Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023

Manuelle Diagnostik und Therapie von Funktionsstörungen der oberen Halswirbelsäule und die Rolle von „Atlasfunktionsstörungen“

Die Geschichte der “Atlastherapien“ geht weit zurück bis in das Ende des 19. Jahrhunderts. 1897 eröffnete D. D. Palmer die erste Schule für Chiropraktik in Davenport/USA, das „Palmer Infirmary and Chiropractic Institute“ [1]. 1931–1934 entwickelte B. J. Palmer dann die sog. HIO-(Atlastherapie) Technik. Hierbei steht HIO für „hole in one“ – das „Loch, das der Atlasbogen umschließt“, in dem der „eine“ Zahn des Axis steckt. Die Therapie erfolgt durch einen seitlichen Impuls auf den Atlasquerfortsatz in Seitenlage der Patientein/des Patienten. Dabei steht die biomechanische Vorstellung im Mittelpunkt, dass mindestens ein Wirbel verschoben oder „subluxiert“ sein muss [2]. Werner Peper aus der Palmer School of Chiropractic kommt als Mitglied der US Army nach dem 2. Weltkrieg nach Velbert/Deutschland und bringt hier 1953 ein Einführungsbuch chirotherapeutischer Griffe heraus, erschienen im HAUG Verlag [3]. Nur 2 Jahre später veröffentlicht der schwedische Chiropraktor Lars B. Sandberg, ebenfalls aus der Palmer School of Chiropractic, der nach dem 2. Weltkrieg ebenfalls nach Deutschland/Hamm kam, ein Buch über eine neue spezielle Röntgenaufnahmetechnik nach der Palmer-HIO-Methode: „Atlas und Axis“ [4]. Röntgenaufnahmen der Kopfgelenke nach Sandberg sind noch heute ein Begriff, der deutschen Radiologinnen und Radiologen nicht fremd ist. Der Deutsche Arzt Gottfried Gutmann trifft beide in Velbert und Hamm und eröffnet 1950 eine Praxis zusammen mit Sandberg, in der er die HIO-Technik weiter entwickelt. Er macht sich erstmals auch Gedanken über die physiologischen Wirkungen der tradierten Handgriffe weg von der streng biomechanischen Lehre. „Die genaue Analyse der myogenen Afferenzen durch die osteopathische Schule ist eine große Hilfe für die Klärung des Effektes einer gezielten manuellen Behandlung.“ [5].

Ebenfalls in der Nachkriegszeit entwickelte der elsässische Arzt Albert Arlen eine manuelle Therapiemethode, deren Ausgangspunkt ebenfalls die Beobachtung einer asymmetrischen Stellung des Atlas im Röntgenbild gegenüber den Okziputkondylen darstellte [6]. Arlen versuchte den Atlas wieder „in die Neutralstellung“ zu bringen, zu „symmetrisieren“. Er übte mit dem Mittelfinger einen kurzen kräftigen Stoß auf den Atlasquerfortsatz in Richtung der gedachten Symmetrie bei der/dem sitzenden Patientin/Patienten ohne Rotation des Kopfes aus. Der Effekt bewirkte empirisch eine Besserung der vorbestehenden zervikozephalen Syndrome wie Kopf- und Nackenschmerzen und vegetativen und neurologischen Begleiterscheinungen (Schwindel, Übelkeit etc.). Nach Anfertigung von Röntgenkontrollaufnahmen stellte Arlen fest, dass trotz eindrucksvoller Therapieergebnisse die Stellung des ersten Halswirbelkörpers unverändert war [7]. Wilfried Coenen (ÄMKA) stellt 2010 zur Atlastherapie nach Arlen fest, dass der neurophysiologische Hintergrund dieser Erfahrungen bislang nicht eindeutig geklärt sei, die Richtigkeit der Regel sich aber ex juvantibus aus der Wirksamkeit bestätige [8]. Coenen und Mitarbeiter veröffentlichten 2015 ein Konzept für die Festlegung der Behandlungsrichtung der Atlastherapie nach Arlen, welches sie als „3-Zeichen-Test“ bezeichnen und welches auf der Analyse von nozizeptiven Druckpunkten im Nacken und dem kinesiologischen Armlängentest (Applied Kinesiology) beruht [9]. Andere Ansätze (HIO), insbesondere der Gruppe um Sacher und Mitarbeiter (ZiMMT), sind ebenfalls publiziert und haben zur weiteren Verbreitung der Methode beigetragen [10].

Behandlungsbeispiel 1
(Erwachsene Patientin)

24-jährige Hürdenläuferin auf nationalem Wettkampfniveau stellt sich vor mit Knieschmerzen links unter Belastung.

Anamnese: Knieschmerzen sind medial bis retropatellar ziehen, bestehen seit ca. 10 Tagen und beeinflussen das Training einmal durch den Schmerz, aber auch durch eine gewisse Unsicherheit in der Landephase nach dem Überspringen der Hürde. Der Sportorthopäde des Vereins hat das Knie bereits gesehen und keine strukturelle Störung feststellen können. Erst auf explizite Nachfrage berichtet die Patientin, dass auch rechtsbetonte leichte Kopfschmerzen vorhanden sind, die für sie aber nicht im Vordergrund stehen.

Orientierender Untersu-chungsbefund: Im Stand fällt eine leichte Minderbelastung des linken Kniegelenks auf, die Spina iliaca posterior superior (SIPS) steht links ca. 0,5 cm tief, die Spina iliaca anterior superior (SIAS) links ca. 0,5 cm hoch. Es findet sich ein Anfangsvorlauf links im Stand, der im Sitz weniger deutlich ist. Schulterhochstand rechts, spontane Kopfhaltung in leichter rechts Seitneige und links Rotation.

In der regional orientierenden Untersuchung zeigt sich am Knie eine leichte Hemmung der physiologischen Überstreckung im Vergleich zur Gegenseite. Im Bereich der Halswirbelsäule ist orientierend sowohl aktiv als auch passiv die Gesamtrotation nach rechts und die Seitneige nach links vor allem in der obersten Etage eingeschränkt.

Manualmedizinisch gezielte Untersuchung: Es findet sich am Knie eine eingeschränkte Extension in Außenrotation bei normalem Befund in Innenrotation. Die tibiale Verschiebung nach lateral ist quantitativ vermindert im Vergleich zur Gegenseite, die Verschiebung nach medial ist entsprechend quantitativ vergrößert. Im Bereich des Beckens findet sich eine hypomobile Dysfunktion des Sakroiliakalgelenkes links. Im Bereich der oberen Halswirbelsäule sind vorrangig die Anteflektion in C0/1, die Seitneige C0/1 nach links und die Rotation C1/2 nach rechts gestört.

Wertung: Es findet sich ein Pseudomeniskussyndrom nach Forte [11] auf dem Boden einer muskulären Spannungsstörung, ausgelöst durch eine hypomobile Funktionsstörung im Bereich der Kopfgelenke unter Einbeziehung einer sakralen Beckenfunktionsstörung.

Behandlung

Die Therapie wendet sich zuerst der obersten Region, nämlich der der Kopfgelenke zu. Es erfolgt eine Traktions-Seitneigemanipulation der Seitneige C0/1 in die gestörte Richtung. In der Kontrolluntersuchung haben sich die Anteflektionsstörung C0/1 und die Rotationsstörung C1/2 durch die Manipulation ebenfalls reflektorisch reguliert. Die aktive und passive Beweglichkeit in diesem Bereich ist jetzt frei. Ebenso stehen SIAS und SIPS jetzt auf einer Ebene und der Anfangsvorlauf ist nicht mehr nachweisbar, sodass im Bereich des Beckens keine weitere Behandlung notwendig ist. Die aktive und passive Extension im linken Kniegelenk in Neutralstellung ist noch leicht seitendifferent, sodass sich hier eine Mobilisation mit Translation der Tibia von lateral nach medial (nach Forte [11]) anschließt. Danach ist die Extensionshemmung behoben.

Eigenübungen

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