Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2017

Kinderorthopädie in München
Ein Beitrag zur Geschichte der Orthopädie*

Das Kind ist kein

kleiner Erwachsener

Dieser Satz von Franz Schede wurde bereits angeführt. Den eigenen Gesetzmäßigkeiten des wachsenden Organismus müssen die therapeutischen Maßnahmen angepasst und modifiziert werden. Das Kind reagiert auch emotional anders als Erwachsene. Der Umgang mit dem Kind und seiner psychischen und sozialen Situation erfordert in besonderer Weise verstehendes Einfühlungsvermögen, viel Geduld und viel Zeit.

Funktionelle Anpassung (Roux,

Pauwels), Form follows function

(Sullivan)

Besonders berücksichtigt werden müssen die Wachstumspotenzen und die Erkenntnisse der funktionellen Anpassung des Gewebes an das Wachstum, wie es Roux [19] und später vor allem Pauwels [20] nachgewiesen haben. Der Grundsatz „Form follows function“, den der amerikanische Architekt Sullivan für die „Architektur der neuen Sachlichkeit“ formuliert hat [21], gilt auch in der Kinderorthopädie, genauso wie der umgekehrte Satz, dass die Form die Funktion beeinflusst. Manche Fehlstellungen können sich im Wachstum spontan ausgleichen, andere brauchen eine gezielte Wuchslenkung, wieder andere erfordern ein sofortiges Handeln. Es gehört viel Erfahrung dazu, den richtigen Zeitpunkt für therapeutische Maßnahmen zu erkennen und den „Kairos“ nicht zu verpassen. Kairos ist in der griechischen Mythologie der Gott des günstigen Augenblicks, der in einem antiken Relief als Jüngling dargestellt ist, der mit Flügeln an den Füßen vorbeieilt (tempus fugit), eine Entscheidung steht „auf Messers Schneide“, man muss ihn an der Haarlocke festhalten, denn wenn man diesen Augenblick versäumt, hilft kein Nachgreifen mehr, hinten ist der Kopf nämlich kahl. Daher kommt auch der Ausdruck: die Gelegenheit „beim Schopfe packen“.

Interdisziplinäre Kooperation

Um bei einem Bild aus der griechischen Mythologie zu bleiben: Über dem Eingangsportal der Poliklinik München ist in einem Relief der Kampf des Herkules mit der neunköpfigen Hydra dargestellt. Da ein abgeschlagener Kopf gleich wieder nachwuchs, konnte Herkules seine Aufgabe nur erfüllen, als er seinen Gefährten lolaos zu Hilfe rief, der nach dem Abschlagen des Kopfes den Halsstumpf sofort mit einem glühenden Holzscheit ausbrannte. Die Lehre: Schwere Aufgaben erfordern meist ein Team, und dafür ist die Kinderorthopädie wieder ein gutes Beispiel. Oft können diagnostische oder therapeutische Probleme nur in Zusammenarbeit mit den klinischen Disziplinen, mit der Neuro- und Sozialpädiatrie, der Pädagogik, dem therapeutischen und orthopädietechnischen Team und der Grundlagenforschung gelöst werden (Abb. 8).

Das (körper-)behinderte Kind in Gesellschaft und Familie

Einige Meilensteine auf dem Weg des (körper-)behinderten Kindes durch die Zeit wurden schon beschrieben: Die Exklusion im Altertum, das „Asyl“ in Pflegeheimen und Hospizen, dann die Stationen mit den Bestrebungen einer Rehabilitation der Kinder, eigentlich „Habilitation“, um sie für die Gemeinschaft „fähig“ zu machen, und dann die medizinische, schulische und berufliche Förderung in Spezialeinrichtungen mit dem Ziel der Integration in die Gesellschaft. Der Weg geht weiter: Den Beschluss einer „Inklusion“ der Behinderten durch die Vereinten Nationen hat 2009 auch Deutschland unterschrieben. Demzufolge soll die Gesellschaft so verändert werden, dass den Behinderten die Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglicht wird, aber auch, dass Behinderte zusammen mit Nichtbehinderten in Regeleinrichtungen ausgebildet werden, eigene Fördereinrichtungen also nicht mehr erforderlich wären. Dieses Programm hat Grenzen, die man akzeptieren muss. Ein schwerst mehrfach behindertes Kind kann, wie lange Erfahrungen gezeigt haben, in einer guten Spezialeinrichtung am besten gefördert werden, zumindest sollten solche Einrichtungen als Alternativen erhalten bleiben. Das Schema zeigt den langen Weg von der Exklusion zur Inklusion (Abb. 9).

Ein krankes oder behindertes Kind braucht auch seine Familie und die persönliche Zuwendung der Eltern und Geschwister, eine immer wieder betonte Forderung der Sozialpädiatrie. Der Erfolg einer Therapie hängt von Mitarbeit und dem Verhalten der Eltern ab, das von Nichtbeachtung bis zur Overprotection reichen kann. Der Kinderorthopäde muss Kind und Eltern behandeln, manchmal die Eltern mehr als das Kind!

In dem Relief des stilisierten Orthopädischen Bäumchens (Abb. 10), das die Münchner Bildhauerin Christine Stadler gestaltet hat, kann man ein gekrümmtes Kind mit einer Kopf-Knospe sehen, das hilfesuchend seine Blatt-Hände ausstreckt. Es ist in Familie und Umwelt verwurzelt, und die Bandagen kann man als korrigierende und stützende Menschenarme und Hände deuten – schöne Symbole kinderorthopädischen Wirkens!

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Siegfried Stotz

Schrämelstraße 88a

81247 München

siegfried.stotz@t-online.de

Literatur

1. Thomann KD: Das behinderte Kind. „Krüppelfürsorge“ und Orthopädie in Deutschland 1886–1920. Stuttgart: G. Fischer: 1995

2. Rüttimann B: Zur Geschichte der Krüppelfürsorge. Gesnerus 1980; 37: 199–214

3. Bayer. Landesschule f. Körperbehinderte (Hrsg.): Festschrift 175 Jahre Bayerische Landesschule für Körperbehinderte. München 2008

4. Stiftung Oskar-Helene-Heim (Hrsg.): 1914–2014: 100 Jahre Oskar-Helene-Heim. Berlin 2014

5. Rütt A: Geschichte der Orthopädie im deutschen Sprachraum. Stuttgart: F. Enke, 1993

6. Lange F: Ein Leben für die Orthopädie. Stuttgart: F. Enke, 1959

7. Locher W: Franz Reisinger (1787–1855) und die Münchener Poliklinik im Jahre 1910. München: Cygnus, 1988

8. Locher W: Poliklinik in der Pettenkoferstraße 100 Jahre alt. Münchner Ärztliche Anzeigen 2010; 22: 17

9. Locher W: 100 Jahre Orthopädische Klinik (Harlachingerstraße). Münchner Ärztliche Anzeigen 2013; 25: 19

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