Übersichtsarbeiten - OUP 01/2016

Evidenzbasierte Therapie der proximalen Humerusfraktur3
Wann konservativ, wann operativ?When non-operative – when surgical treatment?

Die Schulterfunktion wurde evaluiert mit dem Constant-Murley-Score (CMS), der Visuellen Analogskala [VAS] für Schmerz und ’subjektiver Einschränkung’ (Disability) und dem Simple-Shoulder-Test (SST). Der SST ist ein schulterspezifisches Outcome-Instrument, bestehend aus 12 einfachen Ja- (1) oder Nein- (0) Fragen, die die funktionelle Limitierung der betroffenen Schulter im Kontext mit den Alltagsaktivitäten des Patienten misst [14].

Die Studie hatte eine Power von 80 % für den Nachweis eines klinisch bedeutsamen Unterschieds von ± 15 Punkten im Constant-Murley-Score. In beiden Gruppen verbesserte sich das Ergebnis zwischen Monat 3 und 12, zwischen beiden Gruppen fand sich kein signifikanter Unterschied, weder im CMS noch im SST. Zwischen den Gruppen fanden sich Unterschiede für verschiedene Teilkomponenten.

Nach 3 und 12 Monaten war die Abduktionskraft besser in der konservativen Gruppe (p = 0,008), während der Schmerz-Score zum 3-Monats-Termin in der Prothesengruppe vorübergehend besser war. Nach 12 Monaten waren die Schmerz-Scores in beiden Gruppen ohne signifikante Unterschiede. Bezüglich der Einschränkung im täglichen Leben (VAS disability) fanden sich zu keinem Zeitpunkt signifikante Unterschiede. Anteversion und Abduktion waren bei 3 Monaten besser in der konservativen Gruppe, dieser Unterscheid war nach 12 Monaten nicht mehr nachweisbar.

Die Ergebnisse der Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Bei ältere Patienten (> 65 Jahre) mit dislozierten (> 45°, > 1 cm) 4-Teile-Frakturen führt die Implantation einer Hemiprothese (Frakturprothese) nicht zu einer besseren Kraft und Funktion im Vergleich zur konservativen Therapie.

In der Prothesengruppe war der Schmerz zum 3-Monats-Termin geringer, dieser Unterschied war nach 12 Monaten nicht mehr nachweisbar. In der konservativen Gruppe waren Anteversion und Abduktion nach 3 Monaten besser als in der Prothesengruppe, dieser Unterscheid war nach 12 Monaten nicht mehr nachweisbar. Die Abduktionskraft war in der konservativen Gruppe zum 3– und 12-Monats-Termin signifikant besser als in der Prothesengruppe.

Studienbewertung
und Einschränkungen

Alle 4 erwähnten, prospektiv randomisierten Studien erscheinen ’unterpowert’. Drei davon bilden einen Behandlungszeitraum von 2 Jahren ab und bilden eine Patientenpopulation von 214 Patienten. Es ist die qualitativ beste Evidenz, die im Moment zu diesem Thema zur Verfügung steht.

Risiken der
operativen Therapie

Neuhaus und Mitarbeiter haben 2013 verschiedene Einflussfaktoren für die Entwicklung von Komplikationen und Mortalität untersucht. In einer großen US-Kohortenstudie mit über 132.005 Patienten (Einschlussfakturen Alter > 65 Jahre, isolierte proximale Humerusfraktur) wurden für die Jahre 2003–2007 Daten aus dem National Hospital Discharge Survey analysiert.

Es zeigte sich, dass der Faktor
Osteosynthese versus konservative Behandlung ein höherer Risikofaktor für Komplikationen darstellt als KHK. Die Osteosynthese stellt einen 20-mal höheren (2,8 vs 0,4) Risikofaktor für Mortalität dar als das Vorhandensein einer COPD [24].

Studienlage undislozierte/ minimal dislozierte Fraktur

Gaebler untersuchte in der Arbeitsgruppe um Court-Brown in einer prospektiven Studie 1027 konsekutive proximale Humerusfrakturen aller Altersgruppen, davon waren etwa 507 un- oder gering disloziert (< 1 cm, < 45°) [13]. Diese Frakturen wurden konservativ behandelt. Bei der Nachuntersuchung, ein Jahr nach Unfall hatten 87 % der Patienten gute oder exzellente Ergebnisse. Die Patienten unter 60 Jahren hatten einen mittleren Constant-Score von 80,7, die Patienten über 60 Jahre einen Constant-Score-Wert von 71. Ein großer Anteil der Patienten mit mäßigem oder schlechtem Ergebnis hatte erhebliche Komorbiditäten, auf die die eingeschränkte Schulterfunktion zurückgeführt wurde.

Wann konservativ – wann operativ?
Evidenzbasierte Therapie

Der evidenzbasierte MHH-Indikations-Algorithmus für die Entscheidungsfindung zur konservativen vs. operativen Behandlung proximaler Humerusfrakturen ist im Wesentlichen geführt vom Alter und Dislokationsgrad (Abb. 1) [17] und bezieht die Ergebnisse der skandinavischen Studien mit ein. Diese Studien haben an der eigenen Klinik zu einer Umstellung des Behandlungskonzepts geführt, mit einer Reduktion der OP-Frequenz von 45 % auf 17 %. Insbesondere die Plattenosteosynthese ist stark rückläufig (Abb. 2). Daneben gibt es noch eine Indikationsgruppe, die durch die Begleitumstände als OP-würdig definiert ist.

Der ältere Patient

Indikationen zum konservativen Vorgehen sind alle Frakturen, sowohl die wenig dislozierten Frakturen (< 1 cm, < 45°), als auch die dislozierten (> 1 cm, > 45°) Frakturen, sofern sich keine zwingende OP-Indikationen durch die Begleitumstände ergeben (Luxationsfrakturen, Headsplit-Frakturen, offener Weichteilschaden und pathologische Frakturen und nicht geschlossene, reponierbare Schaftdislokation > 50 %). Der ältere Patient ist nicht ausschließlich durch das kalendarische Alter definiert, sondern grundsätzlich müssen immer auch die patientenbezogenen Faktoren (Alter, Komorbidität, Aktivitätsanspruch, Begleitverletzungen) mit einbezogen werden. Schaftdislokation > 50 % werden ggf. in Analgesie/Kurznarkose reponiert. Dieses Vorgehen ist durch die Literatur ausreichend belegt.

Eine schlüssige Erklärung für das trotz hohem Aufwand nicht bessere Abschneiden der operativen Therapie – ungeachtet des eingesetzten Verfahrens – steht noch aus. Unklar ist ebenfalls, warum die konservative Therapie trotz z.T. erheblicher Fehlstellung nicht schlechter abschneidet als die operative Therapie. Eine Möglichkeit könnten der im Alter oft größere subacromiale Raum und der geringere Muskeltonus sein, was die Toleranz von größeren Fehlstellungen erklären könnte, die beim muskelkräftigen Patienten mit engem Subacromialraum nicht toleriert würden. Die beim operativen Vorgehen verfahrensabhängig mehr oder weniger starke Störung der Weichteile und Gleitschichten ist ein weiterer Risikofaktor für eine Einschränkung einer normalen Schulterfunktion.

Der jüngere Patient

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