Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2017

Kinderorthopädie in München
Ein Beitrag zur Geschichte der Orthopädie*

Siegfried Stotz1

Zusammenfassung: Die heutige Kinderorthopädie (und Orthopädie) hat sich aus der sog. „Krüppelfürsorge“ entwickelt. (Körper-)behinderte Kinder („Krüppel“) wurden in der Antike oft ausgesetzt oder getötet, im Mittelalter und bis ins 18. Jahrhundert in Hospizen oder Krüppelheimen versorgt, danach in speziellen Einrichtungen medizinisch, erzieherisch, schulisch und später auch beruflich gefördert. Beispielhaft waren erste Gründungen von Venel in Orbe/Schweiz (1780) und von v. Kurz in München (1833). Viele bedeutende Einrichtungen im deutschsprachigen Raum gingen auf diese Modelle zurück, so auch das Oskar-Helene-Heim, das Biesalski 1914 in Berlin eröffnete. In vielen Städten entstanden aus den Krüppelheimen Universitäts-Institute und Orthopädische Kliniken.

In München war Fritz Lange seit 1903 offiziell bestellter „Krüppelarzt“ an der „Unterrichts-, Erziehungs- und Beschäftigungsanstalt für krüppelhafte Kinder“. Er initiierte den Bau der Orthopädischen Klinik München-Harlaching (1914) und der Universitäts-Poliklinik in der Pettenkofer Straße (1910). Vor allem in diesen Kliniken betrieben und lehrten er und seine Schüler und Nachfolger Orthopädie und Kinderorthopädie. In der Poliklinik hat Göb 1957 das „Spastiker-Zentrum München“ gegründet, aus dem das heutige „Integrationszentrum für Cerebralparesen“ (ICP) entstanden ist.

In der Kinderorthopädie müssen die Gesetze von Wachstum und Reifung des Organismus und der günstigste Zeitpunkt für eine Therapie berücksichtigt werden, oft ist das nur in einer interdisziplinären Zusammenarbeit möglich. Von der „Exklusion“ in der Antike ging der Weg des (körper-) behinderten Kindes über ein soziales Asyl, eine medizinische, schulische und berufliche (Re-)Habilitation und Integration bis zur Inklusion in der heutigen Gesellschaft.

Schlüsselwörter: Kinderorthopädie, Orthopädiegeschichte, „Krüppelfürsorge“, „Krüppelheime“, Körperbehinderteneinrichtungen, Orthopädische Klinik München, Poliklinik München, funktionelle Anpassung, interdisziplinäre Therapie, Integration, Inklusion

In einem historischen Vortrag über die Kinderorthopädie darf der Hinweis auf den französischen Arzt Nicolas Andry nicht fehlen, der 1741 den Begriff „Orthopädie“ geprägt und ihn definiert hat als „L’art de prévenir et corriger les difformités du corps dans les enfants“. Seine Schrift richtete sich vor allem an die Eltern und Erzieher, es sollte ein Ratgeber für die Erziehung zur geraden und aufrechten Haltung sein und er hat dafür als Titelblatt das angebundene verkrümmte Bäumchen gewählt, das zum Symbol der Orthopädie geworden ist (Abb. 1). Neben dem Korrigieren wurde schon damals das Vorbeugen als eine entscheidende medizinische und pädagogische Aufgabe betrachtet. Philologisch gesehen bedeutet „Orthopädie“ an sich schon „Kinderorthopädie“, denn „pais“ heißt griechisch das Kind. Heute bezieht sich die Orthopädie auch auf die orthopädischen Erkrankungen beim Erwachsenen. Vom Philologischen her kann man die Erweiterung des Begriffs auch begründen, denn „orthos paideuein“ = „erziehen zur aufrechten Haltung“ muss man ja nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene.

Das gekrümmte Bäumchen ist nicht nur Symbol des Fachs Orthopädie, sondern auch Beispiel für eine Deformität des kindlichen Körpers. Nicht nur die Wirbelsäule, auch andere Skelettabschnitte können verkrümmt sein, und die betroffenen Kinder wurden mit dem offiziellen Begriff „Krüppel“ bezeichnet, nach dem griechischen Wort für gekrümmt = grypós. Diese Krüppel-Kinder bedurften der Fürsorge. Unsere heutige Kinderorthopädie und Orthopädie ist aus der damaligen sogenannten Krüppelfürsorge hervorgegangen, auch in München.

Geschichte der
„Krüppelfürsorge“

Obwohl in der Antike schon Behandlungen von Skelettdeformitäten durchgeführt wurden, wie sie z.B. Hippokrates beschrieb, wurden damals behinderte Kleinkinder vielfach vernachlässigt, ausgesetzt oder getötet. Sie wurden aus der Gesellschaft ausgestoßen, „exkludiert “. Im Mittelalter und noch bis Ende des 18. Jahrhunderts war die Krüppelfürsorge vorwiegend das Werk privater Wohltäter oder Landesherrn und ein Teil des Almosenwesens. Vor allem die christlichen Kirchen und Klöster gründeten schon in früher Zeit „Hospitäler“ und Heime zur Betreuung Kranker und auch krüppelhafter Kinder, die dort „Asyl“ fanden. Im Vordergrund stand zunächst nur die Betreuung und Pflege der behinderten oder verwahrlosten Kinder [1].

Ein bedeutender Meilenstein in der Geschichte der Körperbehindertenfürsorge war die Gründung des weltweit ersten „Orthopädischen Instituts“ durch Jean André Venel 1780 in Orbe (Kanton Waadt/Schweiz). Venel wird deswegen auch „Père de l’Orthopédie“ genannt. In seinem Institut wurde für die langdauernd stationär behandelten Kinder die „Trias der Hülfeleistung“ durchgeführt: Ärztliche Betreuung, Erziehung und Unterricht [2].

Ein wichtiges Element fehlte noch in Orbe: die Beschäftigung und berufliche Förderung. Diese wurde durch einen weiteren Meilenstein gegeben: In der „Unterrichts-, Erziehungs- und Beschäftigungsanstalt für krüppelhafte Kinder“, die Johann Nepomuk Edler von Kurz 1833 in München als erste Einrichtung dieser Art im deutschsprachigen Raum gründete. Die zunächst als Privatanstalt geführte Einrichtung wurde 1844 vom Bayerischen Staat als „Königlich Bayerische Erziehungsanstalt für krüppelhafte Kinder“ übernommen. Es erfolgte dort auch eine orthopädische Betreuung, ab 1903 durch den staatlich bestellten „Arzt für Krüppelfürsorge“, Dr. Fritz Lange. Damit begegnen wir einem der frühen „Pioniere“ der Krüppelfürsorge und der (Kinder-) Orthopädie. Die „Erziehungsanstalt für krüppelhafte Kinder“ wurde 1957 in “Landesanstalt für körperbehinderte Jugendliche“ und 1968 in “Bayerische Landesschule für Körperbehinderte“ umbenannt, die 2008 das 175. Jubiläum feierte [3].

Wie in Orbe bekam auch die Gründung in München Modellcharakter. Nach dem Vorbild der beiden Institutionen wurde in den folgenden Jahren vor allem in Deutschland eine große Zahl von „Krüppelheimen“ eröffnet, häufig von Seiten der Kirchen oder aufgrund privater Initiativen und Stiftungen (Abb. 2). Von diesen frühen Einrichtungen mit bedeutender Geschichte soll auf die „Heilanstalt für jugendliche Krüppel“, das „Oskar-Helene-Heim“ in Berlin, näher eingegangen werden, denn es führt zu einem weiteren wichtigen Meilenstein in der Krüppelfürsorge.

In Berlin hatte sich in besonderer Weise Konrad Biesalski dem Problem gewidmet und durch die 1906 von ihm angeregte und geleitete amtliche Krüppelzählung im Deutschen Reich die Grundlage für eine systematische Krüppelfürsorge gelegt. Er war auch Gründungsmitglied der 1909 gegründeten „Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge“. Er eröffnete 1906 in einer Etagenwohnung in Kreuzberg ein „Heim des Krüppel-, Heil- und Fürsorgevereins für Berlin-Brandenburg“, das 1914 in das Oskar-Helene-Heim in Berlin-Dahlem umzog, eine Stiftung des wohlhabenden Fabrikanten-Ehepaars Oskar und Helene Pintsch. Dort erfolgte durch ihn als ärztlichem Leiter zusammen mit dem Pädagogen Johannes Würtz eine „ganzheitliche“ Betreuung der Behinderten mit Schule und Werkstatt nach seinem Ausspruch: „Nicht ein einzelner Fuß soll behandelt werden, sondern ein ganzer Mensch“ [4]. Biesalski wird als „Vater der Krüppelfürsorge“ bezeichnet. Das auf Biesalski’s Erkenntnissen unter Mitwirkung des Pädiaters Schloßmann aufbauende Preußische Krüppelfürsorgegesetz wurde 1920 verabschiedet (Abb. 3). Es garantierte allen mittellosen Kindern und Jugendlichen eine unentgeltliche Behandlung und qualifizierte Berufsausbildung.

In Österreich gab es u.a. in Wien um 1900 das „Kaiserin-Elisabeth-Asyl“ für verkrüppelte Kinder; der ärztliche Leiter war Adolf Lorenz, der Begründer der unblutigen Reposition der angeborenen Hüftluxation. Besonders hervorgehoben werden müssen die Verdienste um die Krüppelfürsorge von Hans Spitzy. Er errichtete die „Wiener Schulen für Körperbehinderte“ mit Sonderturnstunden und geeignete Anstalten für die Aufnahme schwerbehinderter Kinder. In der Schweiz wirkte Wilhelm Schulthess unermüdlich für die Sache der Krüppelfürsorge. Er war langjähriger Arzt in der Mathilde-Escher-Stiftung und Gründer der „Schweizerischen Heil- und Erziehungsanstalt für krüppelhafte Kinder“ (Anstalt Balgrist) in Zürich (Abb. 4). Mit Fritz Lange und Konrad Biesalski gehören Hans Spitzy und Wilhelm Schulthess zu den frühen „Pionieren“ der Krüppelfürsorge und der Kinderorthopädie im deutschsprachigen Raum [5].

Zu den Aufgaben der Krüppelfürsorge als Ganzes (orthopädische Behandlung, Schulbildung, Erziehung und Berufsausbildung) kam noch die Prävention, die schon Andry hervorgehoben hatte. Damit ergab sich auch die Aufgabe der wissenschaftlichen Erforschung der Deformitäten und ihrer Verhütung. Deshalb wurde von Fritz Lange, Biesalski und anderen Orthopäden die Anlehnung der Krüppelanstalten an die Universitäten empfohlen, was in vielen Städten dann auch geschah (z.B. in München, Berlin, Frankfurt, Zürich u.a.). Dies erforderte jedoch viel Überzeugungskraft bei den zuständigen Behörden und auch bei den chirurgischen Kollegen und gelang oft nur nach langen Verhandlungen, besonders unter Hinweis auf die Krüppelfürsorge, deren Notwendigkeit durch die Krüppelzählung von Biesalski statistisch belegt werden konnte. Den langen und mühsamen Weg in München bis zur Anerkennung der Orthopädie als eigenständigem Fach im Medizinstudium mit Pflichtvorlesungen und -prüfungen schildert Fritz Lange eindringlich in seiner Autobiographie „Ein Leben für die Orthopädie“ [6].

Entwicklung der Kinderorthopädie in München

Fritz Lange (1864–1952) war nicht nur ein Pionier der Krüppelfürsorge, sondern auch ein bedeutender Wegbereiter der Orthopädie und Kinderorthopädie in München. Zusammen mit Hoffa in Würzburg, später Berlin, und Lorenz in Wien wird er zu den „Vätern der Orthopädie“ gezählt. Fritz Lange hat 1896 seine Tätigkeit in München in einem „orthopädischen Ambulatorium“ in der Chirurgischen Klinik in der Nußbaumstraße begonnen. In seinen Erinnerungen schreibt er, dass er von vielen Kollegen gefragt worden sei, warum er sich überhaupt als Orthopäde betätigen wolle, denn die Operationen machten die Chirurgen, und die Schienen und Korsette die Bandagisten. Lange antwortete, dass er beides selbst machen wolle.

1903 wurde er zum „Arzt für Krüppelfürsorge“ an der staatlichen Erziehungsanstalt bestellt und zum Leiter der Orthopädischen Poliklinik ernannt, die zunächst noch in der Chirurgischen Klinik untergebracht war und 1910 in das Gebäude der als Universitätsinstitut neu errichteten Poliklinik München in der Pettenkoferstraße (Innenstadt) verlegt wurde. Der Bau der Poliklinik wurde durch eine Stiftung von Prof. Reisinger ermöglicht, deshalb auch der Name „Reisingerianum“ (Abb. 5) [7, 8].

Wegen des zunehmendem Bedarfs und steigender Patientenzahlen plante Lange eine großzügige Erweiterung der Erziehungsanstalt durch die Schaffung einer staatlichen Orthopädischen Klinik. Deren Realisierung wurde erst möglich im Rahmen von Bleibeverhandlungen von Lange, nachdem er einen Ruf auf den Lehrstuhl nach Berlin als Nachfolger von Albert Hoffa abgesagt hatte. Auf dem Gelände an der Harlachingerstraße erfolgte 1911 der erste Spatenstich, Ende 1913 wurde die Klinik bezogen und am 26.03.1914 feierlich in Anwesenheit der königlichen Familie eingeweiht. Es war die 1. „Staatliche Orthopädische Klinik“ in Deutschland (Abb. 6). Diese wurde 1914–1918 ergänzt durch einen zusätzlichen Anbau „zur orthopädischen Forschung und Behandlung krüppelhafter Kinder“, der durch eine Stiftung von Dr. Gustav Krauss ermöglicht wurde („Kraussianum“) [9]. In diesem Komplex aus Staatlicher Orthopädischer Klinik, Erziehungsanstalt und Kraussianum, und ab 1910 auch der Orthopädischen Poliklinik Pettenkoferstraße, haben Fritz Lange bis 1937, mit ihm und nach ihm weitere bedeutende Orthopäden gewirkt, sodass die Klinik auch als „Wiege der Münchner Orthopädie“ bezeichnet wurde. Zum 01.01.1997 wurde die Klinik in die private Trägerschaft der Unternehmungsgruppe Schön überführt.

Hauptarbeitsgebiete von Fritz Lange waren vor allem kinderorthopädische Bereiche: die konservative und operative Behandlung der angeborene Hüftluxation, der Poliomyelitis, der Kyphose und Skoliose. 1914 erschien die 1. Auflage seines bekannten „Lehrbuchs der Orthopädie“ [10] und 1915, zusammen mit Hans Spitzy, der große Ergänzungsband „Chirurgie und Orthopädie im Kindesalter“ [11]. Die kinderorthopädischen Schwerpunkte wurden in München von weiteren bedeutenden Persönlichkeiten fortgesetzt.

Franz Schede (1882–1976) war von 1910–1923 Assistent bei Fritz Lange und ab 1912 Oberarzt der neuen Orthopädischen Poliklinik in der Pettenkoferstraße, und er sah seine Hauptaufgabe in der Kinderkrüppelfürsorge. 1935 erschien in 1. Auflage sein viel beachtetes Buch „Grundlagen der körperlichen Erziehung“, in dem er auch den bekannten Satz prägte, dass „das Kind kein kleiner Erwachsener“ ist und bei ihm andere Gesetzmäßigkeiten gelten [12]. Mit Fritz Lange führte er auch das sogenannte „Schulsonderturnen“ ein.

Ein weiterer bedeutender Wegbereiter der Münchner Kinderorthopädie ist Georg Hohmann (1880–1970). Er war Assistent, später Oberarzt von Fritz Lange, wurde 1930 auf den Orthopädie-Lehrstuhl an der Universität Frankfurt („Stiftung Friedrichsheim“) und 1946 nach München, jetzt auf ein Ordinariat als Leiter der Staatl. Orthopädischen Klinik München-Harlaching und der Orthopädischen Universitäts-Poliklinik in der Pettenkoferstraße, berufen. Von 1946–1953 war er Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität, viele Jahre Vorsitzender der „Vereinigung für Krüppelfürsorge“ und maßgeblich an der Neufassung des Körperbehindertenfürsorgegesetzes (nicht mehr Krüppelfürsorgegesetz) beteiligt, das 1957 in Kraft trat. Er war Mitbegründer der „Pfennigparade“ zur Betreuung polio-gelähmter Kinder in München. Zu der umfangreichen Monographie „Kinderorthopädie“ seines Mitarbeiters Rupprecht Bernbeck, die 1954 in 1. Auflage in München erschien, hat er das Geleitwort geschrieben [13]. Ein historisches Foto, entstanden um 1905, zeigt Fritz Lange und Georg Hohmann bei einer Klumpfuß-Redression auf dem „Lange-Tisch“ (Abb. 7).

Nachfolger von Georg Hohmann auf dem Münchner Lehrstuhl war Max Lange (1899–1975), ein Neffe von Fritz Lange, bei dem er auch seine orthopädische Ausbildung durchlaufen hatte. Vor seiner Berufung 1954 nach München war er Leiter des Versorgungskrankenhauses in Bad Tölz. Wegen seiner großen Verdienste um die Kriegsversehrten bekam er den Ehrentitel „Vater der Kriegsversehrten“. Wie seinen Vorgängern war ihm aber auch die Kinderorthopädie ein großes Anliegen: Schon 1930 erschien seine Schrift über „Die Endresultate der unblutigen Behandlung der angeborenen Hüftverrenkung“ [14], 1943 die Monographie „Orthopädie und Kinderheilkunde“ [15]. Seine Vorlesungen fanden in der Poliklinik statt und begannen in der 1. Stunde immer mit dem, wie er sagte, „Zentralproblem der Orthopädie“, der angeborenen Hüftluxation.

Sein Nachfolger Alfred Nikolaus Witt (1914–1999) hatte bei Max Lange in Tölz eine harte Schule durchlaufen, war sein Oberarzt und wurde 1954 nach Berlin auf den neu geschaffenen Lehrstuhl an der FU und zum Direktor des Oskar-Helene-Heims berufen. Er hatte dort die Bedeutung der Kinderorthopädie mit der Schaffung einer neuen Kinderabteilung, einer eigenen Station für Dysmelie-Kinder und mit einschlägigen Publikationen [16, 17] hervorgehoben. In seiner Münchner Amtszeit (1968–1982) hat er die Kinderorthopädie weiter gefördert, und es entstand 1980 auf seinen Antrag hin in München das 1. Extraordinariat für Kinderorthopädie in der Bundesrepublik.

Aus der Schule von Max Lange in Bad Tölz kam auch Albert Göb (1918–2001). Göb war von 1955–1982 leitender Oberarzt der Orthopädischen Poliklinik Innenstadt, die sich unter seiner Leitung zu einer selbständigen Abteilung entwickelte mit einer eigenen orthopädischen Werkstatt, einer Röntgen- und Krankengymnastikabteilung und einem großen Turn- und Gymnastiksaal. Das gesamte Spektrum der konservativen und operativen Orthopädie wurde aufgebaut, und es wurden dabei zunehmend klinische und wissenschaftliche Schwerpunkte in der Kinderorthopädie gesetzt, wie z.B. klinisch-experimentelle und biomechanische Studien zur konservativen Therapie der angeborene Hüftluxation und zu Wachstumsvorgängen am coxalen Femurende, ferner der frühe Ausbau der neuen diagnostischen Möglichkeiten der Sonografie nach Graf, sodass von der Poliklinik aus das erste routinemäßige Hüft-Sonografie-Screening in München durchgeführt werden konnte. Von der Poliklinik aus erfolgte auch die routinemäßige Frühbehandlung des angeborenen Klumpfußes mit redressierenden Etappen-Gipsverbänden auf den Neugeborenenstationen in den verschiedenen Kliniken. Im Gymnastiksaal wurde für Schulkinder ein spezielles Haltungsturnen angeboten.

Besonders hervorgehoben werden muss das Spezialgebiet der infantilen Cerebralparese. Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit in der Poliklinik stellte sich für Albert Göb, der auch Landesarzt für Körperbehinderte war, das Problem der langfristigen Behandlung und Betreuung chronisch körperbehinderter Kinder, speziell solcher mit einer Cerebralparese. Er hat dann in einem Raum der Orthopädischen Poliklinik einige CP-Kinder längerfristig zur Behandlung aufgenommen und 1956 einen „Verein zur Förderung spastisch gelähmter Kinder“ gegründet. Unter dessen Trägerschaft entstand 1957 das „Spastiker-Zentrum München“. Der Bedarf war groß, und über Zwischenstationen hat sich das Zentrum auf dem Gelände des Städtischen Altersheims St. Josef an der Garmischerstraße, zunächst im ehemaligen Waschhaus, dann mit An- und Neubauten dort etabliert. Da, wie beim „Krüppel“, die Bezeichnung „Spastiker“ heute negativ konnotiert ist, wurde 2004 der Name in ICP (Integrationszentrum für Cerebralparesen) geändert. Das Spastiker-Zentrum München war die 1. Spezial-Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik, in der die meist mehrfach behinderten CP-Kinder nach dem „Münchner Tageskonzept“ therapeutisch, pädagogisch, psychologisch und schulisch, später auch beruflich im eigenen Berufsbildungswerk (BBW) behandelt und gefördert wurden und werden [18].

In der historischen Rückschau war viel die Rede von den frühen Kliniken, von denen aus sich die Kinderorthopädie in München entwickelte. Daneben wurde und wird auch Kinderorthopädie gepflegt im Klinikum der Technischen Universität Rechts der Isar, ferner, nachdem die Orthopädische Poliklinik Innenstadt 1997 geschlossen wurde, im Klinikum Großhadern sowie in der „alten“ Orthopädischen Klinik Harlaching, jetzt Schön-Klinik, zudem in kinderorthopädischen Abteilungen in Städtischen, Ordens- oder privaten Häusern, und – nicht zuletzt – in vielen Praxen niedergelassener Orthopäden mit der Zusatzbezeichnung „Kinderorthopädie“. An diesen Stätten wird die Tradition der Münchner Kinderorthopädie fortgesetzt.

Prinzipien in der Kinderorthopädie

Das Kind ist kein

kleiner Erwachsener

Dieser Satz von Franz Schede wurde bereits angeführt. Den eigenen Gesetzmäßigkeiten des wachsenden Organismus müssen die therapeutischen Maßnahmen angepasst und modifiziert werden. Das Kind reagiert auch emotional anders als Erwachsene. Der Umgang mit dem Kind und seiner psychischen und sozialen Situation erfordert in besonderer Weise verstehendes Einfühlungsvermögen, viel Geduld und viel Zeit.

Funktionelle Anpassung (Roux,

Pauwels), Form follows function

(Sullivan)

Besonders berücksichtigt werden müssen die Wachstumspotenzen und die Erkenntnisse der funktionellen Anpassung des Gewebes an das Wachstum, wie es Roux [19] und später vor allem Pauwels [20] nachgewiesen haben. Der Grundsatz „Form follows function“, den der amerikanische Architekt Sullivan für die „Architektur der neuen Sachlichkeit“ formuliert hat [21], gilt auch in der Kinderorthopädie, genauso wie der umgekehrte Satz, dass die Form die Funktion beeinflusst. Manche Fehlstellungen können sich im Wachstum spontan ausgleichen, andere brauchen eine gezielte Wuchslenkung, wieder andere erfordern ein sofortiges Handeln. Es gehört viel Erfahrung dazu, den richtigen Zeitpunkt für therapeutische Maßnahmen zu erkennen und den „Kairos“ nicht zu verpassen. Kairos ist in der griechischen Mythologie der Gott des günstigen Augenblicks, der in einem antiken Relief als Jüngling dargestellt ist, der mit Flügeln an den Füßen vorbeieilt (tempus fugit), eine Entscheidung steht „auf Messers Schneide“, man muss ihn an der Haarlocke festhalten, denn wenn man diesen Augenblick versäumt, hilft kein Nachgreifen mehr, hinten ist der Kopf nämlich kahl. Daher kommt auch der Ausdruck: die Gelegenheit „beim Schopfe packen“.

Interdisziplinäre Kooperation

Um bei einem Bild aus der griechischen Mythologie zu bleiben: Über dem Eingangsportal der Poliklinik München ist in einem Relief der Kampf des Herkules mit der neunköpfigen Hydra dargestellt. Da ein abgeschlagener Kopf gleich wieder nachwuchs, konnte Herkules seine Aufgabe nur erfüllen, als er seinen Gefährten lolaos zu Hilfe rief, der nach dem Abschlagen des Kopfes den Halsstumpf sofort mit einem glühenden Holzscheit ausbrannte. Die Lehre: Schwere Aufgaben erfordern meist ein Team, und dafür ist die Kinderorthopädie wieder ein gutes Beispiel. Oft können diagnostische oder therapeutische Probleme nur in Zusammenarbeit mit den klinischen Disziplinen, mit der Neuro- und Sozialpädiatrie, der Pädagogik, dem therapeutischen und orthopädietechnischen Team und der Grundlagenforschung gelöst werden (Abb. 8).

Das (körper-)behinderte Kind in Gesellschaft und Familie

Einige Meilensteine auf dem Weg des (körper-)behinderten Kindes durch die Zeit wurden schon beschrieben: Die Exklusion im Altertum, das „Asyl“ in Pflegeheimen und Hospizen, dann die Stationen mit den Bestrebungen einer Rehabilitation der Kinder, eigentlich „Habilitation“, um sie für die Gemeinschaft „fähig“ zu machen, und dann die medizinische, schulische und berufliche Förderung in Spezialeinrichtungen mit dem Ziel der Integration in die Gesellschaft. Der Weg geht weiter: Den Beschluss einer „Inklusion“ der Behinderten durch die Vereinten Nationen hat 2009 auch Deutschland unterschrieben. Demzufolge soll die Gesellschaft so verändert werden, dass den Behinderten die Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglicht wird, aber auch, dass Behinderte zusammen mit Nichtbehinderten in Regeleinrichtungen ausgebildet werden, eigene Fördereinrichtungen also nicht mehr erforderlich wären. Dieses Programm hat Grenzen, die man akzeptieren muss. Ein schwerst mehrfach behindertes Kind kann, wie lange Erfahrungen gezeigt haben, in einer guten Spezialeinrichtung am besten gefördert werden, zumindest sollten solche Einrichtungen als Alternativen erhalten bleiben. Das Schema zeigt den langen Weg von der Exklusion zur Inklusion (Abb. 9).

Ein krankes oder behindertes Kind braucht auch seine Familie und die persönliche Zuwendung der Eltern und Geschwister, eine immer wieder betonte Forderung der Sozialpädiatrie. Der Erfolg einer Therapie hängt von Mitarbeit und dem Verhalten der Eltern ab, das von Nichtbeachtung bis zur Overprotection reichen kann. Der Kinderorthopäde muss Kind und Eltern behandeln, manchmal die Eltern mehr als das Kind!

In dem Relief des stilisierten Orthopädischen Bäumchens (Abb. 10), das die Münchner Bildhauerin Christine Stadler gestaltet hat, kann man ein gekrümmtes Kind mit einer Kopf-Knospe sehen, das hilfesuchend seine Blatt-Hände ausstreckt. Es ist in Familie und Umwelt verwurzelt, und die Bandagen kann man als korrigierende und stützende Menschenarme und Hände deuten – schöne Symbole kinderorthopädischen Wirkens!

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Siegfried Stotz

Schrämelstraße 88a

81247 München

siegfried.stotz@t-online.de

Literatur

1. Thomann KD: Das behinderte Kind. „Krüppelfürsorge“ und Orthopädie in Deutschland 1886–1920. Stuttgart: G. Fischer: 1995

2. Rüttimann B: Zur Geschichte der Krüppelfürsorge. Gesnerus 1980; 37: 199–214

3. Bayer. Landesschule f. Körperbehinderte (Hrsg.): Festschrift 175 Jahre Bayerische Landesschule für Körperbehinderte. München 2008

4. Stiftung Oskar-Helene-Heim (Hrsg.): 1914–2014: 100 Jahre Oskar-Helene-Heim. Berlin 2014

5. Rütt A: Geschichte der Orthopädie im deutschen Sprachraum. Stuttgart: F. Enke, 1993

6. Lange F: Ein Leben für die Orthopädie. Stuttgart: F. Enke, 1959

7. Locher W: Franz Reisinger (1787–1855) und die Münchener Poliklinik im Jahre 1910. München: Cygnus, 1988

8. Locher W: Poliklinik in der Pettenkoferstraße 100 Jahre alt. Münchner Ärztliche Anzeigen 2010; 22: 17

9. Locher W: 100 Jahre Orthopädische Klinik (Harlachingerstraße). Münchner Ärztliche Anzeigen 2013; 25: 19

10. Lange F (Hrsg.): Lehrbuch der Orthopädie. Stuttgart: G. Fischer, 1. Aufl. 1914

11. Lange F, Spitzy H: Chirurgie und Orthopädie im Kindesalter. In: Handbuch der Kinderheilkunde, Hrsg.: Pfaundler M, Schlossmann A, 5. Band, Leipzig: Vogel, 1915

12. Schede F: Grundlagen der körperlichen Erziehung. Stuttgart: F. Enke, 3. Aufl. 1954

13. Bernbeck R: Kinderorthopädie. Stuttgart: Thieme, 1. Aufl. 1954

14. Lange M: Die Endresultate der unblutigen Behandlung der angeborenen Hüftverrenkung. Stuttgart: F. Enke, 1930

15. Lange M: Orthopädie und Kinderheilkunde. Arch. Kinderheilk 1943; Beiheft 21, Stuttgart

16. Witt AN: Die Orthopädie und das Kind. Berliner Medizin 1960; 11: 101–103

17. Witt AN: Das Kind als orthopädischer Patient. Münchener Med. Wschr. 1978; 120: 1151–1152

18. Stotz S (Hrsg.): Therapie der infantilen Cerebralparese. Das Münchner Tageskonzept. München: Pflaum 2000

19. Roux W: Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen. Leipzig: Engelmann, 1895

20. Pauwels F: Funktionelle Anpassung des Knochens durch Längenwachstum. Verh. Dtsch. Orthop. Ges., 45. Kongress (1958)

21. Sullivan LH: The tall office building artistically considered. Lippincott’s Magazine 1896; 403–409

Fussnoten

1 München

*Nach einem Vortrag auf der 30. Jahrestagung der Vereinigung für Kinderorthopädie (VKO) in München am 11.03.2016

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