Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2017

Kinderorthopädie in München
Ein Beitrag zur Geschichte der Orthopädie*

In Berlin hatte sich in besonderer Weise Konrad Biesalski dem Problem gewidmet und durch die 1906 von ihm angeregte und geleitete amtliche Krüppelzählung im Deutschen Reich die Grundlage für eine systematische Krüppelfürsorge gelegt. Er war auch Gründungsmitglied der 1909 gegründeten „Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge“. Er eröffnete 1906 in einer Etagenwohnung in Kreuzberg ein „Heim des Krüppel-, Heil- und Fürsorgevereins für Berlin-Brandenburg“, das 1914 in das Oskar-Helene-Heim in Berlin-Dahlem umzog, eine Stiftung des wohlhabenden Fabrikanten-Ehepaars Oskar und Helene Pintsch. Dort erfolgte durch ihn als ärztlichem Leiter zusammen mit dem Pädagogen Johannes Würtz eine „ganzheitliche“ Betreuung der Behinderten mit Schule und Werkstatt nach seinem Ausspruch: „Nicht ein einzelner Fuß soll behandelt werden, sondern ein ganzer Mensch“ [4]. Biesalski wird als „Vater der Krüppelfürsorge“ bezeichnet. Das auf Biesalski’s Erkenntnissen unter Mitwirkung des Pädiaters Schloßmann aufbauende Preußische Krüppelfürsorgegesetz wurde 1920 verabschiedet (Abb. 3). Es garantierte allen mittellosen Kindern und Jugendlichen eine unentgeltliche Behandlung und qualifizierte Berufsausbildung.

In Österreich gab es u.a. in Wien um 1900 das „Kaiserin-Elisabeth-Asyl“ für verkrüppelte Kinder; der ärztliche Leiter war Adolf Lorenz, der Begründer der unblutigen Reposition der angeborenen Hüftluxation. Besonders hervorgehoben werden müssen die Verdienste um die Krüppelfürsorge von Hans Spitzy. Er errichtete die „Wiener Schulen für Körperbehinderte“ mit Sonderturnstunden und geeignete Anstalten für die Aufnahme schwerbehinderter Kinder. In der Schweiz wirkte Wilhelm Schulthess unermüdlich für die Sache der Krüppelfürsorge. Er war langjähriger Arzt in der Mathilde-Escher-Stiftung und Gründer der „Schweizerischen Heil- und Erziehungsanstalt für krüppelhafte Kinder“ (Anstalt Balgrist) in Zürich (Abb. 4). Mit Fritz Lange und Konrad Biesalski gehören Hans Spitzy und Wilhelm Schulthess zu den frühen „Pionieren“ der Krüppelfürsorge und der Kinderorthopädie im deutschsprachigen Raum [5].

Zu den Aufgaben der Krüppelfürsorge als Ganzes (orthopädische Behandlung, Schulbildung, Erziehung und Berufsausbildung) kam noch die Prävention, die schon Andry hervorgehoben hatte. Damit ergab sich auch die Aufgabe der wissenschaftlichen Erforschung der Deformitäten und ihrer Verhütung. Deshalb wurde von Fritz Lange, Biesalski und anderen Orthopäden die Anlehnung der Krüppelanstalten an die Universitäten empfohlen, was in vielen Städten dann auch geschah (z.B. in München, Berlin, Frankfurt, Zürich u.a.). Dies erforderte jedoch viel Überzeugungskraft bei den zuständigen Behörden und auch bei den chirurgischen Kollegen und gelang oft nur nach langen Verhandlungen, besonders unter Hinweis auf die Krüppelfürsorge, deren Notwendigkeit durch die Krüppelzählung von Biesalski statistisch belegt werden konnte. Den langen und mühsamen Weg in München bis zur Anerkennung der Orthopädie als eigenständigem Fach im Medizinstudium mit Pflichtvorlesungen und -prüfungen schildert Fritz Lange eindringlich in seiner Autobiographie „Ein Leben für die Orthopädie“ [6].

Entwicklung der Kinderorthopädie in München

Fritz Lange (1864–1952) war nicht nur ein Pionier der Krüppelfürsorge, sondern auch ein bedeutender Wegbereiter der Orthopädie und Kinderorthopädie in München. Zusammen mit Hoffa in Würzburg, später Berlin, und Lorenz in Wien wird er zu den „Vätern der Orthopädie“ gezählt. Fritz Lange hat 1896 seine Tätigkeit in München in einem „orthopädischen Ambulatorium“ in der Chirurgischen Klinik in der Nußbaumstraße begonnen. In seinen Erinnerungen schreibt er, dass er von vielen Kollegen gefragt worden sei, warum er sich überhaupt als Orthopäde betätigen wolle, denn die Operationen machten die Chirurgen, und die Schienen und Korsette die Bandagisten. Lange antwortete, dass er beides selbst machen wolle.

1903 wurde er zum „Arzt für Krüppelfürsorge“ an der staatlichen Erziehungsanstalt bestellt und zum Leiter der Orthopädischen Poliklinik ernannt, die zunächst noch in der Chirurgischen Klinik untergebracht war und 1910 in das Gebäude der als Universitätsinstitut neu errichteten Poliklinik München in der Pettenkoferstraße (Innenstadt) verlegt wurde. Der Bau der Poliklinik wurde durch eine Stiftung von Prof. Reisinger ermöglicht, deshalb auch der Name „Reisingerianum“ (Abb. 5) [7, 8].

Wegen des zunehmendem Bedarfs und steigender Patientenzahlen plante Lange eine großzügige Erweiterung der Erziehungsanstalt durch die Schaffung einer staatlichen Orthopädischen Klinik. Deren Realisierung wurde erst möglich im Rahmen von Bleibeverhandlungen von Lange, nachdem er einen Ruf auf den Lehrstuhl nach Berlin als Nachfolger von Albert Hoffa abgesagt hatte. Auf dem Gelände an der Harlachingerstraße erfolgte 1911 der erste Spatenstich, Ende 1913 wurde die Klinik bezogen und am 26.03.1914 feierlich in Anwesenheit der königlichen Familie eingeweiht. Es war die 1. „Staatliche Orthopädische Klinik“ in Deutschland (Abb. 6). Diese wurde 1914–1918 ergänzt durch einen zusätzlichen Anbau „zur orthopädischen Forschung und Behandlung krüppelhafter Kinder“, der durch eine Stiftung von Dr. Gustav Krauss ermöglicht wurde („Kraussianum“) [9]. In diesem Komplex aus Staatlicher Orthopädischer Klinik, Erziehungsanstalt und Kraussianum, und ab 1910 auch der Orthopädischen Poliklinik Pettenkoferstraße, haben Fritz Lange bis 1937, mit ihm und nach ihm weitere bedeutende Orthopäden gewirkt, sodass die Klinik auch als „Wiege der Münchner Orthopädie“ bezeichnet wurde. Zum 01.01.1997 wurde die Klinik in die private Trägerschaft der Unternehmungsgruppe Schön überführt.

Hauptarbeitsgebiete von Fritz Lange waren vor allem kinderorthopädische Bereiche: die konservative und operative Behandlung der angeborene Hüftluxation, der Poliomyelitis, der Kyphose und Skoliose. 1914 erschien die 1. Auflage seines bekannten „Lehrbuchs der Orthopädie“ [10] und 1915, zusammen mit Hans Spitzy, der große Ergänzungsband „Chirurgie und Orthopädie im Kindesalter“ [11]. Die kinderorthopädischen Schwerpunkte wurden in München von weiteren bedeutenden Persönlichkeiten fortgesetzt.

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