Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023

Manuelle Diagnostik und Therapie von Funktionsstörungen der oberen Halswirbelsäule und die Rolle von „Atlasfunktionsstörungen“

verspannte Muskeln des Gelenks,

palpierbare empfindliche Stellen im Muskel oder an seinen Ansätzen,

Irritationszonen und Referenzpunkte,

(schmerzhafte) reflektorische Zeichen an der Körperdecke über dem Gelenk [12].

Die Blockierung ist also eine komplexe klinische Störung [13]. In der Behandlung nutzen wir entsprechend vor allem neuroreflektorische Phänomene, speziell propriozeptive Stimulationen über Aß-Fasern, die über GABAerge Interneurone die Aktivität der WDR (wide dynamic range neurons) dämpfen und damit detonisierende Effekte auslösen [12]. Verbindungen zum sympathischen System erklären die sogenannten RAK (reflektorisch algetische Krankheitszeichen) wie Rötung, Piloarrektion und veränderte Schweißsekretion [14]. Diese weniger biomechanische Sichtweise lässt auch eine größere Vielfalt an Behandlungsmöglichkeiten zu. Während die klassisch chiropraktischen Techniken ursprünglich zum Ziel hatten, verschobene Wirbel an der „falschen Barriere“ zurückzuschieben, wissen wir aus den Untersuchungen von Arlen, dass die Mechanismen andere sein müssen. Verschiedene Schulen behandeln also nicht mehr nur an der Barriere, sondern auch von der Barriere weg in die freie Richtung, stellen den Ort der geringsten Spannung ein oder folgen dem Gewebe. Wichtig ist, eine neurophysiologische Afferenzänderung zu erreichen, damit sich das System neu justieren kann. Auf welche Weise das erreicht wird, bleibt dem Behandler überlassen.

Bezogen auf die Region der oberen Halswirbelsäule sind diese Effekte besonders eindrücklich, da die tiefen Nackenstrecker als sog. Nackenrezeptorenfeld sehr dicht mit Rezeptoren besetzt sind [15]. Weiterhin sind die nervösen Strukturen im Sinne einer cervical-diencephalen Konvergenz eng miteinander verbunden [16]. Es treffen somatosensorische Afferenzen aus den Hinter- und Vorderwurzeln C2 und C3 (C4) mit extrem hoher Rezeptordichte der Ligamente, Kapseln und Muskeln mit dem Trigeminus V1, V2 und V3, einschließlich der meningealen Afferenzen und den Hirnnerven VII, IX, XI, X und XII zusammen [15].

Für alle 3 großen manualmedizinischen Schulen in Deutschland gelten die Kopfgelenke mit Atlas und Axis zu den Schlüsselregionen, deren ungestörte Funktion entscheidend ist für untergeordnete Regionen der Wirbelsäule und der allgemeinen Tonusregulation, Sensomotorik und Koordination. Besonders eindrücklich ist dies bei Säuglingen und Kleinstkindern zu sehen, wo das motorische Lernen mit der Entwicklung der Kopfkontrolle beginnt. Ohne adäquate Kopfkontrolle ist keine gezielte Wahrnehmung der Umwelt, kein aktives Drehen oder gar aktive Aufrichtung möglich. Vor allem im Bereich der Manualmedizin bei Säuglingen und Kleinkindern haben damit die Kopfgelenke und in diesem Zusammenhang auch die Atlastherapie besondere Bedeutung. In Deutschland beschäftigen sich neben den großen Seminaren (ÄMM, MWE und DGMSM) vor allem 2 Gruppierungen mit den genannten Themen. Das sind die ÄMKA (Ärztegesellschaft für Manualmedizin bei Kindern und Atlastherapie) und der ZiMMT (Zirkel für Manuelle Medizin und Entwicklungstherapie). Die ÄMKA sieht sich dabei in der Tradition der Atlastherapie nach Arlen, während der ZiMMT die HIO Methode nach Palmer favorisiert. Die großen manualmedizinischen Seminare bieten keine explizite „Atlastherapie“ an, haben aber jeweils natürlich Techniken für die Kopfgelenksregion in ihren jeweiligen Curricula.

Allen hier genannten Ärztegesellschaften und Gruppierungen ist dabei wichtig, eine wie auch immer geartete Atlastherapie oder Therapie der Kopfgelenksregion nicht isoliert zu sehen, sondern als eine Technik, mit der bestimmte Funktionsstörungen gut und hilfreich behandelt werden können. Als Ärztinnen und Ärzten ist uns vor jeder Therapie die gründliche individuelle Anamnese, Untersuchung und Diagnosestellung als medizinischer Standard wichtig. Leider ist die Atlastherapie (ohne Zusatz) ähnlich wie „die Osteopathie“ in Deutschland kein geschützter Begriff und kann von jeder/jedem zugelassenen Heilpraktierin/Heilpraktiker unabhängig von der Qualität ihrer/seiner Ausbildung genutzt werden. Nicht auf die Art der Therapie im Bereich der Kopfgelenke kommt es an, sondern auf die Einbettung in ein Gesamtkonzept, das den Patientinnen und Patienten, eine individuelle und gut begründete Indikation wie auch Qualitätssicherung und wissenschaftliche Grundlagen im Fokus hat.

Diskussion und Evidenzlage

Grundsätzliche Aspekte

Manuelle Medizin wird heute als palpatorische Erfassung segmentaler und somatischer Dysfunktionen und der damit verbundenen sensomotorischen Regulationsstörung verstanden, auf welche therapeutisch Einfluss auf somatosensorische Fehlleistungen nimmt [14]. Hierzu können primär Gelenk, myofasziale Strukturen oder das Viszerum adressiert werden. Grundlage der Intervention ist der palpatorisch erfasste Befund der jeweiligen Störung, um den gesetzten Reiz gezielt segmental zuordnen zu können. Das Symptom spielt in der Diagnostik und Behandlungsplanung eine untergeordnete Rolle [16], wobei Symptomkomplexe, die sich anatomischen Regionen zuordnen lassen, typisch sind:

  • 1. Funktionsstörungen der oberen Halswirbelsäule C0 bis C3: Zervikozephales Syndrom, oberes Zervikalsyndrom – zervikotrigeminale Konvergenz.
  • 2. Funktionsstörungen der mittleren und unteren Halswirbelsäule sub C3 – unteres Zervikalsyndrom, Zervikobrachialsyndrom.

Kopfgelenksstörungen vorrangig der Segmente C0/C1, C1/C2 und C2/C3, aber funktionell auch das Segment C3/4 (sog. Übergangssegment) sind hierbei häufig und in komplexe lokale und nicht lokale Symptomkonstellationen mit gestörten Funktionsketten inkludiert. Diese in typischer Kombination auftretende Störungen werden häufig auch als „Verkettungen“ bezeichnet. Solche typischen Befundkombinationen können in der Manuellen Medizin nach MYERS auch im Sinne eines „Tensegrity Modells“ verstanden werden [17]. Gerade im Bereich der oberen Halswirbelsäule gehen sie jedoch, insbesondere aufgrund der anatomischen Gegebenheiten mit Beziehung hochzervikaler Afferenzen zu den Hirnnerven des visuellen (II bis IV, VI), sensorischen (V, VII; IX, XI, XII) und vestibulocochleären (VIII) Systems weit darüber hinaus. Entsprechende Befundkonstellationen, vermeintlich aus dem Fach Augenheilkunde oder HNO-Heilkunde sind neben zervikogenem Kopfschmerz (C2) und vegetativen Dysregulationsphänomenen (zervikogener Tinnitus, zervikogener Schwindel) möglich und nicht selten [15].

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