Übersichtsarbeiten - OUP 02/2013

Ein spezielles inverses Prothesendesign zur Prophylaxe des Scapula-Notching –
die Agilon Invers

Eine Lateralisation des Rotationszentrums mit einem metallischen Offset wird von der Forschungsgruppe um Fankle vorgeschlagen [22]. In einer kurzfristigen Nachuntersuchung von 33 Monaten zeigte sich mit diesem Prothesendesign kein Anhalt für ein Scapula-Notching. Allerdings führt dieser Ansatz zu einem vermehrten Drehmoment im Bereich der Glenoid-Komponente. Bereits eine Lateralisation von 10 mm führt zu einer Erhöhung des Drehmomentes im Bereich der Glenoidverankerung von 800 Nm (800 N entsprechen ca. einmal Körpergewicht), während bei dem konventionellen Design ohne Lateralisation theoretisch kein Drehmoment an der Glenoidverankerung auftreten müsste, sondern nur Scherkräfte. Diese Konstellation geht mit einem erhöhten Risiko einer Glenoidlockerung einher, v.a. bei osteoporotischen Knochen [23], weil das Rotationszentrum nicht mehr dem Punkt der Krafteinleitung entspricht und es daraufhin zu einem sog. „Schaukelpferdphänomen“ der Metaglene kommt [24]. Hopkins und Mitarbeiter [25] konnten dieses Phänomen auch in einer biomechanischen Vergleichsmessung zwischen einem konventionellen Design einer inversen Grammont-Schulterprothese und einem Modell mit lateralisierter Glenosphere durch eine erhöhte Mikrobeweglichkeit unter der Basisplatte bei Wechselbewegungen beweisen. Dieses ist nicht nur biomechanisch nachweisbar, sondern spiegelt sich auch in einer erhöhten Lockerungsrate dieser Prothesenmodelle wider, mit 12 % nach 2 Jahren [22] vs. 4 % nach 15 Jahren bei der herkömmlichen Grammont-Prothese [26].

Des Weiteren wird durch eine Lateralisation des Offsets der günstige Effekt einer erhöhten Kraftentwicklung des Deltamuskels durch die Medialisierung des Rotationszentrums vermindert. Im Vergleich zu anatomischen Schulterprothesen kommt es bei den inversen Prothesen durch die Medialisierung des Rotationszentrums zu 20 % mehr Drehmoment des Deltamuskels [27]. Ca. 1 cm Medialisierung des Rotationszentrums führt zu einer Steigerung der Effizienz des Musculus Deltoideus um ca. 25 %. Diese Argumente waren Gründe dafür, dass bei der Entwicklung der Agilon Invers von einer Lateralisation des Offsets Abstand genommen wurde und auch eine Vermeidung des Scapula-Notchings bzw. eine Verminderung der Glenoidlockerung durch andere sicherere Designmerkmale erreicht werden sollten. Da unsere bisherigen Ergebnisse diese Komplikationen nicht zeigen, müssen wir davon ausgehen, dass die o.b. Designmerkmale der Agilon Invers ausreichend sind, diese Komplikationen zu verhindern ohne das erhöhte Risiko des sog. „Schaukelpferdphänomen“ zu induzieren.

Eine weitere Methode die Vorteile der Lateralisation des Rotationszentrums zu gewinnen und gleichzeitig die Nachteile dieser Konstellation, v.a. das erhöhte Drehmoment am Glenoid, zu minimieren ist das von Boileau und Mitarbeitern vorgestellte Konzept der knöchernen Lateralisation, das sog. „bony increase-offset“ oder „BIO-RSA“ [28]. Dieses Design hat den Vorteil einer Lateralisation der Prothese unter Erhaltung des Rotationszentrums im Bereich des Knochens sowie des eigentlich bewährten ursprünglichen Prothesendesigns. Während der Prothesenimplantation wird eine Spongiosascheibe aus dem Humeruskopf entfernt, als autologer „Knochengraft“ am Glenoid unter der Glenosphäre wieder eingesetzt und durch einen um 10 mm verlängerten Stift der Basisplatte sowie 4 Schrauben gehalten. Nach einer knöchernen Konsolidation dieses Knochenblocks verändert sich das Verhältnis zwischen Drehzentrum und Knochen-/Protheseninterface nicht, während der Humerus weniger medialisiert ist. Nach einem Minimum von 2 Jahren waren alle Knochengrafts konsolidiert und es wurden signifikante Versbesserungen der Schultermobilität festgestellt. Scapula-Notching wurde in 9 von 42 Fällen beobachtet. Diese Methode ist vor allem in Fällen einer Subscapularis-Insuffizienz zur Verbesserung der Prothesenstabilität zu empfehlen.

Die Agilon Invers weist einen verringerten Hals-Schaft-Winkel der humeralen Komponente auf. Dieses Prothesendesignmerkmal zeigt in biomechanischen Untersuchungen ein deutlich verringertes Risiko für ein Scapula-Impingement. Im Gegensatz dazu steht ein erhöhtes Risiko für einen superioren Konflikt der Prothese mit dem Acromion und für eine mögliche Protheseninstabilität in der ersten Phase der Abduktion [23, 29, 30].

Während wir bei der Agilon Invers bisher keinerlei Anzeichen für einen superioren Konflikt gefunden haben, ist das erhöhte Risiko für eine Prothesenluxation gegenwärtig, da wir bisher als einzige Komplikation eine Luxation beobachten konnten. Insgesamt scheint sich dieses Problem jedoch in Grenzen zu halten. Trotzdem müssen Langzeitbeobachtungen darüber Auskunft geben, ob diese Komplikation durch den verringerten Hals-Schaft-Winkel beherrschbar bleibt. Kempton und Mitarbeiter berichteten von einer inversen Schulterprothese mit einer Kombination aus einem metallisch lateralisierten Glenosphere und einem reduzierten Hals-Schaft-Winkel [31]. Sie fanden nach einem mittleren Follow-up von 16 Monaten eine Notchingrate Grad 1–2 von 16 % und keinerlei Notching Grad 3–4. Während diese Ergebnisse ermutigend sind, müssen Langzeitergebnisse abgewartet werden, um mögliche Glenoidlockerungen oder andere Komplikationen durch das Prothesen-Design im Rahmen eines vermehrten Drehmoments am Glenoid auszuschließen. Letztendlich erscheint eine exzentrische Glenosphere mit inferiorem Überhang am Glenoid noch das am wenigsten kompikationsbehaftete Designmerkmal zur Vermeidung eines Scapula-Notching zu sein.

Kelly und Mitarbeiter [32] schlagen für die Aequalis reversed shoulder (Tornier, Edina, Minnesota, USA) eine inferior angebrachte Metaglene vor, deren Zentralzapfen sich idealerweise 12 mm kranial des inferioren Glenoidrandes befindet. Dadurch wird ein inferiorer Überhang der Metaglene erzeugt, sodass ein Impingement verhindert wird und die inferiore Spongiosaschraube noch ausreichend fixiert werden kann. Lévigne und Mitarbeiter [33] kritisieren einen inferioren Überhang der Metaglene, da sie die Fixation der inferioren Spongiosaschraube gefährdet sehen. Laut De Wilde und Mitarbeiter [15] ist eine exzentrische Glenosphäre mit inferiorem Überhang der effektivste Weg, dem mechanischen Konflikt an der Scapula vorzubeugen. Lévigne und Mitarbeiter [33] empfehlen einen Überhang von 4 mm über den inferioren Glenoidring hinaus. Auch Nyffeler und Mitarbeiter [21] und Gutiérrez und Mitarbeiter [34] zeigten diesen positiven Einfluss des inferioren Überhanges auf den Winkel des Adduktionsdefizites, auch Notch-Winkel genannt. In einer ersten retrospektiven, radiologisch-klinischen Studie von 20 Patienten mit einer mittleren Follow-Up-Zeit von 27,5 Monaten nach der Implantation einer exzentrischen Glenosphäre (Shoulder Modular Replacement reverse, Lima corporate, Udinese, Italien) mit inferiorem Überhang von 4,3 ± 0,8 mm konnte weder das Phänomen des Scapula-Notching noch eine implantatassoziierte Komplikation wie frühzeitige Materiallockerung nachgewiesen werden [35]. Auch wir konnten bisher mit dem Design der Agilon Invers kein Scapula-Notching oder eine früzeitige Glenoidlockerung feststellen. Falls ein inferiorer Überhang im Einzelfall nicht möglich sein sollte, kann sich ein Entfernen des Tuberculum infraglenoidale, um so ein Adduktionsdefizit zu vermindern, positiv auswirken [36].

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