Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023

Manuelle Diagnostik und Therapie von Funktionsstörungen der oberen Halswirbelsäule und die Rolle von „Atlasfunktionsstörungen“

Zum Erhalt der verbesserten Funktion im Augenblick wird ein sensomotorisch fazilitierendes Training als Hausaufgabe über 14 Tage, 5 x täglich über 5 Minuten eingeübt und mitgegeben. Trainingsaufbau wird über Gehen für 2 Tage und Läufe ohne Sprünge in der Ebene für weitere 2 Tage empfohlen. Dann weiterer Trainingsaufbau nach Befinden.

Ergebnis: Rückmeldung des Trainers nach 1 Woche: Patientin ist wieder voll im Training ohne weitere Schmerzangaben oder koordinative Unsicherheiten.

Behandlungsbeispiel 2 (Säugling)

Patient L. S., männlich

Erstuntersuchung und
Erstbehandlung (Alter 7,5 LW)

L. wurde in der 40. + 2 SSW als 2. Kind spontan und gesund aus der ersten vorderen Hinterhauptslage entbunden. Er zeigte eine deutliche Kopfvorzugshaltung rechts mit deutlicher rechtsbetonter Plagiocephalie, eine Einschränkung der aktiven HWS-Linksrotation und Stillprobleme an der rechten Brust der Mutter beim Anlegen in Wiegehaltung. Es bestanden eine Überstreckungstendenz bei Lagewechseln und beim Schreien sowie deutliche Unruhe. In Bauchlage legte L. den Kopf spontan in Rechtsrotation ab. Der Galant-Reflex war nur asymmetrisch auslösbar, bei der Traktionsreaktion war die HWS reproduzierbar in Rechtsseitneige eingestellt. Die passive Flexion und Linksrotation sowie Linksseitneige der HWS waren eingeschränkt, die suboccipitale Muskulatur berührungsempfindlich und hyperton.

In der gezielten Untersuchung (siehe Abb. 1) zeigten sich eine Funktionsstörung der Flexion und Rechtsseitneige im Segment C0/1, welche weich mobilisiert wurde. Direkt anschließend waren die passive Flexion sowie die aktive und passive Linksrotation frei. Der Galantreflex als Resultat der veränderten Afferenz aus der Schlüsselregion war seitengleich auslösbar. Der Traktionstest war nahezu unverändert, weshalb Hausübungen zur Fazilitation der Linksseitneige angeleitet wurden. Tonus regulierendes Handling und Intensivierung der Bauchlage wurden erarbeitet, eine Wiedervorstellung nach 10 Tagen vereinbart.

Nachuntersuchung und -
-behandlung (Alter 9,1 LW)

L. zeigte keine Kopfvorzugshaltung mehr und ließ sich an beiden Seiten gleich gut anlegen. Die Überstreckung trat seltener auf. L. war ruhiger und schlief gut. Die Bauchlage wurde gut toleriert.

Die aktive und passive HWS-Rotation, Galant-Reflex und Traktionstest waren symmetrisch. Lediglich bei der passiven HWS-Flexion fand sich eine Spannungserhöhung, die L. offenbar als störend empfand und kommentierte. In der gezielten Untersuchung fand sich jedoch keine Gelenkfunktionsstörung mehr, es wurde weich myofaszial behandelt. Anschließend war auch die Flexion weich einstellbar.

Wiedervorstellung auf Wunsch der Mutter (Alter 4,5 Monate)

Die Wiedervorstellung erfolgte wegen der rückläufigen, aber noch sichtbaren Plagiocephalie. L. zeigte keinerlei Auffälligkeiten in der Bewegungsentwicklung, kommunizierte und lautierte altersentsprechend. Die aktive und passive Bewegungsprüfung waren symmetrisch, es lag keine Überstreckung mehr vor. Eine Behandlung fand deshalb nicht statt. Die Mutter wurde beruhigend über die zu erwartende längere Zeitdauer bis zur weiteren Korrektur der Plagiocephalie aufgeklärt.

Behandlungsbeispiel 3 (Säugling)

Patient B. F. B., männlich

Erstuntersuchung und
Erstbehandlung (Alter 13,3 LW)

B. wurde in der 39. + 5 SSW als 1. Kind spontan aus der ersten hinteren Hinterhauptslage entbunden. Die Geburt dauerte 30 Stunden. Er zeigte eine deutliche Kopfvorzugshaltung links mit aktiv und passiv eingeschränkter HWS-Rechtsrotation, der Labyrinthstellreflex (LSR) fehlte rechts, der Traktionstest war auffällig (ventrale HWS-Stabilisation unzureichend). Es lag eine ausgeprägte Plagiocephalie linksbetont vor. Weiterhin fielen eine unbeholfene Bauchlage mit o.g. Kopfvorzugshaltung und eine hohe Spannung im Bereich der oberen Thoraxapertur auf. Insgesamt jedoch war der Muskeltonus eher hypoton. B. zeigte keinen gezielten Hand-Hand-Kontakt, das Greifen eines Spielzeugs mit beiden Händen war nicht möglich.

Bei der gezielten Untersuchung fand sich eine Gelenkfunktionsstörung der Linksseitneige in C0/1, die erfolgreich behandelt wurde. Anschließend waren die aktive und passive Rechtsrotation frei. Hausübungen zur Intensivierung der Bauchlage, Verbesserung der Kopfkontrolle und Tonus regulierendes Handling wurden angeleitet. Wegen einer geplanten längeren Reise der Eltern wurde eine zügige Wiedervorstellung vereinbart.

Nachuntersuchung und
-behandlung (Alter 14,1 LW)

Die aktive und passive Bewegungsuntersuchung der HWS zeigte keine Asymmetrie mehr. B. zeigte einen guten Hand-Hand-Kontakt. Der LSR war seitengleich auslösbar. Die Bauchlage sowie der Traktionstest waren weiter auffällig, ebenso die hohe Spannung im Bereich der oberen Thoraxapertur. Es lagen keine Gelenkfunktionsstörungen mehr vor, weshalb Tonus regulierende myofasziale Techniken im Bereich der oberen Thoraxapertur und des thorakalen Diaphragmas eingesetzt und den Eltern als Hausübung aufgetragen wurden.

B. profitierte sichtlich von der verbesserten Afferenz in Bezug auf das Finden der Mittellinie, welches auch für die weitere motorische Entwicklung, z.B. für das Drehen unerlässlich ist.

Eine Kontrolle der motorischen Entwicklung nach dem 4-wöchigen Auslandsaufenthalt der Familie wurde wegen der unveränderten myofaszialen Befunde und der leichten Entwicklungsverzögerung empfohlen.

Einordnung der Atlastherapien in manualmedizinische Lehrkonzepte

Die moderne manuelle Medizin und Therapie berücksichtigt funktionell alle Körpersysteme. Sie basiert auf naturwissenschaftlichen Grundlagen und ist in den letzten Jahren insbesondere durch Einflüsse aus der modernen Osteopathie geprägt. Die Entwicklung der Erklärungsmodelle distanziert sich zunehmend von biomechanischen Modellen und favorisiert eine mehr neurophysiologische Sichtweise. Gegenwärtig haben sich die deutschsprachigen Ärzteseminare für Manuelle Medizin (u.a. ÄMM, MWE, DGMSM) verständigt, dass die „reversible hypomobile artikuläre Dysfunktion“ also die artikuläre Bewegungsstörung, die Grundlage für gezielte manualmedizinische Mobilisation und Manipulation ist [12]. Diese Dysfunktion bezeichnen wir als „Blockierung“ [12]. Der Blockierungsbegriff schließt die reflektorischen Begleitphänomene ein:

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