Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022

Möglichkeiten der konservativen-physikalischen Therapie in der Behandlung der Arthrose

Medizinische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Einleitung

Die Arthrose ist weltweit die häufigste Gelenkerkrankung bei 33 % der Erwachsenen [14], 33 % davon mit radiologischen Zeichen. Klinisch relevante Arthrosen finden sich bei 8,9 % der Bevölkerung (Knie, Hüfte, Hand). Sie nimmt mit steigendem Alter zu, dabei ist Gonarthrose mit 6 % am häufigsten vertreten. Die Prävalenz in der Dekade über 60 Jahre beträgt 17–24 %, die Prävalenz in der Dekade über 70 Jahre bis 40 %. Beschwerden haben allerdings nur 10–15 %. Das Beschwerdekorrelat mit dem radiologischen Befund beträgt 15 % [15, 16]. Die WHO definierte 2000 diesen Erkrankungskomplex im komplexen klinischen Kontext.

Ätiologisch werden primäre (idiopathische) und sekundäre Gonarthrosen unterschieden, dabei ist der hyaline Knorpel Ziel der Arthrose verursachenden Noxen und Ort der pathophysiologischen Aktion. Störung des dynamischen Gleichgewichtes bei Auf- und Abbau der Knorpelmatrix (Modifikation der metabolischen Chondrozytenaktivität, Katabolisch: Interleukin I, TNF?, Proteinasen, Anabolisch: Insulin-Like-Growth Factor IGF I&II). Überforderung oder Störung dieses Mechanismus führt zu einer Matrixdegeneration, die als Basis der Arthroseentwicklung anzusehen ist. Ätiologisch wirksame Faktoren sind Matrixdegeneration, (frustrane) Reparaturversuche, Begleitsynovitis, Knorpelsubstanzverlust, Sklerose, subchondrale Zysten, Osteophyten, Malalignment, Kongruenzverlust) [7]. Klassische sekundäre Äthiologien sind posttraumatische Zustände, kongenitale Ursachen, metabolische und endokrinologische Ursachen, aseptische Osteonekrosen.

Für die physiotherapeutische Betrachtung sind diese Ursachen nicht allein zu betrachten, sondern das Gelenk als komplexes Teil des Bewegungssystems mit den Bewegungsorganen Gelenk einschließlich Kapsel und Menisken, Muskulatur, Sehnen, Bänder, Faszien, Viscerum und sensomotorischer Steuerung zu sehen. Zum anderen ist das Gelenk funktionell in Bewegungsketten eingebunden und damit häufig betroffen bei Störungen benachbarter Strukturen (Abb. 1) [24].

Die Diagnostik muss zum Ziel haben, die Arthrose in ihrem funktionellen Zustand zu detektieren, den strukturellen Befund und vor allem die funktionelle Störung zu klassifizieren, sowie die Beeinträchtigung des Patienten zu beschreiben. Dazu ist neben der ICD-Klassifikation die Einbeziehung der ICF-Klassifikation hilfreich, d.h. die Einschätzung der Aktivität und der Partizipation des Patienten durch Selbst- oder Fremdbeurteilungsinstrumente.

Klassisch einbezogen sind die Anamnese, speziell die Schmerzanamnese, die funktionelle klinische Untersuchung, Bildgebung und Laboruntersuchungen, ggf. neurologische Zusatzuntersuchungen. Klinisch strategisch kann folgendes Vorgehen sinnvoll sein:

  • 1. Einschätzung der Beeinflussung der lokalen funktionellen Gelenksituation: Erfassung klinisch-diagnostischer (Aktualitäts-) Befundung: subjektiv durch Therapeuten bzw. apparativ ergänzend.
    Trophik mit lokaler Schwellung, Rötung, Überwärmung; reflektorisch-algetische Zeichen, Weichgewebstonus, Endegefühl des Gelenkes, aktive und passive Gelenkbeweglichkeit, Kraftbeurteilung.
  • 2. Beeinflussung von Stand/Gang, Greiffunktion und Rumpfstabilität im Kontext mit Aktivität und Lebensqualität durch Patienten mittels Assessments: Schmerzniveau (NRS/VAS), generic health (SF-12, SF-36, EQ-5D), specific health (WOMAC, FFbH), krankheitsspezifische Assessments,
    apparativ objektivierbar: Leistungsfähigkeit.
  • 3. Im Vordergrund der funktionellen Betrachtung zur Diagnostik und Therapie steht neben den lokalen strukturellen Veränderungen, die Bewertung der muskulären Dysbalance und deren Konsequenzen: Veränderte Gelenkmechanik und Druckverhältnisse, Schmerzfortleitung, eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit und kompensatorische Hypermobilität, Veränderung des propriozeptiven Inputs und veränderte Belastbarkeit der Bewegungsmuster (reziproke Innervation) (Abb. 2).

Ergebnis der befundbezogenen Untersuchung der Strukturen ist zielführend für den therapeutischen Ansatz zur Schmerzfreiheit bzw. -reduktion und Verbesserung der Funktion. Dieser dient, unter rehabilitativer und präventiver Zielstellung, der Verbesserung der Aktivität des Patienten sowie der verbesserten Alltagskompetenz und Lebensqualität (ICF-Orientierung).

Die Therapieziele sind in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie mit dem Berufsverband der Ärzte für Orthopädie und Traumatologie zusammengestellt:

Schmerzlinderung

Verbesserung der Lebensqualität

Verbesserung der Beweglichkeit

Verbesserung der Gehleistung

Verzögerung des Fortschreitens der Arthrose.

Eine differenzierte Bewertung der einzelnen konservativen Maßnahmen bzw. stadiengerechte Therapieempfehlung findet sich in den Leitlinien nicht. Sinnvoll sind allgemeine Maßnahmen wie Aufklärung, Gewichtsoptimierung, Veränderung der Lebensweise wie Vermeidung gelenkschädigender Noxe bzw. Belastungen und eine angepasste sportliche Betätigung. Allerdings ergeben Metanalysen den besten Effekt für Eigenübungen und Selbstmanagement zur Verbesserung des persönlichen Befindens und nicht für die allgemeine Aufklärung.

Aus physiotherapeutischer Sicht ist die Therapie befundbezogen und stufenorientiert organisiert, Kontrollen sind aus fachlichen und ökonomischen Prinzipien in Therapieregimen sinnvoll.

Normalisierung der Funktion peripherer Strukturen

Gelenke, Sehnen, Bänder, Muskeln, Faszien, Beeinflussung der Entzündung

Optimierung von Bewegungsmustern, Schmerzreduktion

Beseitigung des gestörten muskulären Gleichgewichts

Korrektur des Zusammenspiels von Muskulatur und Gelenk

Vermeidung einer mangelhaften Kontrolle des ZNS

Automatisierung der motorischen Kontrolle

Fazilitation der Rezeptoren

Aktivierung von Bewegungsmustern

Eingebunden sind die Möglichkeiten der Physiotherapie in weitere therapeutische Optionen, wie Hilfsmittel, Gewichtskontrolle, Medikamentöse Therapie, „Komplementäre Therapie“.

Physikalische/Physiotherapeutische Maßnahmen

Bei den Methoden der Physikalischen Therapie sind verschiedene Ansätze denkbar und mit Literatur unterlegt. Dabei steht die Schmerztherapie an erster Stelle, sowohl über die Beeinflussung der Schmerzrezeptoren und der Afferenzmodulation, als auch die Muskeleutonisierung über thermoregulatorische und reflektorische Mechanismen. Darüber hinaus erfolgt eine Beeinflussung mechanischer Eigenschaften dystroph veränderter bindegewebiger Strukturen (Indurationsabnahme) sowie eine Durchblutungssteigerung und -regularisierung über adaptive Mechanismen der vasomotorischen Regulation. Die Beeinflussung lokalisierter chronisch mesenchymaler Entzündungszustände an den Strukturen des Bewegungssystems wie Kapsel, Band, Sehne, Periost, Muskel mittels einer Entzündungsmodulation führt zu einer Gelenkbeweglichkeitszunahme (prokinetische Wirkung). Darüber hinaus sind neben Zielstellungen der Struktur und Funktion im ICF-Denkmodell die Verbesserung der Aktivität und Partizipation im Fokus.

Folgende Therapieziele können bei Arthrose für die Physiotherapie formuliert werden und sollen im Folgenden wertend zugeordnet werden:

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