Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2017

Kinderorthopädie in München
Ein Beitrag zur Geschichte der Orthopädie*

Siegfried Stotz1

Zusammenfassung: Die heutige Kinderorthopädie (und Orthopädie) hat sich aus der sog. „Krüppelfürsorge“ entwickelt. (Körper-)behinderte Kinder („Krüppel“) wurden in der Antike oft ausgesetzt oder getötet, im Mittelalter und bis ins 18. Jahrhundert in Hospizen oder Krüppelheimen versorgt, danach in speziellen Einrichtungen medizinisch, erzieherisch, schulisch und später auch beruflich gefördert. Beispielhaft waren erste Gründungen von Venel in Orbe/Schweiz (1780) und von v. Kurz in München (1833). Viele bedeutende Einrichtungen im deutschsprachigen Raum gingen auf diese Modelle zurück, so auch das Oskar-Helene-Heim, das Biesalski 1914 in Berlin eröffnete. In vielen Städten entstanden aus den Krüppelheimen Universitäts-Institute und Orthopädische Kliniken.

In München war Fritz Lange seit 1903 offiziell bestellter „Krüppelarzt“ an der „Unterrichts-, Erziehungs- und Beschäftigungsanstalt für krüppelhafte Kinder“. Er initiierte den Bau der Orthopädischen Klinik München-Harlaching (1914) und der Universitäts-Poliklinik in der Pettenkofer Straße (1910). Vor allem in diesen Kliniken betrieben und lehrten er und seine Schüler und Nachfolger Orthopädie und Kinderorthopädie. In der Poliklinik hat Göb 1957 das „Spastiker-Zentrum München“ gegründet, aus dem das heutige „Integrationszentrum für Cerebralparesen“ (ICP) entstanden ist.

In der Kinderorthopädie müssen die Gesetze von Wachstum und Reifung des Organismus und der günstigste Zeitpunkt für eine Therapie berücksichtigt werden, oft ist das nur in einer interdisziplinären Zusammenarbeit möglich. Von der „Exklusion“ in der Antike ging der Weg des (körper-) behinderten Kindes über ein soziales Asyl, eine medizinische, schulische und berufliche (Re-)Habilitation und Integration bis zur Inklusion in der heutigen Gesellschaft.

Schlüsselwörter: Kinderorthopädie, Orthopädiegeschichte, „Krüppelfürsorge“, „Krüppelheime“, Körperbehinderteneinrichtungen, Orthopädische Klinik München, Poliklinik München, funktionelle Anpassung, interdisziplinäre Therapie, Integration, Inklusion

In einem historischen Vortrag über die Kinderorthopädie darf der Hinweis auf den französischen Arzt Nicolas Andry nicht fehlen, der 1741 den Begriff „Orthopädie“ geprägt und ihn definiert hat als „L’art de prévenir et corriger les difformités du corps dans les enfants“. Seine Schrift richtete sich vor allem an die Eltern und Erzieher, es sollte ein Ratgeber für die Erziehung zur geraden und aufrechten Haltung sein und er hat dafür als Titelblatt das angebundene verkrümmte Bäumchen gewählt, das zum Symbol der Orthopädie geworden ist (Abb. 1). Neben dem Korrigieren wurde schon damals das Vorbeugen als eine entscheidende medizinische und pädagogische Aufgabe betrachtet. Philologisch gesehen bedeutet „Orthopädie“ an sich schon „Kinderorthopädie“, denn „pais“ heißt griechisch das Kind. Heute bezieht sich die Orthopädie auch auf die orthopädischen Erkrankungen beim Erwachsenen. Vom Philologischen her kann man die Erweiterung des Begriffs auch begründen, denn „orthos paideuein“ = „erziehen zur aufrechten Haltung“ muss man ja nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene.

Das gekrümmte Bäumchen ist nicht nur Symbol des Fachs Orthopädie, sondern auch Beispiel für eine Deformität des kindlichen Körpers. Nicht nur die Wirbelsäule, auch andere Skelettabschnitte können verkrümmt sein, und die betroffenen Kinder wurden mit dem offiziellen Begriff „Krüppel“ bezeichnet, nach dem griechischen Wort für gekrümmt = grypós. Diese Krüppel-Kinder bedurften der Fürsorge. Unsere heutige Kinderorthopädie und Orthopädie ist aus der damaligen sogenannten Krüppelfürsorge hervorgegangen, auch in München.

Geschichte der
„Krüppelfürsorge“

Obwohl in der Antike schon Behandlungen von Skelettdeformitäten durchgeführt wurden, wie sie z.B. Hippokrates beschrieb, wurden damals behinderte Kleinkinder vielfach vernachlässigt, ausgesetzt oder getötet. Sie wurden aus der Gesellschaft ausgestoßen, „exkludiert “. Im Mittelalter und noch bis Ende des 18. Jahrhunderts war die Krüppelfürsorge vorwiegend das Werk privater Wohltäter oder Landesherrn und ein Teil des Almosenwesens. Vor allem die christlichen Kirchen und Klöster gründeten schon in früher Zeit „Hospitäler“ und Heime zur Betreuung Kranker und auch krüppelhafter Kinder, die dort „Asyl“ fanden. Im Vordergrund stand zunächst nur die Betreuung und Pflege der behinderten oder verwahrlosten Kinder [1].

Ein bedeutender Meilenstein in der Geschichte der Körperbehindertenfürsorge war die Gründung des weltweit ersten „Orthopädischen Instituts“ durch Jean André Venel 1780 in Orbe (Kanton Waadt/Schweiz). Venel wird deswegen auch „Père de l’Orthopédie“ genannt. In seinem Institut wurde für die langdauernd stationär behandelten Kinder die „Trias der Hülfeleistung“ durchgeführt: Ärztliche Betreuung, Erziehung und Unterricht [2].

Ein wichtiges Element fehlte noch in Orbe: die Beschäftigung und berufliche Förderung. Diese wurde durch einen weiteren Meilenstein gegeben: In der „Unterrichts-, Erziehungs- und Beschäftigungsanstalt für krüppelhafte Kinder“, die Johann Nepomuk Edler von Kurz 1833 in München als erste Einrichtung dieser Art im deutschsprachigen Raum gründete. Die zunächst als Privatanstalt geführte Einrichtung wurde 1844 vom Bayerischen Staat als „Königlich Bayerische Erziehungsanstalt für krüppelhafte Kinder“ übernommen. Es erfolgte dort auch eine orthopädische Betreuung, ab 1903 durch den staatlich bestellten „Arzt für Krüppelfürsorge“, Dr. Fritz Lange. Damit begegnen wir einem der frühen „Pioniere“ der Krüppelfürsorge und der (Kinder-) Orthopädie. Die „Erziehungsanstalt für krüppelhafte Kinder“ wurde 1957 in “Landesanstalt für körperbehinderte Jugendliche“ und 1968 in “Bayerische Landesschule für Körperbehinderte“ umbenannt, die 2008 das 175. Jubiläum feierte [3].

Wie in Orbe bekam auch die Gründung in München Modellcharakter. Nach dem Vorbild der beiden Institutionen wurde in den folgenden Jahren vor allem in Deutschland eine große Zahl von „Krüppelheimen“ eröffnet, häufig von Seiten der Kirchen oder aufgrund privater Initiativen und Stiftungen (Abb. 2). Von diesen frühen Einrichtungen mit bedeutender Geschichte soll auf die „Heilanstalt für jugendliche Krüppel“, das „Oskar-Helene-Heim“ in Berlin, näher eingegangen werden, denn es führt zu einem weiteren wichtigen Meilenstein in der Krüppelfürsorge.

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