Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023

Manuelle Diagnostik und Therapie von Funktionsstörungen der oberen Halswirbelsäule und die Rolle von „Atlasfunktionsstörungen“

Die Einflussnahme auf Kopfgelenksstörungen und damit auf die komplexen reflektorischen Funktionsketten durch Techniken mit oder ohne Setzen eines Impulses (Manipulation, Mobilisation in verschiedenen Varianten, z.B. Positionierung) ist tägliche Routine in einer manualmedizinischen oder manualtherapeutischen Praxis. Die komplexe Einflussnahme auf das sympathisch-parasympathische System durch Atlasimpulstherapie nach Arlen zeigte die Arbeitsgruppe um Kopp 2017 in einer Studie zur Änderung der Herzratenvariabilität nach Impulssetzung [18]. Exemplarisch für die Wirksamkeit derartiger Verfahren stellten sich die Autoren folgende Fragen:

  • 1. Wirkt die Atlasimpulstherapie nach Arlen unmittelbar auf das Sympathikus-Parasympathikus-System?
  • 2. Wirkt Manualtherapie bzw. Osteopathie einschließlich des Atlasimpulses nach Arlen und der Beeinflussung der Kiefergelenke bzw. des kraniomandibulären Systems mittels Aufbissbehelfen unmittelbar auf die zerebralen Funktionen?
  • 3. Ist bei diesen Eingriffen Nachhaltigkeit gegeben?
  • 4. Wenn diese Fragen positiv beantwortet werden können, welche Bedeutung haben diese Ergebnisse für die manuelle bzw. osteopathische Medizin?

Die Autorinnen und Autoren zeigten, dass die Impulstherapie nach Arlen zu einer direkten Einflussnahme auf die Herzratenvariabilität führt und den sog. autonomen Regulationsindex verändert. Sie wiesen weiter nach, dass der korrekte Impuls in die „richtige Richtung“ in Bezugnahme auf die festgestellte Funktionsstörung zu einer Verbesserung der Ausgangswerte führte, während ein ungezielter Impuls in die „falsche Richtung“ zu einer Verschlechterung des Regulationsindexes führte. Die Autoren interpretierten ihre Beobachtungen so, dass bei „falschem Impuls“ der Sympathikus im Sinne einer Stressreaktion aktiviert wird, während der „richtige Impuls“ das parasympathische System stärkt.

Auch wenn zunächst nur eine Einzelfallbeschreibung publiziert wurde, zeigen die publizierten Ergebnisse doch deutlich, welche Einflussnahme auf regulative Systeme durch reizapplizierende Verfahren im Bereich des Atlas und der Kopfgelenke C0 bis C3 einerseits möglich ist und andererseits auch, wie komplex die Materie ist.

Spezielle Aspekte bei
Heranwachsenden

Zusätzlich zu den oben berichteten Aspekten sind bei der Diagnostik, Behandlungsplanung und Therapie von Funktionsstörungen neben den anatomischen Besonderheiten des heranwachsenden Individuums die altersphysiologischen sensomotorischen Entwicklungsprozesse ebenso zu kennen und zu beachten wie psychische Aspekte von Kindern und Eltern.

Auch bei Heranwachsenden ist eine Indikationsstellung für manualmedizinische Eingriffe, gebunden an die Befunderhebung im Sinne einer reversiblen hypomobilen Dysfunktion. Im Säuglingsalter finden sich Hinweise auf das Vorliegen einer reversiblen proprorezeptiven Koordinationsstörung durch Befunde wie persistierende Haltungs- und Bewegungsasymmetrie, auffällige Kopf- und Rumpfkontrolle in Kombination mit vegetativen Dysregulationen und einer auffälligen sensomotorischen Entwicklung [19]. Bekannter und synonym verwendet sind hierfür Begriffe wie kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung (KISS), kopfgelenkinduzierte Dyspraxie und Dysgnosie (KIDD-Syndrom), Tonusasymmetriesyndrom (TAS) oder sensomotorische Dyskybernese (SMD) zu nennen. Hierzu stehen aus manualmedizinischer Sicht verschiedene erfolgversprechende Ansätze der Diagnostik und Therapie zur Verfügung.

2021 gelang es einer Arbeitsgruppe des ZiMMT erstmals in einer randomisiert kontrollierten doppelblinden Multizenterstudie den Effekt einer einmaligen manualmedizinischen Behandlung im Bereich der Kopfgelenke bei Säuglingen wissenschaftlich evidenzbasiert nachzuweisen [20]. In einem aufwändigen Setting wurden die Säuglinge vor und nach einer Behandlung oder Nichtbehandlung videobasiert von einer/einem unabhängigen Untersucherin/Untersucher nach einem definierten Score mit Schwerpunkt der Kopfkontrolle eingeschätzt. Die Zuteilung zur Behandlungs- oder Kontrollgruppe erfolgte nach dem Zufallsprinzip. Die Behandlung oder Nicht-Behandlung erfolgte unter Ausschluss der Eltern, sodass auch hier keine Beeinflussung durch eventuelle Erwartungshaltungen möglich war. In den Kontrollbewertungen zeigte sich nach 4 Wochen ein deutlicher Gewinn der behandelten Kinder bezogen auf die Kopfkontrolle gegenüber den nicht behandelten Kindern.

Es ist nicht Ziel dieses Artikels, diese Thematik zu vertiefen, jedoch ist hervorzuheben, dass hier erstmals eine echte RCT-Studie im Bereich der Manualmedizin gelungen ist, wenn auch in dem Nischensegment der Säuglingsbehandlung. Es soll angemerkt werden, dass gerade Heranwachsende jeden Alters bei nachgewiesenen arthromyoviszerofaszialen Funktionsstörungen von funktionsverbessernden Therapien profitieren, um die Entstehung unphysiologischer Haltungs- und Bewegungsmuster und Asymmetrien ebenso abzuwenden bzw. zu minimieren, wie ggfs. resultierende Entwicklungsverzögerungen. Hierzu ist eine vertrauensvolle und vorurteilsfreie Zusammenarbeit zwischen ärztlichen und physiotherapeutischen Behandlerinnen und Behandlern sowie ggf. auch von Hebammen und Erzieherinnen/Erziehern unerlässlich, um den komplexen Diagnostik- und Behandlungsansatz umzusetzen – so sehr „die schnelle Lösung mit maximalem Erfolg“ heute dem Zeitgeist entspricht. Umsetzbar ist diese Erwartung in einer Zahl von Fällen [19, 20], häufig genug nicht. Einzufordern ist sie nie.

Autorenkonsensus –
Fazit für die Praxis

Die Kopfgelenkregion stellt eine Schlüsselregion zur Vermittlung reflektorischer Phänomene dar und besitzt im Verständnis der Manuellen Medizin durch die lokale Rezeptorendichte hohe therapeutische Potenz. Hierbei sind die Erfassung von Funktionsstörungen und deren therapeutische Beeinflussung wesentlich mehr abhängig von den palpatorischen Fähigkeiten als von der letztlich verwendeten Technik oder dem zugrundeliegenden Erklärungsmodell. Ein klassischer funktionsmedizinscher Untersuchungsgang zur Erfassung von ggf. gestörten Funktionsketten mit Nachuntersuchung nach erfolgter Behandlung und mit entsprechender Dokumentation ist für die Nachvollziehbarkeit des Diagnostik- und Behandlungsverlaufes zu empfehlen.

Der manualmedizinischen Funktionsdiagnostik ist eine ärztliche strukturelle Differentialdiagnostik vorgeschaltet, ggf. unter zurückhaltender Einbeziehung bildgebender Verfahren bei entsprechendem Verdacht (red flags). Die primäre Magnetresonanztomographie hat hier höheren Stellenwert als die klassische Röntgendiagnostik. Eine Röntgendiagnostik aus ausschließlich manualmedizinischer Indikation ist in jedem Alter obsolet.

Therapeutisch ist unverändert die Manipulation in geschulter ärztlicher Hand ein geeignetes Mittel, schnell und sicher Funktionsstörungen zu beheben und reflektorische Spannungsphänomene zu beeinflussen. Die Atlastherapie nach Arlen wie auch die HIO-Methode oder die klassische Manipulation der Kopfgelenke nach den Lehrkonzepten der 3 großen manualmedizinischen Seminare leistet hierzu einen wesentlichen Beitrag. Alternativen, auch ohne Applikation eines Impulses – sog. weiche Techniken – bestehen und haben ähnliche Erfolgsaussicht.

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