Übersichtsarbeiten - OUP 01/2016

Evidenzbasierte Therapie der proximalen Humerusfraktur3
Wann konservativ, wann operativ?When non-operative – when surgical treatment?

Obwohl die proximale Humerusfraktur eine der häufigsten Frakturen überhaupt ist, ist die Evidenzlage schlecht. Sie hat sich aber in den letzten Jahren insbesondere durch insgesamt 4 prospektiv randomisierte Studien aus Skandinavien und den Niederlanden deutlich verbessert.

Wir wissen, dass Alter, Dislokationsgrad, Frakturtyp und Komorbidität die Hauptprädiktoren für das Ergebnis sind. Während Alter, Frakturtyp und Komorbidität nicht beeinflusst werden können, lag es nahe, durch Osteosynthesen zu versuchen, den Dislokationsgrad zu verbessern und eine Ausheilung in anatomischer Stellung anzustreben. Dieses Ziel ist nach wie vor wünschenswert, aber nicht um jeden Preis. Winkelstabile Plattenosteosynthese und intramedulläre Stabilisierung haben die Erwartungen trotz massivem Werbeaufwand von Seiten der Industrie bislang nicht erfüllen können. Bei hohen Komplikations- (um 30 %) und Revisionsraten (um 20 %) konnte keine Verbesserung für den Patienten im Vergleich zur konservativen Therapie erreicht werden, im Gegenteil. Basierend auf der aktuellen Literatur ergibt sich heute ein ernüchterndes Bild. Trotz massiven Bemühungen der Industrie und trotz des Einsatzes ,moderner‘ Implantate mit immer noch mehr Verriegelungsmöglichkeiten liegt für die dislozierten proximalen Humerusfrakturen des älteren Patienten über 60 Jahre kein Nachweis von Vorteilen der operativen Therapie vor, der die hohen Komplikations- und Revisionsraten rechtfertigen würde. Dabei muss allerdings einschränkend berücksichtigt werden, dass lediglich randomisierte Studien mit Frakturprothesen vorliegen, nicht aber mit inversen Prothesen. Ebenfalls nicht berücksichtigt sind minimalinvasive Verfahren wie Humerusblock oder augmentierende Verfahren. Hier müssten zukünftige prospektiv randomisierte Studien ansetzen.

Operative und konservative Verfahren sind im funktionellen Ergebnis auch bei dislozierten Frakturen des Patienten über 60 Jahre ähnlich gut oder schlecht. Dieses nicht unterschiedliche Ergebnis ist aber im Fall der winkelstabilen Plattenosteosynthesen mit einer statistisch signifikant höheren Komplikationsrate behaftet, die in den meisten Studien um 30 % (20–50 %) liegt. Die aktuell vorliegenden Daten rechtfertigen die zurzeit äußerst großzügig gestellten OP-Indikationen beim älteren Patienten nicht. Der Satz „... If it looks normal, it works normally“, bestätigt sich am proximalen Humerus nicht in der Form, wie dies für die untere Extremität gelten mag.

Zwingende OP-Indikationen in allen Altersstufen sind Luxations- und Headsplit-Frakturen, offene Frakturen, die meisten pathologischen Frakturen und die nicht reponierbare Schaftdislokation > 50 % Schaftbreite.

Beim Patienten unter 60 Jahren sollten dislozierte Frakturen operiert werden. Undislozierte Frakturen werden konservativ behandelt. Die Schwierigkeit stellen die wenig dislozierten Frakturen dar, wo die OP-Indikation individuell gestellt und die Problematik mit dem Patienten besonders intensiv diskutiert werden sollte. Die Stabilitätsuntersuchung mit Hilfe des Röntgenbildverstärkers bringt keine Hilfestellung bei der Entscheidung für oder gegen operatives Vorgehen.

Gerade für den unter 60-jährigen Patienten brauchen wir mehr und bessere Daten. Hier muss verstärkt daran gearbeitet werden, gute Evidenz in Form von sorgfältig geplanten (Fallzahl, Nachuntersuchungszeitraum) prospektiv-randomisierten Studien zu generieren.

Konventionelle oder inverse Prothesen sind komplexen nicht rekonstruierbaren Frakturformen vorbehalten. Auch für die dislozierte 4-Teile-Fraktur des über 60-jährigen Patienten ist der statistisch begründete Nachweis der Überlegenheit der Frakturprothese gegenüber der konservativen Behandlung in 2 prospektiv randomisierten Studien nicht gelungen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit inverse Prothesenkonzepte hier besser abschneiden.

Interessenkonflikt: Keine angegeben.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Christian Krettek,
FRACS, FRCSEd,
Unfallchirurgische Klinik

Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover

Krettek.Christian@mh-hannover.de

Literatur

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