Originalarbeiten - OUP 09/2013

Konservative Versorgungsrealität am Beispiel der Behandlung der symptomatischen Gonarthrose
Ein Diskussionsbeitrag zum Thema „Implantieren wir wirklich zu viel?“Personal opinion with regard to the question: „Do we really perform too much total knee arthroplasties?“

J-D Rompe1

Zusammenfassung: Die Behandlung der fortgeschrittenen symptomatischen Gonarthrose ist mit der Verbreitung der modernen Knieendoprothetik in Kombination mit der DRG-Abrechnung zu Ungunsten des konservativen Vorgehens aus dem Gleichgewicht geraten. Das Grundvertrauen der Patienten in die uneigennützige Indikationsstellung durch den die Operation anbietenden Arzt ist erschüttert.

Der Artikel stellt die Möglichkeiten der unterfinanzierten
ambulanten konservativen Therapie zur Diskussion mit dem Tenor „möglichst wenig Aufwand – möglichst billig – möglichst schnell“. Um die im europäischen Vergleich in Deutschland zu häufig gestellte Indikation zur Knieendoprothese zurückzufahren, wäre aus meiner Sicht jedoch genau das Gegenteil erforderlich: eine zeitaufwendige, auf die Bedürfnisse des Patienten eingehende Versorgung, mit umfassenden nicht-budgetierten Angeboten zu Physiotherapie, manueller Therapie, Orthesenversorgung, psychologischer Betreuung und diätetischer Anleitung. Vor diesem Hintergrund ist noch einmal explizit darauf hinzuweisen, dass die arthroskopische Operation des symptomatischen Arthroseknies zur Schmerzlinderung nicht evidenzbasiert und nur in wenigen Ausnahmefällen leitliniengerecht ist.

Schlüsselwörter: Kniegelenkarthrose, Kniegelenkendoprothetik, konservative Therapie

 

Zitierweise

Rompe JD: Konservative Versorgungsrealität am Beispiel der Behandlung der symptomatischen Gonarthrose. OUP 2013; 7: 414–419
DOI 10.3238/oup.2013.0414–0419

 

Abstract: Worldwide, surgery is only indicated for symptomatic knee osteoarthritis when conservative measures are unsuccessful. Why then, in comparison with other European countries, is the rate of total knee arthroplasty much higher in Germany?

One of the reasons may be the chronic underfunding of conservative measures. Osteoarthritis of the knee is a chronic disease and as this, its management should be patient-centered and -coordinated, with attention to modifiable risk factors and comorbidities. Focus should be on conservative non-drug treatment, particularly exercise. For overweight or obese patients weight loss is recommended. Of course, management should be evidence-based. Interventions with high cost and risk that outweigh their benefits are to be avoided. The use of paracetamol or non-steroidal anti-inflammatory drugs for pain relief is recommended, with due attention to precautions and contraindications. Patients should be referred to a physiotherapist for exercise, manual therapy and gait aids; to a producer of orthoses for bracing; to a psychologist for cognitive behavioural therapy; and to a dietitian for nutritional advice. Arthroscopy for pain management is not evidence-based. Patients are to be referred for joint replacement only when symptoms are severe and other treatments have failed over a relevant period of time.

Keywords: osteoarthritis of the knee, total knee arthroplasty, conservative management

 

Citation

Rompe JD: Non-operative management of osteoarthritis of the knee is underfunded. OUP 2013; 7: 414–419
DOI 10.3238/oup.2013.0414–0419

Einleitung

Die Behandlung der fortgeschrittenen symptomatischen Gonarthrose ist mit der Verbreitung der modernen Knieendoprothetik in Kombination mit der DRG-Abrechnung aus dem Gleichgewicht geraten.

Die Tagesschau der ARD [1] titelte am 11.4.2013 „In Deutschland sitzt das Skalpell zu locker“ und fährt fort: „Im Jahr 2005 gab es rund 130.000 Knieendoprothesen-Operationen in Deutschland. Im Jahr 2011 waren es 160.000, ein Plus von fast einem Viertel. Warum? Gehen die Knie immer schneller kaputt oder werden die Deutschen immer anspruchsvoller? Nein, sagt Karl Lauterbach. Der SPD-Gesundheitsexperte sieht einen anderen Grund für die steigenden OP-Zahlen: Geld.“

Ihre Fortsetzung fand diese Diskussion jüngst bei Günther Jauch [2] unter dem Titel „Patientenfalle Krankenhaus – unnötige OPs für satte Gewinne? OP-Boom in Deutschland: In kaum einem anderen Land wird so oft das Skalpell angesetzt. Auf 100.000 Einwohner kommen zum Beispiel 295 Hüft-Operationen und 213 Knie-Eingriffe, so eine Studie der OECD. Besonders häufig wird offenbar dort operiert, wo die Konkurrenz zwischen den Krankenhäusern groß ist.“

Vor dem Hintergrund solcher Anwürfe ist es Zeit, den Blick für die aktuelle Behandlungsrealität zu schärfen, und sich und den Patienten nicht andauernd etwas vorzumachen.

4 kritische Fragen stehen im Raum.

1. Implantieren wir zu viel?

Herr Prof. Günther konstatierte als Vertreter der DGOU im Mai 2012, dass in Deutschland die Versorgungsrate mit künstlichen Kniegelenken über den Vergleichszahlen der meisten anderen europäischen Länder mit Ausnahme der Schweiz liegt [3].

Dies wird aktuell von der OECD bestätigt: “Regarding surgical procedures, Germany has the second highest rate of knee replacements” [4]. Danach werden in Deutschland pro 100.000 Einwohner 213 Knie-TEPs implantiert, im OECD Durchschnitt jedoch nur 122.

Und das, wo nach neueren Untersuchungen überhaupt nur 20–30 % der Patienten mit sog. end-stage osteoarthritis eine Knie-TEP in Betracht ziehen [5].

Damit stellt sich (der Öffentlichkeit) gleich die 2. Frage:

2. Implantieren wir so viel, weil es sich für uns lohnt?

Dies wird unserem Berufsstand in Fernsehen (ARD, 14.1.2013 „Vorsicht Operation“ [6]) und Presse (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.1.2013 „Muss es wirklich sein?“ [7]) jedenfalls vorgeworfen: „Ein Krankenhaus verdient kein Geld, wenn es einem Patienten von nicht eindeutig indizierten Knieoperationen abrät. Denn es hat kaum Interesse daran, lukrative Operationen zu vermeiden.“

3. Implantieren wir so viel, weil es sich für die Patienten lohnt?

Unbestritten gehört die Versorgung mit künstlichen Gelenken mit zu den effektivsten Behandlungsmaßnahmen in der modernen Medizin, so Prof. Günther für die DGOU in 2012 [3].

Allerdings wird über die Definition von Effektivität gestritten. Es gibt unzweifelhaft Unterschiede zwischen dem Ziel, das der Operateur mit der Implantation einer Knieendoprothese verfolgt und zwischen dem, was die Patienten sich von dieser Operation erwarten.

Für 85 % der Patienten ist es entscheidend, so z.B. Mannion et al. [8] stellvertretend für zahlreiche andere Untersuchungen, nach der Implantation einer Knieendoprothese schmerzfrei zu sein. Erfüllt werden konnte diese Erwartung jedoch bei lediglich 43 % der Patienten.

4. Implantieren wir so viel, weil sich die konservative Therapie nicht mehr lohnt?

Die bittere Wahrheit, so nachzulesen im meinen Patienten wärmstens ans Herz gelegten Ratgeber „Meine Rechte als Patient“ von Herrn Rechtsanwalt Baczko [9] ist nämlich, „... dass seit Jahren Politiker aller Parteien den falschen Eindruck vermitteln, der sozialversicherte Patient hätte Anspruch auf die bestmögliche, also optimale Behandlung.

Es wird völlig verschwiegen, dass die GKV ihren Mitgliedern ambulant nur eine absolut minimale Versorgung zugesteht. Leistungen der GKV müssen vom Gesetz aus ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein.

Es ist also gesetzlich geregelt, dass der GKV-Patient ein Patient 2. Klasse ist.“

Für mich als „Kassen”-Arzt in Rheinland-Pfalz bedeutet diese Vorgabe: 38 Euro Umsatz lassen sich maximal für die Behandlung eines Patienten in 3 Monaten generieren. 10 Euro stehen für die Medikamentenverordnung zur Verfügung. Und 20 Euro im Schnitt für die Verordnung von Physiotherapie – was in etwa einer einzigen KG-Anwendung in 3 Monaten entspricht.

Dies vor dem Hintergrund, dass sich die KV Rheinland-Pfalz als Verwalterin des chronisch unterfinanzierten Budgets in ihrem aktuellen Honorarverteilungsmaßstab dafür entschieden hat, Erst- und Einmalkontakte und -behandlungen nicht zu budgetieren (GOP 18210–18212), jedoch alle weiteren Arzt-Patienten-Kontakte (GOP 18331 und 18311) inklusive der nicht durch die Grundpauschale abgedeckten Diagnostik (z.B. Röntgen, Sonografie, Labor) und Therapie (z.B. Punktionen, Anlage eines fixierenden Verbandes, Infusionstherapie, Chirotherapie, Akupunktur) auf das Niveau des Vorjahrs einzufrieren.

Praktisch bedeutet diese Absurdität, dass ich zurzeit beliebig viele Patienten mehr als im Vorjahr einmal klinisch untersuchen und im Rahmen der Grundpauschale behandeln darf, jedoch auf keinen Fall mehr Zweitkontakte haben oder mehr der o.g. diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen durchführen darf als im Vorjahr. Sollte ich solche Mehrleistungen gegenüber der KV abrechnen, droht der Regress. Das gleiche gilt natürlich auch für Medikamentenverordnungen oder die Verordnung von Physiotherapie, die weder das Vorjahresniveau noch den Fachgruppendurchschnitt relevant überschreiten dürfen.

Ausgenommen von dieser Budgetierung sind, wie es der Name schon sagt, extrabudgetäre Leistungen, wie z.B. ambulant durchgeführte Operationen. Womit wir auch hier wieder bei den 4 oben genannten Fragen wären.

Konservative Therapie

Vor diesem Hintergrund evidenzbasiert zu behandeln ist unmöglich? Nicht ganz.

Denn überraschend viele nicht-operative Therapieformen sind:

  • mit möglichst wenig Aufwand verbunden,
  • möglichst billig,
  • möglichst schnell,
  • und zum Teil sogar evidenzbasiert.

Mein persönliches multimodales Konzept umfasst:

Gewichtsreduktion

Zunächst spreche ich bei den allermeisten Patienten ein im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiges Problem an. Der Durchschnitt meiner Gonarthrose-Patientinnen ist zwischen 1,55 und 1,69 m groß und wiegt zwischen 85 und 110 kg. Das entspricht einem BMI von 35 und mehr. Ich mahne die Notwendigkeit einer Gewichtsreduktion an, denn bereits 5–10 kg weniger führen zu Beschwerdeminderung am Arthroseknie, und zwar unabhängig vom Ausmaß des Arthroseschadens, so Gudbergsen et al. 2012 [10].

Diehl et al. [11] weisen zusätzlich darauf hin, dass bei einem BMI von 35 die Wahrscheinlichkeit für eine Knie-TEP 18-mal höher ist als in einer normalgewichtigen Population. Und jedes Kilo Körpergewicht bedeute biomechanisch eine Mehrbelastung des Knies von etwa 3 kg.

Mein Fazit: Gewichtsabnahme belastet nicht mein Budget und der Nutzen ist evidenzbasiert.

Nahrungsergänzungsmittel

Immer wieder fragen Patienten nach Nahrungsergänzungsmitteln, im Deutschen Ärzteblatt 2008 [12] wurde z.B. die Wirkung der oralen Chondroitinzuführung verneint. Diehl et al. formulieren es diplomatischer, dass eine geringe Schmerzreduktion bei geringem Arthrosegrad möglich sei. Zumindest seien keine gravierenden Nebenwirkungen bekannt.

Mein Fazit: Belastet nicht mein Budget, ist nicht evidenzbasiert.

Schuhaußenranderhöhung

Möglicherweise kann eine Schuhaußenranderhöhung eine Entlastung des medialen Kompartiments bewirken, die AAOS-Leitlinie [13] spricht sich jedoch klar dagegen aus.

Mein Fazit: Nicht evidenzbasiert, liegt im Ermessen des Arztes.

Krankengymnastik

Auch wenn Diehl et al. [11] postulieren, positive Effekte der Krankengymnastik auf Schmerzreduktion und eine Verbesserung der Gelenkfunktion seien in einer Reihe von Studien demonstriert worden: Ich verordne keine Regress-bedrohte KG bei Gonarthrosepatienten, sondern empfehle im Einklang mit der AAOS-Leitlinie [12] Selbstübungen zur Verbesserung der Beweglichkeit und der Kraft.

Mein Fazit: Die Verordnung von Physiotherapie ist extrem regressbedroht und ihr Nutzen nicht evidenzbasiert.

Topische NSAR

Besser in mein von Regress-Befürchtungen bestimmtes „Kein Aufwand“-Konzept passt da die Cochrane-Analyse von Derry et al. aus 2012 [14], wonach die lokale Diclofenac-Anwendung bei Kniegelenkarthrose gleich wirksam ist wie die orale NSAR-Verabreichung.

Mein Fazit daher: Belastet nicht mein Budget und ist evidenzbasiert.

Orale Medikation

Bei der Tablettenverordnung wird im aktuellen Review des British Medical Journals [15] an erster Stelle das rezeptfreie Paracetamol empfohlen, bis zu 4 g/d, ebenso wie von Diehl et al. [11], der auf die Komplikationsmöglichkeit einer schweren Leberfunktionsstörung hinweist.

Mein Fazit: Belastet nicht mein Budget und ist evidenzbasiert.

Besondere Vorsicht ist geboten bei der Verschreibung von sog. nichsteroidalen Antirheumatika. Nach Bennell et al. [15] gilt dies insbesondere bei einer Ulcusanamnese. Dann sollte auf einen Cox-2-Hemmer oder Naproxen ausgewichen werden, jeweils mit Protonenpumpen-Inhibitor.

Bei Patienten, die prophylaktisch ASS 100 einnehmen, ist Ibuprofen kontraindiziert! Ibuprofen verringert die thrombozytenaggregationshemmende Wirkung von ASS und bewirkt eine signifikante Steigerung des Herzinfarkt- und Schlaganfallrisikos [16].

Eine Kontraindikation für jegliche NSAR sind natürlich Patienten mit einer Niereninsuffizienz im Endstadium.

Bei gastrointestinalem Risiko ist laut der CONDOR Studie [17] ein Cox-2-Hemmer alleine besser als ein NSAR in Kombination mit einem Protonenpumpen-Inhibitor. Was die dieses Produkt bewerbenden Pharmavertreter aber zumindest mir erst auf Nachfrage preisgegeben haben, ist, dass keine Patienten mit einem irgendwie gearteten kardiovaskulären Risiko in die Studie aufgenommen wurden. Leider sind das aber meine Standardpatienten.

Bei kardiovaskulären Vorerkrankungen ist bei Cox-2-Hemmern sowie bei längerfristiger Einnahme von Diclofenac oder Ibuprofen mit Komplikationen zu rechnen. Das sicherste Medikament für diese Patientengruppe ist nach wie vor Naproxen. Patienten mit einem zusätzlichen gastrointestinalen Risiko sollten zusätzlich einen Magenschutz einnehmen [18, 19].

Mein Fazit: Belastet mein Budget, ist evidenzbasiert.

Akupunktur

Nach Diehl et al. [11] ist keine andere nicht-operative Heilmethode so gut untersucht. In einer ganz aktuellen Vergleichsstudie wird die Wirksamkeit verschiedener Akupunkturverfahren untersucht. Sie liegt zwischen 48 % und 73 % [20].

Mein Fazit: Belastet mein Budget, die Therapie ist evidenzbasiert.

Kortison-Injektion

Es gibt keinen Konsens, welches Präparat Sie in welcher Dosierung und wie häufig in ein symptomatisches Arthroseknie spritzen sollten. Bennell et al. [15] gestehen im British Medical Journal 3–4 Injektionen alle 3 Monate zu, während Diehl et al. [11] laut Studienlage 3–4 Injektionen im Jahr für indiziert halten. In jedem Fall ist ein kurzfristiger Nutzen belegt.

Mein Fazit: Der erhebliche Aufwand der intraartikulären Infiltration wird nicht gesondert vergütet, die Verschreibung des Medikamentes belastet mein Budget, die Therapie ist evidenzbasiert.

Hyaluronsäure

Die intraartikuläre Verabreichung von Hyaluronsäure zeigt – präparatabhängig – positive länger andauernde Effekte am Arthroseknie, laut Cochrane-Review aus 2009 [21] jedenfalls länger als Kortison.

Zur gegenteiligen Auffassung gelangt eine klassische Meta-Analyse von Rutjes et al. [22] in den Annals of Internal Medicine, in der alle Präparate in einen Topf geworfen wurden. Nach gründlichem Umrühren fand man zusammengefasst keinen „klinisch relevanten“ Therapieeffekt mehr.

Mut macht die Untersuchung von Navarro-Sabia et al. [23], die durch eine wiederholte intraartikuläre Gabe eines Hyaluronsäurepräparats einen klaren und über ein Jahr anhaltenden Effekt gegenüber Placebo zeigen konnte.

Genauso sehen es Diehl et al. [11] für milde bis moderate Arthroseformen.

Mein Fazit: Belastet nicht mein Budget, der Patient zahlt, die Therapie ist evidenzbasiert.

Eigene Ergebnisse

Aufgearbeitet wurden 1297 Gonarthrosepatienten aus den Jahren 2005–2011 mit einer „end-stage osteoarthritis“, die eine Gelenkspaltverschmälerung im Stehend-Röntgen und Arthrosezeichen der Ausprägung Kellgren/Lawrence Grad 3 oder 4 aufwiesen und die vor und mindestens ein Jahr nach Therapiebeginn untersucht und mittels des validierten Oxford-Knee-Scores (OKS) evaluiert werden konnten. 866 Patienten waren weiblich. Das Durchschnittsalter aller Patienten lag bei 65 Jahren. 685 Patienten wurden mit einer Knie-TEP versorgt. Die übrigen wurden multimodal wie oben beschrieben konservativ behandelt (Abb. 1).

Ein Jahr nach Knie-TEP (TKA) erreichten doppelt so viele der Patienten (58 %) ein gutes oder sehr gutes Ergebnis wie nach konservativer multimodaler Therapie (29 %) (Tab. 1).

In meiner Sprechstunde ist, entgegen aller Patientenhoffnungen und entsprechend der üblichen standardisierten präoperativen schriftlichen Aufklärung, auch nach operativer endoprothetischer Therapie das schmerzhafte Knie Alltag.

Denn 19 % der von mir betreuten Patienten erzielten nach Knie-TEP lediglich ein schlechtes Ergebnis im Oxford-Knee-Score (OKS) – bestätigt durch eine aktuelle Langzeituntersuchung von Arthur et al. [24], in dessen Publikation ebenfalls 20 % der Patienten ein schlechtes Ergebnis im OKS erzielten, unabhängig von einer Nachuntersuchungszeit von 5 oder 10 Jahren (Tab. 2).

Diskussion

Nach Knieendoprothesen-Implantation zeigt sich in meinem Praxis-Alltag, wie u.a. von Genet et al. [25] berichtet, oftmals bei eigentlicher guter Funktion eine relativ geringe Patientenzufriedenheit. Es gibt hier die bereits erwähnte Erwartungs-Diskrepanz von Arzt und Patient [8], was dazu führt, dass etwa jeder 4. der von mir betreuten Primär-Knie-TEP-Patienten genauso häufig wegen Beschwerden und Funktionsdefiziten bei mir in der Sprechstunde steht wie vor der OP.

Nicht enthalten in dieser retrospektiven Analyse sind solche Patienten, die sich nach der primären Knie-TEP einer Revisions-Operation unterziehen mussten.

Für Deutschland hat soeben Herr Prof. Niethard [26] Zahlen der AOK vorgelegt, die nach seiner Aussage repräsentativ für alle gesetzlich Krankenversicherten sind. Danach standen in 2011 in Deutschland Revisionen und Primär-Knie-TEPs bereits in einem Verhältnis von 1 : 6, bei einem Anstieg der Revisionen um 43 % seit 2005
und etwa gleichbleibender Primärimplantationsrate.

Und für die USA wird ein Anstieg der Revisions-Operationen um sage und schreibe das 5-fache auf dann 300.000 Revisions-Knie-TEPs bis 2030 prognostiziert. Bei gleichbleibender Primärimplantationsrate würde das auf ein Verhältnis von Revisions-TEP zu Primär-TEP von dann ca. 1 : 2 hinauslaufen [5].

Ist es da nicht verständlich, dass immer mehr medizinische Fachrichtungen außerhalb der Orthopädie und Unfallchirurgie [5, 15] hinterfragen, ob die Knieendoprothetik nun Teil der Lösung oder Teil des Problems ist?

Die statistischen Daten liegen auf dem Tisch, die Unterschiede innerhalb Europas sind so schwerwiegend, dass sie nicht einfach mit Erhebungsmängeln seitens der OECD erklärt werden können.

In Deutschland werden, regional durchaus unterschiedlich, etwa doppelt so viele Knie-TEPs implantiert wie im europäischen Vergleich. Hierfür gibt es viele verschiedene Gründe [26]. Eine „Schuld“-Zuweisung an Einzelne bringt uns nicht weiter.

Soll diese Situation sich ändern, also sollen signifikant weniger Knieendoprothesen in Deutschland implantiert werden, dann ist die Einsicht zu einem Kurswechsel notwendig.

Die „Orthopädie und Unfallchirurgie“ als Fach muss sich der bedrohlichen Situation offensiv stellen und sich (endlich) an die Spitze einer Knieprothesen-Vermeidungs-Strategie setzen, wie diese bereits von Internisten, Allgemeinmedizinern und Epidemiologen gefordert wird, so z.B. im mehrfach zitierten Review-Artikel des renommierten British Medical Journal [15].

In meinen Augen steht nämlich nichts weniger als das Vertrauen der Patienten in die ärztliche Entscheidungsfindung auf dem Spiel. Den Verlust dieses Grundvertrauens zu riskieren, hieße die Axt an unseren Berufsstand zu legen.

Persönlich halte ich 4 Kernpunkte [15] für unausweichlich:

  • 1. Weg von unserer budgetierten konservativen Billig-Medizin hin zu einer zeitaufwendigen, auf die Bedürfnisse des Patienten eingehenden Versorgung, die den Namen auch verdient, die ebenso wie die Knieendoprothesenimplantation adäquat vergütet wird, und deren Durchführung und Koordination originäre Aufgaben der Orthopädie sind.
  • 2. Verzicht und Anstrengung für unsere Patienten, die zu einer Änderung ihres Lebenswandels überzeugt werden müssen. Die Implantation einer Knie-TEP muss in Zukunft an transparente und klare Voraussetzungen geknüpft werden, nicht nur beim operierenden Arzt, sondern auch beim Patienten, nach dem Motto „Fördern und Fordern“.
  • 3. Daher umfassende, nicht-budgetierte Angebote zu Physiotherapie, manueller Therapie, Akupunktur, Orthesenversorgung, psychologischer Betreuung und diätetischer Anleitung im Einzelfall, auch unter stationären Bedingungen.
  • 4. Auf dem Weg hin zur Knie-TEP strikte Zurückhaltung bei der Indikationsstellung für eine arthroskopische Operation des „end-stage osteoarthritis“-Knies entsprechend z.B. aktuellen Leitlinien (der AAOS) [13, 27, 28].

 

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Jan-Dirk Rompe

Orthopädie im Zentrum

Am Damm 17

55232 Alzey

profrompe@web.de

Literatur

1. http://www.tagesschau.de/ausland/zuviele-operationen100.html

2. http://daserste.ndr.de/guentherjauch/guentherjauch317.html

3. http://www.dgou.de/de/presse/Endoprothetische_Versorgung_mit_falschem_Tenor.html

4. Kumar A, Schönstein M: Managing hospital volumes – Germany and experiences from OECD countries. OECD Paris, 2013

5. Bhandari M et al.: Clinical and Economic Burden of Revision Knee Arthroplasty. Clin Med Insights Arthritis Musculoskelet Disord 2012; 5: 89–94

6. http://www.daserste.de/information/ reportage-dokumentation/dokus/
sendung/wdr/2012/vorsicht-operation-130114–104.html

7. http://www.seiten.faz-archiv.de/fas/20130113/sd1201301133751554. html

8. Mannion AF et al.: The role of patient expectations in predicting outcome after total knee arthroplasty. Arthritis Res Ther 2009; 11: R139

9. Baczko M.: Meine Rechte als Patient. Haufe-Lexware 2011. ISBN: 9783648018613

10. Gudbergsen H et al.: Weight loss is effective for symptomatic relief in obese subjects with knee osteoarthritis independently of joint damage severity assessed by high-field MRI and radiography. Osteoarthritis Cartilage 2012; 20: 495–502

11. Diehl P et al.: Konservative Therapie der Gonarthrose. Orthopäde 2013; 42: 125–139

12. Knorpelkuren: Chondroitin unwirksam. Deutsches Ärzteblatt 2008; 105: C58

13. AAOS: Treatment of osteoarthritis oft the knee (non-arthroplasty). Full guideline. 2008

14. Derry S et al.: Topical NSAIDs for chronic musculoskeletal pain in adults. Cochrane Database Syst Rev 2012

15. Bennell KL et al.: Management of osteoarthritis of the knee. BMJ 2012; 345: e4934

16. Cascorbi I.: Drug interactions – principles, examples and clinical consequences. Dtsch Arztebl Int 2012; 109: 546–555

17. Chan FK et al.: Celecoxib versus omeprazole and diclofenac in patients with osteoarthritis and rheumatoid arthritis (CONDOR): a randomised trial. Lancet 2010; 376: 173–179

18. Böger RH, Schmidt G in: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2006, Heidelberg: Springer, 2007: 457–476

19. Naproxen neuer Standard – Zur Kardiotoxizität von Cox-2-Hemmern und herkömmlichen NSAR. a-t 2007; 38: 1–3

20. Karner M et al.: Objectifying specific and nonspecific effects of acupuncture: a double-blinded randomised trial in osteoarthritis of the knee. Evid Based Complement Alternat Med 2013; 2013: 427265

21. Bellamy N et al.: Viscosupplementation for the treatment of osteoarthritis of the knee. Cochrane Database Syst Rev 2009

22. Rutjes AW et al.: Viscosupplementation for osteoarthritis of the knee: a systematic review and meta-analysis. Ann Intern Med 2012; 157:180–191.

23. Navarro-Sarabia F et al.: A 40-month multicentre, randomised placebo-controlled study to assess the efficacy and carry-over effect of repeated intra-articular injections of hyaluronic acid in knee osteoarthritis: the AMELIA project. Ann Rheum Dis 2011; 70: 1957–1962

24. Arthur CH et al.: Ten-year results of the Press Fit Condylar Sigma total knee replacement. Bone Joint J 2013; 95-B: 177–780

25. Genêt F et al.: Change of impairment, disability and patient satisfaction after total knee arthroplasty in secondary care practice. Ann Readapt Med Phys 2008; 51: 671–676.

26. Niethard F: Implantieren wir wirklich zu viel? Orthopädie und Unfallchirurgie Mitteilungen und Nachrichten. 2013; 2: 13–15

27. Howell SM: The role of arthroscopy in treating osteoarthritis of the knee in the older patient. Orthopedics 2010; 33: 652

28. Laupattarakasem W et al.: Arthroscopic debridement for knee osteoarthritis. Cochrane Database Syst Rev 2008

Fussnoten

1 Orthopädie im Zentrum, Alzey

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