Übersichtsarbeiten - OUP 06/2016

Integrationsversorgung für Patienten mit Rückenschmerzen
Daten aus dem IGOST-FPZ-KonzeptEvaluation of a concept developed by IGOST and managed by FPZ

Gabriele Lindena1, Martin Strohmeier2, Raimund Casser3

Zusammenfassung: Von der IGOST (Interdisziplinäre Gesellschaft für orthopädische/unfallchirurgische und allgemeine Schmerztherapie) wurden Leitlinien mit einer körperlichen Untersuchung und einem psychosozialen Risikoscreening zur Steuerung von Patienten mit Rückenschmerzen in Versorgungsebenen mit Hilfe von FPZ (Forschungs- und Präventions-Zentrum) umgesetzt. Von 6431 Patienten wurden 0,2 % mit körperlich bedrohlichen Hinweisen (red flags), 7,8 % mit Warnhinweisen auf Erkrankungen identifiziert. 40,9 % der Patienten hatten problematische Werte im psychosozialen Risikoscreening. 8,7 % der Patienten blieben in Ebene 1, 46,4 % wurden in Ebene 2 weitergeleitet, weitere 7,2 % danach weiter in Ebene 3, 29,6 % kamen von Ebene 1 auf 3. Auf allen Versorgungsebenen ließen sich die Schmerzen klinisch relevant lindern. Patienten mit Rückenschmerzen lassen sich effektiv steuern, wenn Untersuchungs- und Screeninginstrumente sowie die Versorgungsebenen ausgestaltet und verfügbar sind.

Schlüsselwörter: Rückenschmerzen, Versorgungsebenen,
Versorgungssteuerung, Risikofaktoren

Zitierweise
Lindena L, Strohmeier M, Casser R: Integrationsversorgung für
Patienten mit Rückenschmerzen. Daten aus dem IGOST-FPZ-Konzept. OUP 2016; 6: 379–387 DOI 10.3238/oup.2016.0379–0387

Summary: An IGOST- (Orthopedic Pain Management Association) FPZ- (Research and Prevention Centre) project implemented low back pain guidelines using physical exploration and psychosocial risk factor screening for care management pathways.

0.2 % of 6431 patients showed threatening somatic signs (red flags), 7.8 % warning orange flags. 40.9 % of 5905 patients without these somatic signs showed poor prognostic values in psychosocial screening. 8.7 % of the patients stayed in care management level 1, 46.4 % were assigned to level 2, additional 7.2 later on to level 3, 29.6 % were directly transferred from level 1 to 3. In all levels pain was reduced in a clinically relevant manner. Patients with low back pain may be sent in pathways effectively. Tools of physical examination and psychosocial screening should be developed further as well as pathways and levels of treatment intensity and content.

Keywords: Low back pain, care levels, care management, risk factors

Zitierweise
Lindena G, Strohmeier M, Casser R: Integrative care for patients with low back pain. Evaluation of a concept developed by IGOST and managed by FPZ.
OUP 2016; 6: 379–387 DOI 10.3238/oup.2016.0379–0387

Einleitung

Integrierte Versorgungsprojekte haben zum Ziel, die Koordination zwischen den Leistungsträgern zu verbessern und damit die Versorgung der Patienten effektiver und ggf. auch kostengünstiger zu gestalten. Rückenschmerzen stellen ein großes medizinisches und gesundheitsökonomisches Problem dar [1, 2]. Es sind sehr viele Menschen betroffen [3] und es gibt eine Vielzahl an körperlichen und psychosozialen Risikofaktoren für das Auftreten und die Aufrechterhaltung von Rückenschmerzen [4]. Leitlinien werden nicht umgesetzt: Risikofaktoren müssten frühzeitig erkannt und die Patienten ihrem Bedarf entsprechend versorgt werden [5]. Die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz NVL legt großen Wert auf die Versorgungskoordination [4].

Das IGOST-FPZ-Konzept wurde von der Interdisziplinären Gesellschaft für orthopädische/unfallchirurgische und allgemeine Schmerztherapie (IGOST e.V.) 2004 initiiert. Das Forschungs- und Präventionszentrum (FPZ) setzte dieses Konzept seit 2006 in Verträgen nach § 140 SGB V überregional um [6]. Es bezieht 3 Versorgungsebenen ein und orientiert sich am Gesundheitspfad Rückenschmerz der Expertenrunde bei der Bertelsmann Stiftung (GPRS) [7]. Ein frühzeitiges Screening auf psychosoziale Risikofaktoren (yellow flags) und die Untersuchung auf bedrohliche Erkrankungen (red flags) und ggf. weitere Klärung körperlicher Hinweise (in diesem Projekt orange flags genannt) sollte dem Erstversorger in Ebene 1 ermöglichen, die Patienten bedarfsgerecht zu steuern. Patienten ohne „flags“ sollten in Ebene 1 behandelt werden, Patienten mit orange flags zu Fachärzten in Ebene 2 zur weiteren Diagnostik geleitet werden, solche mit yellow flags in Ebene 3, um dort eine interdisziplinäre multimodale Diagnostik und Therapie zu erhalten. Zu einer solchen Vorgehensweise gibt es bisher wenige patientenbezogene Daten. Ein ebenfalls auf alle Versorgungsebenen für Patienten mit Rückenschmerzen ausgelegtes hausarztbasiertes Konzept der AOK Baden-Württemberg hat zwar viele Hausärzte einbezogen, wurde aber nicht patientenbezogen evaluiert.

Das IGOST-FPZ-Konzept war überregional verbreitet und verfügte über eine strukturierte patientenbezogene Datensammlung. Die folgende Arbeit beschreibt die in das Projekt eingeschlossenen Patienten sowie deren Steuerung und betrachtet die Lehren aus dem Projekt.

Methoden

Das Projekt startete 2006, in diese Auswertung wurden Daten von Patienten einbezogen, die bis 31.12.2008 eingeschlossen worden waren.

Patienten und Behandlungspfade

Patienten mit Rückenschmerzen wurden bei den teilnehmenden Ärzten nach ihren Schmerzen befragt, auf psychosoziale Risikofaktoren gescreent (yellow flags) und körperlich untersucht (red und orange flags). Sie wurden entsprechend den Ergebnissen durch die Versorgungsebenen geleitet (s. Abb.1).

  • 1. Patienten ohne „flags“ sollten in Ebene 1 behandelt und erst nach 4 Wochen bzw. 2 Wochen bei Arbeitsunfähigkeit an die 2. Ebene übergeben werden, wenn sich die Rückenschmerzen nicht besserten.
  • 2. Bei Hinweisen auf bedrohliche Ursachen der Rückenschmerzen (red flags) sollten die Patienten unmittelbar einer weiteren klinischen Diagnostik zur Abklärung und Behandlung überantwortet werden.
  • 3. Bei Warnhinweisen auf körperliche, aber nicht bedrohliche Ursachen (orange flags) sollten die Patienten im regionalen Netz in die 2. Versorgungsebene zur weiteren Diagnostik und Behandlung überwiesen werden.
  • 4. Bei moderaten Warnhinweisen auf psychosoziale Risikofaktoren (Gruppe C im HKF R10) sollten die Patienten ebenfalls in Ebene 2 übermittelt werden.
  • 5. In Ebene 2 war eine Aufnahme in ein FPZ-Trainingsprogramm möglich.
  • 6. Bei Warnhinweisen auf psychosoziale Risikofaktoren (yellow flags, Gruppen D und E im HKF R10) sollten die Patienten in der 3. Ebene eine bio-psycho-soziale Diagnostik und Therapie erhalten.

Patienten mit „flags“ wurden den betreffenden Gruppen hierarchisch zugeordnet. Wenn Patienten red und orange flags hatten, wurden sie den red flags, solche mit orange und yellow flags den mit orange flags zugeordnet. Patienten in der Gruppe mit yellow flags hatten diese ausschließlich.

Projektsteuerung

Im Vorfeld wurde von der IGOST zusammen mit der Universität Heidelberg ein Screeningbogen für Patienten mit Rückenschmerzen entwickelt, der Heidelberger Kurzfragebogen (HKF R10) [8], um psychische und soziale Faktoren einer Chronifizierung frühzeitig zu erkennen. Alle teilnehmenden Ärzte sollten das IGOST-Curriculum der orthopädischen Schmerztherapie absolvieren, die verantwortlichen Ärzte der 3. Ebene mussten sich der Rezertifizierung durch die IGOST unterziehen.

Der Vertragspartner FPZ unterhält regional physio- und sporttherapeutisch geleitete Zentren zur Trainingstherapie, die ab der 2. Ebene in die Therapie einbezogen werden konnten. Allgemeinärzte und Fachärzte konnten zusammen mit einem FPZ-Zentrum ein regionales Netz gründen oder einem bestehenden regionalen Netz beitreten. Sie nahmen an einer einführenden Schulung teil und besuchten 2 regionale sowie ein zentrales Treffen pro Jahr, eine Nachschulung war alle 2 Jahre angesetzt. Die Ärzte wurden einer Versorgungsebene zugeordnet und von den anderen Ebenen angesteuert. Sie übernahmen die Patienten zur definierten Versorgung in einem Zeitfenster und dokumentierten online in vereinbarten Dokumenten nach inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben.

Vertragsabschluss und -verwaltung mit Krankenkassen erfolgten über die FPZ GmbH, die auch die teilnehmenden Ärzte vertraglich einband. Für die Abrechnung beauftragte das FPZ eine Dienstleistungsgesellschaft (PRIA GmbH). Die meisten Netze lagen in NRW, die meisten regionalen Vertragsabschlüsse erfolgten mit der Gmünder Ersatzkasse GEK, heute Barmer GEK.

Dokumentationsinstrumente und Datenerfassung

Als Dokumentationsgrundlage dienten 2 Patientenfragebögen zu den aktuellen Schmerzen und Beschwerden sowie zu psychologischen Risikofaktoren (der Heidelberger Kurzfragebogen HKF R10 [8]), die zu jedem ersten Termin in einer Versorgungsebene ausgefüllt werden sollten. Zusätzlich gab es jeweils einen Befundbogen des Arztes, der in den Versorgungsebenen 2 und 3 vor allem in Bezug auf die körperliche Untersuchung ausführlicher war als in Ebene 1. In Ebene 3 war Psychotherapie im Bogen nicht vorgesehen, sollte aber nach Befunderhebung ermöglicht werden. Im FPZ-Zentrum wurden ein körperlicher Befundbogen zu Beginn, therapeutische Maßnahmen und die wahrgenommenen Termine im Verlauf dokumentiert.

Die Daten wurden von den Projektpartnern der Versorgungsebenen in ein internetbasiertes Dokumentationsprogramm eingegeben. Datenerhebung und Befunddokumentation wurden vom FPZ überwacht und im Auftrag der IGOST von CLARA ausgewertet.

Datenauswertung

Die Auswertung erfolgte deskriptiv in SPSS (Statistical package for the social sciences, Version 18). Die Versorgungsgruppen werden nicht verglichen. Unterschiede zwischen Ausgangs- und Abschlusssituation wurden auf klinische Relevanz geprüft. An 9455 aufbereitete Datensätze von Patienten im IV-Projekt aus dem Zeitraum 01.04.2006 bis 28.05.2008 wurden zur Auswertung folgende Anforderungen gestellt:

Die Patienten starteten mit einer Aufnahme in Ebene 1 (–947 Quereinsteiger).

Das IV-Projekt war als beendet angegeben (–1790 ohne Abschlussdokumentation).

Die Patienten wurden in den 22 größten Netzwerken mit jeweils mehr als 100 Patienten versorgt (–287 aus kleinen Netzwerken).

Damit wurden die Datensätze von 6431 Patienten ausgewählt, auch wenn Angaben fehlten.

Jeder Datensatz galt für einen Patienten, für den sich die Daten im Verlauf des Projekts ergänzt hatten. Eine Auswertung über diesen Zeitraum wurde vom FPZ als Broschüre „IV Rückenschmerz“ herausgegeben [6].

Die Daten wurden nach folgenden Gesichtspunkten ausgewertet:

  • 1. Patientenebene: Beschreibung der Patienten, Prozesse des Screenings und des Weiterleitens in die Versorgungsebenen
  • 2. Projektebene: Versorgungsstrukturen
  • 3. Prozessebene: Therapieangebote in den Versorgungsebenen
  • 4. Patientenbezogene Ergebnisse: Behandlungsdauer, Schmerzen und Abschluss

Ergebnisse

1. Patientenebene

a) Demografie und Diagnosen (Tab. 1) bei Einschluss (Beginn der Dokumentation in Ebene 1)

Weniger als die Hälfte der 6431 Patienten (43,9 %) war männlich und im Mittel 48,4 Jahre alt, die 3529 (54,9 %) weiblichen Patienten 47,2 Jahre, in 137 (2,1 %) Fällen fehlte die Angabe zum Geschlecht. 1232 (20,2 %) Patienten waren berentet, davon 116 unter 60 Jahre alt. 77,9 % der Patienten waren erwerbstätig, 14,1 % arbeitsunfähig und 3,6 % hatten einen Rentenantrag gestellt. Mit 45,1 % hatten die meisten Patienten eine M54-Diagnose (Rückenschmerzen), 7,3 % M51 (Bandscheibenschäden) und 6,5 % M47 (Spondylose). Alle anderen Diagnosen waren zu jeweils unter 1 % vertreten.

b) Schmerzen (Tab. 2)

Die Schmerzintensität aller Patienten war zu Beginn unter Belastung (5,9 ± 2) deutlich höher als in Ruhe (3,4 ± 2,1), die von den Patienten angestrebte Schmerzintensität lag unter 1 in einer 11-stufigen Skala von 0–10. Die Dauer der Rückenschmerzen lag im Mittel bei 7,7 ± 9,1 Jahren, 80 % der Patienten hatten eine Schmerzdauer von mehr als 6 Monaten, die Schmerzen waren nach dem zeitlichen Kriterium als chronisch zu bezeichnen.

c) Körperlicher Befund und Risikofaktoren für eine Chronifizierung (Tab. 2)

Die Ärzte gaben bei 15 (0,2 %) Patienten körperlich bedrohliche Hinweise (red flags) an, bei 511 (7,8 %) Warnhinweise auf Erkrankungen (orange flags). Diese „flags“ wurden in allen Ebenen gefunden. Für 5905 (91,8 %) Patienten wurden keine red oder orange flags angegeben. Psychosoziale Risikofaktoren wurden durch die Ärzte bei 25,6 % der Patienten gesehen.

d) Gruppen in Versorgungsebenen

Die Patienten wurden nach ihrer Leitung durch die Versorgungsebenen eindeutigen Gruppen zugeordnet. Von 6431 Patienten wurden 15 (0,2 %) mit körperlich bedrohlichen Hinweisen (red flags) und 511 (7,8 %) mit Warnhinweisen auf Erkrankungen (orange flags) identifiziert. Von 5905 Patienten ohne red oder orange flags blieben 560 (8,7 %) in Ebene 1 (Gruppe 1), 2982 (46,4 %) Patienten schlossen auf Ebene 2 ab (Gruppe 1–2). 1901 (29,6 %) Patienten wechselten von Ebene 1 auf 3 (Gruppe 1–3) und 462 (7,2 %) Patienten durchliefen alle Versorgungsebenen (Gruppe 1–2–3).

e) Steuerung der Patienten nach dem psychosozialen Risikoscreening (Tab. 3)

Von 5905 Patienten ohne orange oder red flags hatten 1374 (23,3 % dieser Ausgangsgruppe) einen als unproblematisch angesehenen HKF-Wert A oder B im HKF R10. Von diesen Patienten blieben 120 in Ebene 1; 1145 wurden ggf. nach einer Zeit ohne Besserung der Beschwerden auf Ebene 2 weitergeleitet, 21 direkt auf Ebene 3 und 88 über Ebene 2 nach 3.

2117 Patienten waren in der Zwischengruppe HKF C, davon wurden 1.755 (83 %) entsprechend dem vereinbarten Patientenpfad nach Ebene 2 und 186 (8,8 %) später noch nach Ebene 3 geleitet.

Von 2414 Patienten (40,9 % des Ausgangskollektivs ohne orange oder red flags, aber mit problematischen Werten D und E im HKF R10) blieben 11,5 % in Ebene 1; 77,2 % wurden entsprechend den Projektvorgaben in Ebene 3 weitergeleitet, weitere 7,7 % über Ebene 2 nach 3.

2. Projektebene: Versorgungsstrukturen

In 22 Netzen wurden zwischen 71 bis 879 Patienten durch das IV-Projekt geleitet. Die Netze unterschieden sich nach der Anzahl der tätigen Ärzte (Mittelwert: 17), der Anzahl der Krankenkassen als Vertragspartner (Mittelwert: 15) und nach ihrem Alter seit dem Gründungsdatum (Mittelwert: 623 Tage).

Die meisten Patienten waren bei der GEK versichert (33,4 %), gefolgt von der BKK Barmag (17 %), BKK Bergisches Land (7,3 %) und der BKK Rheinland (5,4 %). Alle anderen Krankenkassen waren mit weniger als 5 % der Patienten vertreten.

3.

Prozessebene: Therapieangebote in den Versorgungsebenen (Abb. 2)

In Versorgungsebene 1 erhielten 60,2 % der Patienten Medikamente, 56 % eine physikalische Behandlung, 4,4 % Entspannungstherapie und 0,9 % ein FPZ-Programm. In Versorgungsebene 2 wurde das FPZ-Konzept bei 92,1 % der Patienten und in Ebene 3 bei 86,9 % der behandelten Patienten eingeleitet. Zusätzlich wurde physikalische Therapie in den Ebenen 2 und 3 jeweils bei etwa einem Drittel der Patienten dokumentiert, Entspannungstherapie stieg von einem Patientenanteil von 4,4 % in Ebene 1 über 7 % in Ebene 2 auf 10 % in Ebene 3.

4. Patientenebene: Behandlungsdauer, Schmerzen und Abschluss

Im Mittel waren die Patienten 53,7 Tage im IV-Programm. Je nach Steuerung durch die Ebenen unterschied sich die Versorgungsdauer mit der kürzesten Gesamtdauer, wenn die Patienten in Ebene 1 blieben (25,1 Tage), und der längsten mit insgesamt 95,4 Tagen bei Gruppe 1–2–3 (Abb. 3).

Die Ausgangswerte der Schmerzintensität lagen bei Belastung deutlich höher als in Ruhe. Bei Abschluss einer Ebene lag die Schmerzintensität jeweils unter den Werten der vorhergehenden Ebene bei den Patienten, die weitergeleitet wurden. Abb. 4 beschreibt die sehr ähnliche Ausgangslage der Patienten in den Versorgungsgruppen und die Linderung der Schmerzen in jeder Gruppe, allerdings nicht unter den zuvor genannten Zielwert um 1. Die Unterschiede zwischen Ausgangs- und Abschlusssituation sind jedoch klinisch relevant.

Diskussion

Leitlinien und Integrationsversorgung

Das Modell der Versorgungsebenen entspricht dem im Gesundheitspfad GPRS [7] und in der NVL [4]. Dort gefährden Lücken in der konkreten Ausgestaltung die Umsetzung in den Praxisalltag [9], beispielsweise dadurch, dass es keine eindeutige Empfehlung für ein Screening gibt und kein validiertes Screeninginstrument zur Diagnostik psychosozialer Risikofaktoren anerkannt wird. Der HKF R10 ist ein in Deutschland evaluiertes Instrument [8]. Zudem gibt es inhaltliche und zeitliche Vorgaben („4 Wochen lang keine Bildgebung, dann ggf. weitere Diagnostik“), die, obwohl in den Leitlinien enthalten, nicht umgesetzt werden [9, 10] oder zwischen den Leitlinien differieren und damit ihre Befolgung erschweren.

Die Integrationsversorgung kann durch weitere Ausgestaltung und deren Erprobung helfen, Leitlinien zu implementieren und so die Versorgung verbessern [11]. Es gibt allerdings für dieses Projekt zum Vergleich nur wenige Daten aus der Regelversorgung und nur begrenzt Daten aus der Integrationsversorgung. Für die 3. Ebene können gut belegte Therapiekonzepte (Göttinger Rücken-Intensiv-Programm GRIP [12]), einzelne Einrichtungen der Regelversorgung [13] und IV-Projekte mit Evaluation [14] zum Vergleich herangezogen werden.

Im IGOST-FPZ-Konzept wurden alle Versorgungsebenen einbezogen und bundesweit regionale Netze gebildet. Viele Patienten hatten seit längerer Zeit Rückenschmerzen, sodass die Leitlinienempfehlungen zur Vorgehensweise bei akuten Rückenschmerzen auf deren Situation übertragen werden mussten. Der im Projekt geplante Ablauf erscheint auch für Patienten mit rezidivierenden oder teilweise schon chronifizierten Rückenschmerzen als sinnvoll und praxisnah, ggf. mit einer zügigeren Weiterleitung nach dem Screening.

Screeningverfahren

Es ist unstrittig, dass Patienten frühzeitig auf Risikofaktoren untersucht und die im psychosozialen Bereich Auffälligen unter ihnen ggf. eine intensivere Therapie erhalten sollen [4]. Da es zu Beginn des Projekts zunächst kein einfach zu handhabendes Screeninginstrument gab, wurde der Patientenfragebogen HKF R10 aus der Kenntnis und Wertigkeit anderer Instrumente [15] entwickelt [8]. Alle Patienten hatten HKF R10-Werte zu Beginn von Ebene 1 und oft auch bei Wechsel in die anderen Ebenen und scheinen das Instrument zu akzeptieren.

Inzwischen wurde der HKF R10 mit der deutschen Version Örebro Musculoskeletal Pain Questionnaire (ÖMSPQ) verglichen und in allen 3 Versorgungsebenen ein höherer Anteil von Patienten mit psychosozialen Risikofaktoren identifiziert [16]. Nach einem Vergleich mit weiteren Instrumenten wurde dem ÖMSPQ in der ersten Versorgungsebene eine zufriedenstellende Konstrukt- und prognostische Validität attestiert [17]. Beide Instrumente sind eher zu lang für die erste Versorgungsebene, tragen aber den vielfältigen Risikofaktoren Rechnung. Ein neues Instrument mit nur 6 Fragen reicht möglicherweise für die Steuerung des ersten Versorgungsschritts bei akuten Rückenschmerzen aus [18].

Der Anteil an Patienten von mehr als 40 % in den Gruppen D und E mit psychosozialen Risikofaktoren für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen lag höher als die gleichzeitig erhobenen Arztangaben. In dieses Projekt wurden sehr viele Patienten mit einer sehr langen Schmerzdauer eingeschlossen. Von daher erscheint der Anteil der Risikofaktoren nicht zu hoch, wenn man die Patienten der Gruppen D und E betrachtet. Als Screeninginstrument gibt der HKF R10 Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit einer Chronifizierung und erfordert dann eine multimodale Diagnostik, besondere Beachtung bei der Auswahl von Therapieverfahren und im Umgang mit den betreffenden Patienten. In der konkreten Untersuchung und Versorgung werden weitere Gesichtspunkte zur Entscheidung über das Vorgehen ergänzt.

Die Häufigkeit von red flags lag mit deutlich < 1 %, die von orange flags mit < 8 % im Bereich der Erwartungen. Allerdings sind diese red und hier abgegrenzt orange flags für die Erstuntersuchung ebenfalls relevant und bearbeitungsbedürftig [19, 20]. Das Konzept der körperlichen Faktoren müsste im weiteren Verlauf von Rückenschmerzen geprüft werden, u.a. wenn gleichzeitig auch yellow flags vorliegen.

Versorgungskonzept

Nach der körperlichen Untersuchung und dem psychosozialen Screening sollten die Patienten entsprechend den Ergebnissen nach inhaltlichen und zeitlichen Gesichtspunkten durch die Versorgungsebenen geleitet werden. Dabei ist zu beachten, dass Patienten nach individuellen Gesichtspunkten nach Beginn ihrer Rückenschmerzen einen Arzt aufsuchen und diese schon beim ersten Besuch nicht mehr akut sein können.

Nur 8,7 % aller Patienten blieben in Ebene 1, davon etwa die Hälfte mit (trotz) yellow flags. 31,6 % der Patienten mit yellow flags „sprang“ wie vorgesehen von Ebene 1 auf 3. Aber 2900 (49,1 %) Patienten gingen ohne flags oder aus der Zwischengruppe von Ebene 1 auf 2. Die Weiterleitung auf Ebene 2 könnte durch das Angebot des FPZ bei Patienten und Ärzten induziert worden sein, wenn Patienten sich eine solche Trainingstherapie wünschten. Andererseits kann sie länger dauernden Schmerzen und vorangegangenen Therapieversuchen ohne Besserung geschuldet sein.

Das Konzept sah vor, dass sich ein Facharzt bei dem ersten Besuch eines Patienten mit Rückenschmerzen wie in der 1. Ebene verhalten muss. Patienten, die für ihren ersten Besuch einen Orthopäden auswählen, unterscheiden sich von Patienten, die zunächst einen Hausarzt/Allgemeinmediziner aufsuchen, Orthopäden verhalten sich anders als Allgemeinmediziner [21]. Aus den Daten ist nicht unmittelbar zu erkennen, wie stark Orthopäden in der 1. Ebene vertreten waren.

Es wurde nicht erfasst, ob in den teilnehmenden Praxen alle Patienten mit Rückenschmerzen das Aufnahmeverfahren zum IV-Projekt durchliefen, ob ggf. Patienten eine Teilnahme verweigerten.

Bei psychosozialen Risikofaktoren sollten die Patienten in Ebene 3 eine gezielte Behandlung erfahren. Die Ausgestaltung der Ebene 3 ist nach der Datenanalyse unzulänglich. Wenn sich 2. und 3. Ebene kaum unterscheiden, scheint es sowohl an der theoretischen wie praktischen Umsetzung als auch an der Dokumentation von z.B. psychotherapeutischen Aspekten für Patienten mit psychosozialen Risikofaktoren zu fehlen. Es ist daher fraglich, ob die Weiterleitung auf Ebene 3 als solche bewertet werden kann. Generell scheinen in der 3. Ebene Definition und Versorgungsangebote zu fehlen. Inzwischen wurde der Begriff der multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie weiter erläutert [22, 23], die Diagnostik [24] und Therapie [25] mit Ziel und Methoden beschrieben.

Alle Versorgungsebenen können mit den Erfahrungen aus diesem Projekt ausgestaltet und u.a. das Dokumentationsinventar weiter entwickelt werden. Z.B. können die für die 3. Ebene bereits vorliegenden Dokumentationsanforderungen und Instrumente aus der Kerndokumentation und Qualitätssicherung KEDOQ-Schmerz [26] genutzt und für die Versorgungsebenen 1 und 2 angepasst werden. Patienten können dann unter Beachtung der aktuellen Qualitätsanforderungen gezielt nach ihren Risikofaktoren in abgestufter Intensität behandelt werden [27–29].

Ziele des Versorgungskonzepts

Die Zielgröße einer guten Versorgung ist zunächst die Linderung der Schmerzintensität auf allen Versorgungsebenen. Dieses Ziel wurde in der jeweiligen Versorgungsgruppe erreicht. Weitere Ziele sind in den Ebenen verschieden, in der ersten Versorgungsebene steht ein Ziel „Arbeitsfähigkeit“ bei insgesamt seltener Arbeitsunfähigkeit nicht im Vordergrund. Sekundärprophylaktische Ziele sind in einem begrenzten Zeitraum von maximal einem Vierteljahr schwer nachzuweisen. Die Patientenzufriedenheit als Ziel wurde nicht gesondert erfasst. Projektbezogene Ziele wie das Screening lassen sich umsetzen. Aber die risikoadaptierte Therapie bei psychosozialen Risikofaktoren in Versorgungsebene 3 muss auch vorgehalten werden.

Schlussfolgerung

Das IV-Projekt ist das einzige, das alle Patienten mit Rückenschmerzen aus dem ambulanten Versorgungsalltag umfasst und bundesweit Informationen aus den Versorgungsebenen liefert. Es zeigt, dass neben der körperlichen Untersuchung ein psychosoziales Screening bereits beim Erstkontakt eines Patienten mit Rückenschmerzen möglich ist und akzeptiert wird. In Ergänzung zu den LL bedeutet dies einen wertvollen Zeitgewinn von mehreren Wochen, der Patienten frühzeitig einer Diagnostik und der daraus folgenden medizinischen Versorgung zuführen lässt. Ein solches Vorgehen richtet sich sowohl an die Patienten – bei Verfügbarkeit von ihrem Befund entsprechendem Therapieangeboten – als auch an die Versorger, denen ein strukturierter Ablauf für Diagnostik und Therapie angeboten wird.

Die teilnehmenden Versorgernetze zeigten ihre Änderungsbereitschaft gegenüber der viel diskutierten Regelversorgung für Patienten mit Rückenschmerzen. Sie übersetzten die Leitlinien in den Versorgungsalltag und boten diese Leistungen ihren Patienten (Versicherten der betreffenden Krankenkassen als Vertragspartner) an. Krankenkassen haben ein Kostenproblem mit Rückenschmerzen und suchen nach guten Konzepten zu deren Eindämmung [30]. Um dies wirklich leisten zu können, müssen die Konzepte qualitativ hohen und überregional vergleichbaren Anforderungen genügen. Krankenkassen können und sollten mit ihrer internen Datenevaluation die Leistungsfähigkeit von solchen IV-Projekten unterstützen.

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Dr. Gabriele Lindena

CLARA Clinical Analysis, Research and Application

Klinische Analyse, Forschung und Anwendung

Clara-Zetkin-Straße 34

14532 Kleinmachnow

gabriele.lindena@clara-klifo.de

Literatur

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2 Wenig CM, Schmidt CO, Kohlmann T et al.: Costs of back pain in Germany. Eur J Pain 2008; 13: 280–286

3 Kohlmann T, Schmidt CO: Rückenschmerzen in Deutschland – eine epidemiologische Bestandsaufnahme. Orthopädie & Rheuma 2005; 1: 40–43

4 Arbeitsgruppe beim Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin. Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz: Langfassung. http://www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/kreuzschmerz/kreuz schmerz-1aufl-vers5-lang.pdf (Stand: 08.03.2016)

5 van der Windt D, Hay E, Jellema P et al.: Psychosocial Interventions for Low Back Pain in Primary Care: Lessons Learned From Recent Trials. SPINE 2008; 33: 81–89

6 FPZ AG Köln (Hrsg.). Integrierte Versorgung Rückenschmerz: Wissenschaftliche Dokumentation 2006–2008. Köln, 2009

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8 Neubauer E, Junge A, Pirron P et al.: HKF-R 10 – Screening for predicting chronicity in acute low back pain (LBP): A prospective clinical trial. Eur J Pain 2006; 10: 559–566

9 Somerville S, Hay E, Lewis M et al.: Content and outcome of usual primary care for back pain: a systematic review. Br J Gen Pract 2008; 58: 790–797

10 Raspe H: Rückenschmerzen. Berlin: Robert-Koch-Inst., 2012. Gesundheitsberichterstattung des Bundes 53

11 Spitzer S: Effizienz- und Effektivitätsverbesserungen durch selektive Verträge: Kommentar zum Sondergutachten 2012 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. http://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/user_upload/Aktuelles/2012/ Kommentar_Spitzer.pdf [Stand: 19.9.13]

12 Hildebrandt J, Pfingsten M: Das Göttinger Rücken Intensiv Programm (GRIP), Teil 1: Ergebnisse im Überblick. Der Schmerz 1996; 10: 190–203

13 Nagel B, Korb J: Multimodale Therapie: – nachhaltig wirksam und kosteneffektiv. Der Orthopäde 2009; 38: 907–912

14 Marnitz U, Weh L, Müller G et al.: Integrationsversorgung von Patienten mit Rückenschmerzen: Schmerzbezogene Ergebnisse und Arbeitsfähigkeit. Der Schmerz 2008; 22: 415–423

15 Linton SJ, Boersma K: Early identification of patients at risk of developing a persistant back problem: the predictive validity of the Örebro musculoskeletal pain questionnaire. Clinical J Pain 2003; 19: 80–86

16 Schmidt CO, Lindena G, Pfingsten M et al.: Vergleich zweier Screening-Fragebogen für Patienten mit Rückenschmerzen. Schmerz 2014; 28: 365–373

17 Schmidt CO, Kohlmann T, Pfingsten M et al.: Construct and predictive validity of the German Örebro questionnaire short form for psychosocial risk factor screening of patients with low back pain. Eur Spine J 2016; 25: 325–332

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21 Chenot JF, Pieper A, Kochen MM et al.: Kommunikation und Befundaustausch zwischen Hausärzten und Orthopäden bei Rückenschmerzen: Eine retrospektive Beobachtungsstudie. Der Schmerz 2009; 23: 173–179

22 Arnold B, Brinkschmidt T, Casser H.R. et al.: Multimodale Schmerztherapie: Konzepte und Indikation. Der Schmerz 2009; 23: 112–120

23 Nagel B, Pfingsten M, Brinkschmidt T et al.: Struktur- und Prozessqualität multimodaler Schmerztherapie. Schmerz 2012; 26: 661–669

24 Casser H, Arnold B, Gralow I et al. Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie. Schmerz 2013; 27: 363–370

25 Arnold B, Brinkschmidt T, Casser H et al.: Multimodale Schmerztherapie für die Behandlung chronischer Schmerzsyndrome. Schmerz 2014; 28: 459–472

26 Casser H, Hüppe M, Kohlmann T et al.: Deutscher Schmerzfragebogen (DSF) und standardisierte Dokumentation mit KEDOQ-Schmerz. Schmerz 2012; 26: 168–175

27 van Tulder M, Becker A, Bekkering T et al.: COST B13: European guidelines for the management of low back pain Chapter 3. European guidelines for the management of acute nonspecific low back pain in primary care: Eoropean Guidelines for the management of Acute Nonspecific Low Back Pain in primary care. European Spine Journal 2006; 15, Supplement 2: s169–s191

28 Haldorsen EM, Grasdal AL, Skouen JS et al.: Is there a right treatment for a particular patient group? Comparison of ordinary treatment, light multidisciplinary treatment, and extensive multidisciplinary treatment for long-term sick-listed employees with musculoskeletal pain. Pain 2002; 95: 49–63

29 Schmidt CO, Chenot J, Pfingsten M et al.: Assessing a risk tailored intervention to prevent disabling low back pain-protocol of a cluster randomized controlled trial. BMC musculoskeletal disorders 2010; 11: 5

30 Bitzer EM: Schwerpunkt: Lumbale Rückenschmerzen. Siegburg: Asgard-Verl.-Service, 2015. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse 33

Fussnoten

1 CLARA Klinische Forschung Kleinmachnow

2 Schmerzzentrum Bodensee-Oberschwaben Ravensburg

3 DRK Schmerzzentrum Mainz

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