Übersichtsarbeiten - OUP 01/2019

Hüftschmerz im Kindesalter

Die Prognose einer neurologisch bedingten Hüftdysplasie ist wiederum komplett anders zu bewerten. Im Vordergrund stehen in der Mehrzahl Kinder mit einer infantilen Zerebralparese. Diesen Kindern und Jugendlichen fehlt die Fähigkeit zur muskulär balancierten Stabilisierung des Hüftgelenks. Die spontane Scherenstellung/Überkreuzung der Beine bei hohem Tonus der Hüftadduktoren oder die zunehmende Asymmetrie des Rumpfs mit Ausbildung einer sogenannten Windschlagdeformität, d.h. Lagerung des betreffenden Beins in Anspreizung und Innenrotation, sind frühe klinische Zeichen einer drohenden neuropathischen Hüftluxation (Abb. 5).

In der von Terjesen et al. [36] publizierten retrospektiven Analyse von 335 Kindern mit infantiler Zerebralparese lag das Risiko zur Entwicklung einer schweren neuropathisch bedingten Sub- oder Luxation eines Hüftgelenks mit 63 % am höchsten bei nicht gehfähigen Kindern mit einem hohen Schweregrad der zerebralen Schädigung. Die jährliche Progredienz der Dezentrierung des Hüftkopfs wurde mit 0,2 % bei Kindern mit leichter und mit 9,5 % bei Kindern mit schwerer zerebraler Schädigung berechnet. Andere retrospektiv erhobene Langzeitdaten zum Spontanverlauf einer neuropathischen Hüftluxation zeigen, dass 50 % der Jugendlichen mit einer neuropathisch sub- oder hochluxierten Hüfte innerhalb von 5 Jahren Beschwerden und Schmerzen entwickeln, die insbesondere die täglich erforderliche Pflege der Kinder und Jugendlichen erschweren. Während die beidseitige hohe Luxation keine Asymmetrie des Rumpfs nach sich zieht und damit teilweise lange unerkannt bleibt, resultiert aus der einseitigen hohen Luxation der Hüfte zwangsläufig eine Rumpfasymmetrie mit der Entwicklung einer schweren Skoliose. Diese beeinträchtigt die Stabilität bei dem Versuch einer Vertikalisierung und insbesondere die Sitzfähigkeit der Kinder und Jugendlichen [22, 30].

Ein Ziel der ambulanten Betreuung behinderter Kinder und Jugendlicher ist deshalb die regelmäßige klinische und radiologische Kontrolle der Hüftentwicklung (Screening) zur zeitnahen Erkennung einer drohenden Hüftdysplasie/-luxation und Einleitung geeigneter therapeutischer Maßnahmen.

Epiphyseolysis capitis
femoris (ECF)

Die ECF ist die häufigste Ursache für Hüftschmerzen in der Adoleszenz. Nur in 5 % der Fälle kommt es zu einer akuten oder akut auf chronischen Epiphysenlösung. Die Hüftschmerzen sind in diesen Fällen, ähnlich einer Schenkelhalsfraktur, sehr stark ausgeprägt. Die Kinder und Jugendlichen sind nicht mehr fähig zu stehen oder zu laufen. Anders verhält sich das Beschwerdemuster bei chronischen Formen einer Epiphysenlösung. Die Femurepiphyse gleitet in diesen Fällen chronisch, Schritt für Schritt, in eine dorsokaudale Richtung ab. Diese langsam schleichende Dislokation verursacht wiederholte Episoden von Leisten-, Oberschenkel- oder Knieschmerzen. Die klinische Untersuchung zeigt im Liegen ein spontan vermehrt nach außen rotiertes Bein (Abb. 6). Die passive Innendrehfähigkeit der betreffenden Hüfte ist im Seitenvergleich eingeschränkt bzw. aufgehoben. Das Drehmann’sche Zeichen, d.h. die forcierte Abduktion und Außenrotation bei Flexion in der Hüfte, ist im fortgeschrittenen Stadium positiv. Auch bei der Epiphyseolysis capitis femoris kann sonografisch in vielen Fällen durch die Darstellung eines intraartikulären Ergusses und Visualisierung der dorsalen Dislokation der Epiphyse schnell und einfach die Diagnose gestellt werden (Abb. 7). Die Anfertigung von Röntgenbildern der betreffenden Hüfte in 2 Ebenen ist obligat. Die MRT ist lediglich in den Fällen eines sehr früh beginnenden Abrutschens (ECF incipiens) ohne radiologisch eindeutig erkennbare Dislokation hilfreich. Die Signalalteration in der Epiphysenfuge selbst mit perifokalem Ödem angrenzender spongiöser Anteile der Epi- und Metaphyse zusammen mit dem Nachweis eines Gelenkergusses in der t2-gewichteten Sequenz sind Zeichen der beginnenden Epiphyseolyse.

Leider werden die genannten Hüft- oder Oberschenkelbeschwerden häufig als Muskelzerrung fehlgedeutet, was einerseits zur Verzögerungen in der Diagnosestellung und andererseits zum weiteren Fortschreiten der Dislokation der Epiphyse mit zum Teil deutlicher Erhöhung der Morbidität führt [6, 21]. Jeder Hüft-, Oberschenkel- oder Knieschmerz in der Adoleszenz sollte aus diesem Grund zum Ausschluss einer Epiphyseolysis capitis femoris einer gründlichen klinischen, sonografischen und radiologischen Untersuchung unterzogen werden. In Fällen, in denen die ECF nicht eindeutig ausgeschlossen werden kann, ist die Aufklärung der Familie über das Krankheitsbild mit kurzfristiger Kontrolluntersuchung, ggf. mit MRT der Hüfte, sinnvoll. Im Fall der Bestätigung einer ECF sollte sofort die stationäre Zuweisung in eine spezialisierte kinderorthopädische Abteilung erfolgen, da die Therapie einer Epiphyseolysis capitis femoris, unabhängig vom Schweregrad, immer eine operative Therapie ist.

Hüfterkrankungen ohne mehrheitlichen Altersbezug

Neben diesen zumeist intraartikulär lokalisierten Erkrankungen mit klarem Bezug zum Alter des Kindes oder Jugendlichen können andere intra- oder extraartikulär lokalisierte Pathologien oder Krankheitsbilder mit anatomischem Bezug zum Hüftgelenk Schmerzen auslösen. Nach Ausschluss einer initialen Verdachtsdiagnose müssen deshalb in zweiter Instanz auch seltene Erkrankungen unter Erweiterung des Fokus Hüfte abgeklärt werden. Sowohl überlastungs- bzw. traumainduzierte knöcherne Verletzungen (apophysäre Abrissfrakturen am Becken, Symphysitis) und Weichgewebeverletzungen (Muskelfaserriss, Labrumdegeneration, -ganglion) bei Leistungssportlern gehören zum erweiterten Spektrum einer Diagnostik „kindlicher Hüftschmerz“, als auch die juvenile idiopathische Arthritis (JIA), die chronisch rekurrierende multifokale Osteomyelitis (CRMO) sowie insbesondere benigne und maligne neoplastische Erkrankungen.

Neben der erweiterten bildgebenden Diagnostik mittels MRT sollte auch an die erweiterte Blutbilduntersuchung gedacht werden. Nicht selten ist die Angabe von Skelettschmerzen einer der initialen Hinweise für das Vorliegen einer leukämischen Erkrankung im Kindesalter. Mit Hilfe der Darstellung beider Hüftgelenke und des Beckens können in der MRT benigne und maligne Prozesse ausgeschlossen werden. Typische primär maligne Knochentumore im Kindes- und Jugendalter sind das Osteosarkom und das Ewing-Sarkom. Unter den benignen bzw. semimalignen neoplastischen Erkrankungen sind in erster Instanz Osteochondrome/Exostosen und Knochenzysten als Ursache von Hüftgelenkbeschwerden im Kindesalter zu nennen. Seltener sind das Osteoblastom im Hüftkopf oder das Osteoidosteom im Azetabulum, am Schenkelhals oder proximalen Femur lokalisiert. Die Diagnostik und Therapie bei allen diesen genannten Pathologien ist stets interdisziplinär und sollte an einem pädiatrisch rheumatologisch, onkologisch und kinderorthopädisch spezialisierten Zentrum erfolgen.

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