Übersichtsarbeiten - OUP 03/2022

Imminentes Frakturrisiko
Diagnostik und Therapie bei Patienten mit sehr hohem Risiko für osteoporotische Frakturen

Friederike Thomasius, Uwe Maus

Zusammenfassung:
Patienten mit sehr hohem Frakturrisiko zu identifizieren, ist für die Festlegung des geplanten therapeutischen Procederes wichtig. Um hohes Frakturrisiko zu erkennen, sind verschiedene klinische Szenarien, die oft im Zusammenhang mit einer kürzlich eingetretenen Fraktur stehen, zu erkennen und zu berücksichtigen. Der betrachtete Zeithorizont ist entscheidend bei der Definition imminenten Frakturrisikos, der in den meisten Studien das Frakturrisiko über einen Zeitraum von 2 Jahren umfasst. Insgesamt führt nur eine kleine Anzahl klinischer Risikofaktoren zu einer kurzfristig wesentlich stärkeren Frakturrisikoerhöhung als langfristig. Beispiele hierfür sind eine frühere Fraktur, „Indexfraktur“, der eine Phase deutlich erhöhten Frakturrisikos unmittelbar nach dem Indexereignis folgt und eine hochdosierte Kortikosteroidtherapie. Zur Festlegung des therapeutischen Vorgehens ist zudem zu beachten, dass Risikofaktoren, die mit einem höheren kurzfristigen Risiko verbunden sind, das Frakturrisiko auch langfristig deutlich erhöhen. Je höher das Frakturrisiko ist, desto wahrscheinlicher ist eine Fraktur in den nächsten Jahren und desto dringender ist ein hochwirksamer und schnell wirkender Therapieansatz erforderlich. Dies ist insbesondere mit einem osteoanabolen Therapieansatz gegeben.

Schlüsselwörter:
Imminentes Frakturrisiko, Fraktur-Osteoporose, Osteoanabole Therapie, Folgefrakturrisiko

Zitierweise:
Thomasius F, Maus U: Imminentes Frakturrisiko. Diagnostik und Therapie bei Patienten mit sehr hohem Risiko für osteoporotische Frakturen.
OUP 2022; 11: 0106–0110
DOI 10.53180/oup.2022.0106-0110

Summary: Identifying patients at very high risk of fracture is important for determining the planned therapeutic procedure. To identify high fracture risk, different clinical scenarios, often related to a recent fracture, need to be recognized and considered. The time horizon considered is critical in defining imminent fracture risk, which in most studies includes fracture risk over a two-year period. Overall, only a small number of clinical risk factors lead to a much greater increase in fracture risk in the short term than in the long term. Examples include a previous fracture, „index fracture“, which is followed by a period of significantly increased fracture risk immediately after the index event and high-dose corticosteroid therapy. To determine the therapeutic approach, it should also be noted that risk factors associated with higher short-term risk also significantly increase fracture risk in the long term. The higher the fracture risk, the more likely a fracture will occur in the next few, and the more urgent the need for a highly effective and fast-acting therapeutic approach. This is especially provided by an osteoanabolic therapeutic approach.

Keywords: Imminent fracture risk, fracture, osteoporosis, osteoanabolic therapy, follow-up fracture risk

Citation: Thomasius F, Maus U: Imminent fracture risk. Diagnosis and therapy in patients at very high risk for osteoporotic fracture.
OUP 2022; 11: 0106–0110. DOI 10.53180/oup.2022.0106-0110

Friederike Thomasius: Frankfurter Hormon & Osteoporosezentrum

Uwe Maus: Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Düsseldorf

Hintergrund

Die Osteoporose gehört zu den häufigsten Erkrankungen im Alter > 50 Jahre. Jede zweite Frau erleidet nach dem Eintritt der Menopause eine Fragilitätsfraktur bis zum Lebensende [1]. Das Risiko, eine durch Osteoporose bedingte Fraktur nach der Menopause innerhalb eines Jahres zu erleiden liegt damit höher, als die zusammengenommenen Risiken für Myokardinfarkt, Schlaganfall und Mammakarzinom [2]. Osteoporose ist aber keine auf Frauen begrenzte Erkrankung, auch Männer sind betroffen. Für Deutschland belegen Daten des statistischen Bundesamtes, dass im Jahr 2019 insgesamt 688.403 Frakturen registriert wurden. Dies zeigt im Vergleich zu 2009 eine Zunahme der Inzidenz um 14 % auf 1014/100.000 Einwohner. Frauen waren häufiger betroffen als Männer (64 %, 1263/
100.000 weibliche Bevölkerung gegenüber 36 %, 755/100.000 männliche Bevölkerung). Neunundfünfzig Prozent aller Frakturen (3059/100.000 Einwohner) traten bei Patienten im Alter von über 70 Jahren auf. Die höchste Inzidenz war bei Frauen in der Altersgruppe über 90 Jahre mit 10 286/100.000 weiblichen Einwohnern, gefolgt von Männern in der Altersgruppe über 90 Jahre mit 4999/
100.000 männlichen Einwohnern [3]. Diese Entwicklung der zunehmenden Inzidenzen wurde bereits aus Krankenkassendaten 2013 prognostiziert, damals mit der Vorhersage, dass 885.000 neue Fälle pro Jahr in ganz Deutschland zu erwarten sind [4]. Diese Inzidenzzahlen belegen die Notwendigkeit eines effektiven Vorgehens in der Frakturrisikosenkung. Imminentes Frakturrisiko ist ubiquitär vorhanden und mit dem Alter zunehmend.

Was neben der zunehmenden Zahl von Frakturen hervorzuheben ist, ist die immense, weiterhin bestehende Behandlungslücke. In der EU27+2 wurden 71 % der Frauen (15 von 21 Mio.) mit erhöht liegendem Frakturrisiko als unbehandelt identifiziert [5], in einer Studie aus dem Jahr 2020 wurde diese therapeutische Lücke für Deutschland mit 91 % beziffert [6]. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Einem Bericht der Internationalen Osteoporosis-Foundation zufolge betreffen diese Fallfindung und -Management, mangelndes öffentliches Bewusstsein (Stichwort: Awareness) inklusiver falscher Vorstellungen über das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer Behandlung sowie Probleme innerhalb des Gesundheitssystems (z.B. Schwierigkeiten beim Zugang zur Kostenerstattung für Osteoporosebehandlungen und mangelnde Priorisierung der Frakturprävention in der nationalen Gesundheitspolitik) [7].

Während es eindeutig ein großes Problem ist, eine adäquate Versorgung in der Behandlung der Osteoporose zu erreichen, liegen auf der anderen Seite immer mehr Studien zur Optimierung der Therapie von an Osteoporose Erkrankten vor. Eine Stratifizierung der Behandlung nach dem Ausgangsfrakturrisiko könnte es ermöglichen, die wirksamsten Behandlungen auf die Patient*innen mit dem höchsten Frakturrisiko auszurichten [8]. Eine solche Strategie würde dazu beitragen, die derzeitige Behandlungslücke zu schließen und den Nutzen für die am meisten gefährdeten Personen zu maximieren.

Hochrisikosituationen und imminentes Frakturrisiko

Hochrisikosituationen

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