Originalarbeiten - OUP 09/2018

Digitale Transformation der Medizin
Brauchen wir ein Curriculum 4.0 für die Aus-, Fort- und Weiterbildung?Do we need a Curriculum 4.0 for education and training?

Die Teilnehmenden sind in der Lage, die Sammlung und Nutzung von Patientendaten im Spannungsfeld von technischen und ethischen Grundsätzen sowie unter gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu bewerten und in medizinischen Kontext zu setzen.

Ergebnisse

Die Evaluation erfolgte anhand standardisierter Prä-/Post-Evaluationsfragebögen und in Form semi-strukturierter Interviews. Hierzu wurde die Akzeptanz des Curriculums bei den Teilnehmenden, die Beteiligung und Interaktion sowie die Kompetenzentwicklung evaluiert.

Qualitative Evaluation anhand
semi-strukturierter Interviews

Die qualitativen Daten wurden in Form von vier 30–45-minütigen semi-strukturierten Gruppeninterviews erhoben, an denen alle Studierenden teilnahmen. Die Audioaufnahmen wurden transkribiert und anhand der „Qualitativen Inhaltsanalyse“ nach Philipp Mayring klassifiziert und ausgewertet [16].

Durch die Analyse der umfassenden Aussagen werden neben numerischen Häufigkeiten auch latente Sinnzusammenhänge, Relevanzsetzungen und Haltungen aufgedeckt. Abbildung 1 zeigt eine Einschätzung der Studierenden in Bezug auf den subjektiven Lernerfolg. So konnten 29 % der Aussagen im Bereich „Lernerfolg“ der Sensibilisierung gegenüber digitaler Medizin zugeordnet werden, 36 % der Aussagen der Aneignung praktischer Fertigkeiten im Umgang mit digitaler Medizin und 35 % der Aussagen der Ebene der individuellen Reflexion. Die Ebene der Sensibilisierung beschreibt das Wissen in Hinsicht auf die gesellschaftliche Relevanz und die differenzierte Einflussnahme der digitalen Entwicklung auf die Medizin sowie ein gestiegenes Interesse an der Thematik. Der Bereich der praktischen Fertigkeiten beschreibt einen Kompetenzzugewinn der Handlungsfähigkeit im Rahmen konkreter digitaler und technischer Tools. Auf der Ebene der Reflexion findet vor allem der abstrakte Transfer auf die eigene Handlungspraxis statt und damit einhergehend die Entwicklung einer Haltung.

Quantitative Prä-/Post-Evaluation

Neben der qualitativen Vorgehensweise erfolgte die quantitative Befragung anhand standardisierter Prä-/Post-Evaluationsfragebögen mit einer 7-stufigen Likert-Skala. Die quantitative Evaluation erfolgte getrennt für die Teilkompetenzen „Wissen“, „Fertigkeiten“ und „Haltung“ in Bezug auf den Lernerfolg. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in der Prä-/Post-Evaluation eine positive Kompetenzentwicklung nachvollziehen lässt. Durch die Teilnahme konnte ein vorab geringer Wissenstand auf ein höheres Niveau gesteigert werden (Abb. 2a). Geringe Vorfertigkeiten konnten im Rahmen der Wahlpflichtwoche erweitert und verbessert werden (Abb. 2b). In Bezug auf „Haltung“ stellt der Wert 4,0 eine neutrale Haltung dar, während niedrigere Werte eine ablehnende und höhere Werte eine positive Haltung ausdrücken. Die zu Beginn neutrale Haltung zeigte sich zum Abschluss des Unterrichts deutlich positiver (Abb. 2c).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die qualitative als auch die quantitative Evaluation des Unterrichtskonzepts eine positive Kompetenzentwicklung in den Bereichen Wissen, Fertigkeiten und Haltung verzeichnet. Die Ergebnisse der verschiedenen Evaluationsmethoden bekräftigen sich in ihrer Validität.

Diskussion

Die Digitalisierung ist ein fortwährender Prozess, der die Versorgungsstrukturen auf allen Ebenen verändert. Der notwendige Kompetenzerwerb der Ärzteschaft geht weit über eine isolierte Schulung zu spezifischen Aspekten hinaus und fordert eine grundlegende Auseinandersetzung zu den Kernthemen der Digitalisierung. Zum jetzigen Zeitpunkt muss jedoch festgestellt werden, dass weder die aktuell praktizierenden Ärzte noch die derzeit studierende nächste Generation auf den digitalen Wandel des Gesundheitssystems adäquat vorbereitet werden.

Ärzte müssen Patienten zukünftig nicht nur zur Medikation und Operation, sondern auch zu digitalen Behandlungsformen beraten können. Erste App-basierte Behandlungsformen sind seit Kurzem rezeptierbar und von einzelnen Kostenträgern erstattungsfähig. Ärzte werden somit zukünftig nicht nur Medikamente und Hilfsmittel, sondern auch Apps verordnen und in den Behandlungsablauf integrieren müssen [2]. Dies setzt einen kompetenten Umgang mit diesen digitalen Behandlungsformen voraus. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Rahmen von Diagnostik und Therapieentscheidungen wird Faktenwissen eine eher geringe Rolle spielen [9]. Stattdessen müssen Ärzte assistierende Technologien verstehen und nutzen lernen. Die genannten Beispiele demonstrieren, dass der Umgang mit Daten im medizinischen Alltag eine neue Bedeutung erlangt. In der bisherigen ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung wird der Umgang mit Daten zumeist im Kontext einer statistischen Grundausbildung gelehrt, um die Ärzte in die Lage zu versetzen, Forschungsergebnisse medizinischer Studien beurteilen zu können. Die Zukunftskompetenz „Data Literacy“ verlangt jedoch zusätzlich die Vermittlung von digitalen Fertigkeiten bezüglich eines kritischen, planvollen und kontextspezifischen Umgangs mit Daten. Daten müssen somit nicht nur statistisch ausgewertet werden, sondern auch als ethisch gute und rechtlich sichere Entscheidungs- und Handlungsgrundlage dienen. Ein kritischer Umgang bedeutet somit auch, die Grenzen der Aussagekraft von datenbasierten Entscheidungen zu kennen. Ziel ist es nicht, Ärzte zu Medizininformatikern auszubilden, sondern aus dem Blickwinkel eines handelnden Arztes Datenkompetenzen zu vermitteln, damit Ärzte die zunehmende Bedeutung von Daten für ihr Handeln verstehen und in der Lage sind, Daten „lesen“ zu können [13].

Das Curriculum Medizin im digitalen Zeitalter richtet sich in der jetzigen Konzeption an Studierende der Humanmedizin an der Universitätsmedizin Mainz. Als Zukunftsperspektive wird eine Ausdehnung auf weitere Standorte und die Fort- und Weiterbildung angestrebt. Die Entwicklung einer Digitalisierungsstrategie und deren didaktische Vermittlung ist somit ein relevanter Bestandteil der Zukunftsplanung der curricularen Weiterentwicklung des Medizinstudiums und insbesondere für die Fort- und Weiterbildung von Orthopäden und Unfallchirurgen. Bei der Entwicklung dieser Curricula muss jedoch die hohe Geschwindigkeit des Veränderungsprozesses beachtet und eine curriculare Anpassung im Sinne eines „agility by design“ bereits bei der Konzeption ermöglicht werden.

Das Projekt „Medizin im digitalen Zeitalter“ wird im Rahmen des Förderprogramms Curriculum 4.0 vom Stifterverband gefördert.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5