Übersichtsarbeiten - OUP 01/2016

Evidenzbasierte Therapie der proximalen Humerusfraktur3
Wann konservativ, wann operativ?When non-operative – when surgical treatment?

Dislozierte Frakturen: Beim Patienten unter 60 Jahren ist die Evidenzlage erheblich schlechter. In dieser Patientengruppe werden Fehlstellungen deutlich schlechter toleriert. Aus diesem Grunde wird hier wird die Indikation zur OP deutlich aggressiver gestellt. Dislozierte Frakturen (> 1 cm, > 45°) werden operiert.

Undislozierte Frakturen: Undislozierte Frakturen des unter 60-Jährigen können unter radiologischer Kontrolle (0, 3, 6, 12 Wochen) konservativ behandelt werden.

Wenig dislozierte Frakturen (Borderline Fraktur): Die Schwierigkeit stellen die wenig dislozierten Frakturen (< 1 cm, < 45°) dar, wo wir die OP-Indikation individuell stellen und die Problematik mit dem Patienten besonders intensiv diskutieren. Therapieempfehlungen auf Basis der kontrovers diskutierten Definition von ’wenig disloziert’ (< 1cm, < 45°) müssen ggf. auf Basis neuer zukünftiger Studien kritisch überdacht werden [4, 22].

2009 publizierten Bahrs und Mitarbeiter eine Analyse über 66 Patienten mit minimal dislozierten proximalen Humerusfrakturen (Nachuntersuchungsintervall > 3 Jahre, im Mittel 51 Monate) [2]. Der mediane Constant-Score betrug 89 von 100, mit exzellenten oder guten Ergebnissen in 82 % der Fälle. Das bestätigen auch zahlreiche andere Untersuchungen, die über exzellente und gute Ergebnisse in 79–98 % der Fälle berichten [6, 8, 9, 13, 16, 19, 21, 31, 33]. Bahrs et al. konnten zeigen, dass auch deutlich unterhalb der Schwelle von < 1cm oder < 45°, z.B. schon bei Vorliegen einer Kombination von Frakturdislokationen von ? 15° und ? 5 mm Dislokation des Tuberositas-Fragments die klinische Funktion negativ beeinflusst wird [2].

In Bahrs’ Untersuchungen haben Alter, AO-Klassifikation, ASA-Score und initiale Frakturdislokation Einfluss für das Ergebnis [2]. Keinen Einfluss auf das Ergebnis dagegen hatte eine sekundäre Dislokation. In Bahrs’ Untersuchung kam es bei 41 Fällen (im Verlauf 62,1 %) zu einer messbaren sekundären Veränderung der Fragmentposition, in 27 Fällen im Sinne einer Zunahme der Dislokation, in 14 Fällen zu einer Abnahme. Ein Einfluss auf den Constant-Score war durch diese sekundäre Änderung der Fragmentposition nicht nachweisbar [2]. Beispiele dafür finden sich in den Abbildungen 3 und 4.

Für die Stabilitätsuntersuchung mithilfe des Röntgenbildverstärkers als Hilfestellung bei der Entscheidung für oder gegen operatives Vorgehen gibt es keine Evidenz.

Entscheidung bei besonderen Begleitumständen in
allen Altersgruppen
(Zwingende Indikationen)

Neben den alters- und dislokationsgradabhängigen Indikationen gibt es noch eine Indikationsgruppe, die durch die Begleitumstände als OP-pflichtig definiert sind, und die der alters- und dislokationsgradabhängigen Indikationen übergeordnet ist. Es sind dies Frakturen wie Luxationsfrakturen, Headsplit-Frakturen, Serienverletzungen, offene und pathologische Frakturen sowie die nicht reponierbaren Schaftdislokationen > 50 % Schaftbreite.

Technik der konservativen Behandlung

Die konservative Behandlung wird oft fälschlich auch als Nichtbehandlung missverstanden. Die Einflussmöglichkeiten im Sinne einer Fragment-Manipulation sind limitiert und beschränken sich auf das distale Hauptfragment.

Schwerkraft: Die Schwerkraft ist ein wesentliches Behandlungselement und kann mit fixierbaren Handgewichten verstärkt werden. Wichtig dabei ist, dass der Zug durch das Gewicht des Arms nicht durch die Verbände (Gilchrist, Schultertasche) gemindert oder gar aufgehoben wird.

Proximale Rolle: Ein weiteres Element der Manipulation ist der Einsatz einer proximalen Rolle, die die Schafttranslation positiv beeinflussen kann (Abb. 5).

Abduktionsschiene: Ein Problem der konservativen Therapie ist, dass die Position des/der kurzen proximalen Hauptfragment(s) nur schwer beeinflusst werden kann. Eine Einflussnahmemöglichkeit besteht darin, das distale Hauptfragment dem proximalen nachzuführen. Bei Dislokation des Kopffragments im Varus kann versucht werden, durch eine Abduktionsschiene die Stellung zu optimieren und hier eine Heilung in anatomischerer Stellung zu erzielen (Abb. 6). Probleme dieser Therapie sind Tragekomfort und Compliance.

Ambulante Therapie: Die konservative Behandlung lässt sich grundsätzlich ambulant und auch sektorenübergreifend gut durchführen, soweit die Komorbidität dies erlaubt. Im eigenen Vorgehen werden über 80 % der konservativ behandelten Patienten mit proximaler Humerusfraktur ambulant behandelt. Wir gehen wie folgt vor (Tab. 3):

Unfalltag: Nach Untersuchung und bildgebender Diagnostik Information des Patienten über die möglichen und bevorzugten Behandlungsmethoden mit Vor- und Nachteilen auf Basis der vorhandenen Evidenz. Anlage eines Gilchristverbands, Freischneiden von Ellenbeuge und Hand, Information über Verhalten bei Schmerz, Unterarmstauung und bei Körperpflege.

Bei medialer Schaftdislokation > 50 % erfolgt eine geschlossene Reposition unter Analgesie oder Narkose [11], dann ist i.d.R. ein stationärer Aufenthalt erforderlich.

  • 1. Woche: Klinische Kontrolle (Tragekomfort? Einschnürungen? Stauchung durch Verband? Wie kommt der Patient zurecht? Schmerzrückgang? Information über Verhalten bei Schmerz und Körperpflege.
  • 2.–3. Woche: Nach einer Woche Wechsel auf Schultertasche für weitere 2 Wochen. Zur Körperpflege kann der Arm herausgenommen werden, Streckübungen im Ellbogen werden als angenehm empfunden. Nach der ersten Woche geben wir routinemäßig keine Schmerzmedikation. Keine Krankengymnastik, keine bewusste Eigenübungen, aber Info, dass alle schmerzfreien/schmerzarmen Bewegungskomponenten unkritisch sind. Der Patient beübt sich also selbst.
  • 3.–6. Woche: Durchführung von schmerzadaptierten Pendelübungen und selbstgeführte Bewegungen bis 90°. Verwendung der Schultertasche nach subjektivem Empfinden. Keine Krankengymnastik
  • 6.–12. Woche: Weglassen der Schultertasche. Durchführung schmerzadaptierter Dehnungsübungen in Eigenbeübung (Demo, Merkblatt), unterstützt durch Krankengymnastik. Stab und Umlenkrolle sind wichtige Übungsgeräte. Demonstration von Stretchingübungen, die der Patient in Eigenbeübung mehrfach täglich selbst durchführen soll (Abb. 7).

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

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