Gefäße direkt entlang der Schambeinäste von der einen zur anderen Seite eingeschoben [12, 52]. Durch die Lage des Bügels direkt an den oberen Schambeinästen hat der submuskuläre Fixateur interne die gleichen Vorteile wie die subkutanen Varianten, zusätzlich sind Fremdkörpergefühl oder lokale Irritationen vor allem bei schlanken und kachektischen Patienten durch die tiefere Lage des Osteosynthesematerials sehr selten, wodurch eine Metallentfernung in aller Regel nicht erforderlich ist. Außerdem ist durch die direkte Positionierung am Knochen die biomechanische Stabilität potenziell höher. Eine mögliche Komplikation, speziell den submuskulären Fixateur interne betreffend, stellt das Risiko von Gefäß- und Nervenverletzungen beim minimalinvasiven Tunneln des Lagers für den Bügel dar [12, 52].

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