Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2017

Kinderorthopädie in München
Ein Beitrag zur Geschichte der Orthopädie*

Franz Schede (1882–1976) war von 1910–1923 Assistent bei Fritz Lange und ab 1912 Oberarzt der neuen Orthopädischen Poliklinik in der Pettenkoferstraße, und er sah seine Hauptaufgabe in der Kinderkrüppelfürsorge. 1935 erschien in 1. Auflage sein viel beachtetes Buch „Grundlagen der körperlichen Erziehung“, in dem er auch den bekannten Satz prägte, dass „das Kind kein kleiner Erwachsener“ ist und bei ihm andere Gesetzmäßigkeiten gelten [12]. Mit Fritz Lange führte er auch das sogenannte „Schulsonderturnen“ ein.

Ein weiterer bedeutender Wegbereiter der Münchner Kinderorthopädie ist Georg Hohmann (1880–1970). Er war Assistent, später Oberarzt von Fritz Lange, wurde 1930 auf den Orthopädie-Lehrstuhl an der Universität Frankfurt („Stiftung Friedrichsheim“) und 1946 nach München, jetzt auf ein Ordinariat als Leiter der Staatl. Orthopädischen Klinik München-Harlaching und der Orthopädischen Universitäts-Poliklinik in der Pettenkoferstraße, berufen. Von 1946–1953 war er Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität, viele Jahre Vorsitzender der „Vereinigung für Krüppelfürsorge“ und maßgeblich an der Neufassung des Körperbehindertenfürsorgegesetzes (nicht mehr Krüppelfürsorgegesetz) beteiligt, das 1957 in Kraft trat. Er war Mitbegründer der „Pfennigparade“ zur Betreuung polio-gelähmter Kinder in München. Zu der umfangreichen Monographie „Kinderorthopädie“ seines Mitarbeiters Rupprecht Bernbeck, die 1954 in 1. Auflage in München erschien, hat er das Geleitwort geschrieben [13]. Ein historisches Foto, entstanden um 1905, zeigt Fritz Lange und Georg Hohmann bei einer Klumpfuß-Redression auf dem „Lange-Tisch“ (Abb. 7).

Nachfolger von Georg Hohmann auf dem Münchner Lehrstuhl war Max Lange (1899–1975), ein Neffe von Fritz Lange, bei dem er auch seine orthopädische Ausbildung durchlaufen hatte. Vor seiner Berufung 1954 nach München war er Leiter des Versorgungskrankenhauses in Bad Tölz. Wegen seiner großen Verdienste um die Kriegsversehrten bekam er den Ehrentitel „Vater der Kriegsversehrten“. Wie seinen Vorgängern war ihm aber auch die Kinderorthopädie ein großes Anliegen: Schon 1930 erschien seine Schrift über „Die Endresultate der unblutigen Behandlung der angeborenen Hüftverrenkung“ [14], 1943 die Monographie „Orthopädie und Kinderheilkunde“ [15]. Seine Vorlesungen fanden in der Poliklinik statt und begannen in der 1. Stunde immer mit dem, wie er sagte, „Zentralproblem der Orthopädie“, der angeborenen Hüftluxation.

Sein Nachfolger Alfred Nikolaus Witt (1914–1999) hatte bei Max Lange in Tölz eine harte Schule durchlaufen, war sein Oberarzt und wurde 1954 nach Berlin auf den neu geschaffenen Lehrstuhl an der FU und zum Direktor des Oskar-Helene-Heims berufen. Er hatte dort die Bedeutung der Kinderorthopädie mit der Schaffung einer neuen Kinderabteilung, einer eigenen Station für Dysmelie-Kinder und mit einschlägigen Publikationen [16, 17] hervorgehoben. In seiner Münchner Amtszeit (1968–1982) hat er die Kinderorthopädie weiter gefördert, und es entstand 1980 auf seinen Antrag hin in München das 1. Extraordinariat für Kinderorthopädie in der Bundesrepublik.

Aus der Schule von Max Lange in Bad Tölz kam auch Albert Göb (1918–2001). Göb war von 1955–1982 leitender Oberarzt der Orthopädischen Poliklinik Innenstadt, die sich unter seiner Leitung zu einer selbständigen Abteilung entwickelte mit einer eigenen orthopädischen Werkstatt, einer Röntgen- und Krankengymnastikabteilung und einem großen Turn- und Gymnastiksaal. Das gesamte Spektrum der konservativen und operativen Orthopädie wurde aufgebaut, und es wurden dabei zunehmend klinische und wissenschaftliche Schwerpunkte in der Kinderorthopädie gesetzt, wie z.B. klinisch-experimentelle und biomechanische Studien zur konservativen Therapie der angeborene Hüftluxation und zu Wachstumsvorgängen am coxalen Femurende, ferner der frühe Ausbau der neuen diagnostischen Möglichkeiten der Sonografie nach Graf, sodass von der Poliklinik aus das erste routinemäßige Hüft-Sonografie-Screening in München durchgeführt werden konnte. Von der Poliklinik aus erfolgte auch die routinemäßige Frühbehandlung des angeborenen Klumpfußes mit redressierenden Etappen-Gipsverbänden auf den Neugeborenenstationen in den verschiedenen Kliniken. Im Gymnastiksaal wurde für Schulkinder ein spezielles Haltungsturnen angeboten.

Besonders hervorgehoben werden muss das Spezialgebiet der infantilen Cerebralparese. Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit in der Poliklinik stellte sich für Albert Göb, der auch Landesarzt für Körperbehinderte war, das Problem der langfristigen Behandlung und Betreuung chronisch körperbehinderter Kinder, speziell solcher mit einer Cerebralparese. Er hat dann in einem Raum der Orthopädischen Poliklinik einige CP-Kinder längerfristig zur Behandlung aufgenommen und 1956 einen „Verein zur Förderung spastisch gelähmter Kinder“ gegründet. Unter dessen Trägerschaft entstand 1957 das „Spastiker-Zentrum München“. Der Bedarf war groß, und über Zwischenstationen hat sich das Zentrum auf dem Gelände des Städtischen Altersheims St. Josef an der Garmischerstraße, zunächst im ehemaligen Waschhaus, dann mit An- und Neubauten dort etabliert. Da, wie beim „Krüppel“, die Bezeichnung „Spastiker“ heute negativ konnotiert ist, wurde 2004 der Name in ICP (Integrationszentrum für Cerebralparesen) geändert. Das Spastiker-Zentrum München war die 1. Spezial-Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik, in der die meist mehrfach behinderten CP-Kinder nach dem „Münchner Tageskonzept“ therapeutisch, pädagogisch, psychologisch und schulisch, später auch beruflich im eigenen Berufsbildungswerk (BBW) behandelt und gefördert wurden und werden [18].

In der historischen Rückschau war viel die Rede von den frühen Kliniken, von denen aus sich die Kinderorthopädie in München entwickelte. Daneben wurde und wird auch Kinderorthopädie gepflegt im Klinikum der Technischen Universität Rechts der Isar, ferner, nachdem die Orthopädische Poliklinik Innenstadt 1997 geschlossen wurde, im Klinikum Großhadern sowie in der „alten“ Orthopädischen Klinik Harlaching, jetzt Schön-Klinik, zudem in kinderorthopädischen Abteilungen in Städtischen, Ordens- oder privaten Häusern, und – nicht zuletzt – in vielen Praxen niedergelassener Orthopäden mit der Zusatzbezeichnung „Kinderorthopädie“. An diesen Stätten wird die Tradition der Münchner Kinderorthopädie fortgesetzt.

Prinzipien in der Kinderorthopädie

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