Übersichtsarbeiten - OUP 04/2018

Möglichkeiten und Herausforderungen des individualisierten Beckenteilersatzes bei ausgeprägten azetabulären Defekten

Während bei lokalisierten, geringergradigen Defekten häufig eine suffiziente Versorgung mit Standardimplantaten oder standardisierten Revisionsimplantaten gelingt, gelangen diese Systeme bei massiven Defekten oft an die Grenze ihres Indikationsbereichs. Genau in diesen Situationen beginnt dann das Indikationsspektrum der Individualimplantate, welches im Folgenden Gegenstand der Betrachtung sein soll.

Behandlungsoptionen ausgeprägter Knochendefekte

Im Rahmen der Versorgung stehen folgende 3 Aspekte im Vordergrund [21, 28, 29]:

  • 1. Rekonstruktion des physiologischen Drehzentrums
  • 2. Primärstabilität, möglichst im vitalen autochthonen Knochen
  • 3. Sekundärstabilität durch knöchernes Einwachsen

Als Grundprinzip gilt, dass eine sekundäre knöcherne Integration der Implantate eine hohe Primärstabilität mit Mikrobewegungen von unter 50 µm voraussetzt [9, 41]. Vor diesem Hintergrund stehen für die Revision großer azetabulärer Defekte vom Typ III und Typ IV nach dem AAOS-System (bzw. Typ 3A bzw. Typ 3B nach Paprosky) eine Vielzahl verschiedener Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Exemplarisch seien unzementierte hemisphärische Jumbo Cups [30], längsovale Revisionspfannen [30, 32], Impaction-Bone-Grafting [33], strukturierte Allografts [43], Antiprotrusionsringe [43], Cup-and-Cage-Konstruktionen [43], Trabecular-Metal-Augmente und -Pfannen sowie der individuelle Beckenteileratz erwähnt [2, 14].

Biologische Therapieoptionen

Prinzipiell gibt es die theoretische Möglichkeit, mittels biologischer Rekonstruktion des azetabularen Knochenlagers ein „down-grading“ des Defekts zu realisieren [21, 33, 43]. Insbesondere bei jungen, aktiven Patienten kann dies einen evtl. später notwendig werdenden Revisionseingriff deutlich vereinfachen. Bezüglich der Grafts ist zwischen Autografts (z.B. Raspeldebris oder Beckenkammspongiosa) und Allografts (z.B. humane spongiöse bzw. kortikospongiöse Knochenchips) zu unterscheiden [21]. Regelmäßigen Einsatz findet das sogenannte Impaction-Bone-Grafting. Dieses stellt ein Verbundsystem aus impaktierter Spongiosa, Knochenzement und zementierter PE-Pfanne dar und bietet unter der Voraussetzung eines erhaltenen Containments der Knochendefekte eine Alternative zur metallischen Rekonstruktion azetabulärer Knochendefekte. Eine Rekonstruktion bei nicht erhaltenem Containment ist mit zusätzlichen Metallnetzen und Abstützschalen grundsätzlich zwar ebenfalls möglich, zeigt bei Typ-III und -IV-Defekten jedoch deutlich schlechtere Ergebnisse [48]. Dass auch die Möglichkeiten von strukturellen Allografts begrenzt sind, zeigen Lockerungsraten von 45–70 % nach 2 bis 21 Jahren bei Typ-III- und Typ-IV-Defekten [20, 39, 44]. Als Ursache wird bei ausgeprägten ossären Defekten die ausbleibende Integration des Transplantats angeführt. Dies führt durch zentrale Nekrosen der Transplantate zu Ermüdungsbrüchen, die typischerweise 5–7 Jahre postoperativ auftreten und zur Instabilität des Implantats beitragen [44].

Daher favorisieren wir in der klinischen Praxis bei ausgeprägten Defekten, vor allem beim alten Patienten, eine metallische Defektausfüllung im kranialen, lasttragenden Bereich, ggf. in Kombination mit einer biologischen Rekonstruktion des zentralen und peripheren Knochenlagers. Hierbei dient die Füllung kavitärer oder zystischer Defekte mit Spongiosachips der Verbesserung der sekundären knöchernen Integration.

Metallische Defektausfüllung des Knochenlagers

Die defektangepasste Kombination der verfügbaren Verankerungsprinzipien und Implantate ist entscheidend für die Primär- und Sekundärstabilität der Versorgung. Während kleinere Defekte regelmäßig mit Standardimplantaten und Press-fit-Verankerung versorgt werden können, kommen bei größeren Defekten u.a. längsovale Revisionspfannen zur Wiederherstellung des anatomischen Drehzentrums und stabilen knöchernen Abstützung zum Einsatz. Durch zusätzlichen Einsatz von Laschen kann die Kipp- und Torsionsstabilität erhöht werden. Ein zentraler Zapfen ergänzt ggf. die Stabilisierung im Os ilium gegen multidirektionale Kippmomente. Das Einbringen transfixierender Schrauben kann die Primärstabilität zusätzlich erhöhen [21]. Abschließend trägt die Verwendung strukturierter Oberflächen zur Steigerung der Primär- und Sekundärstabilität bei.

Im Ergebnis zeigen Kranialpfannensysteme und modulare Systeme mit Zapfen und Lasche auch bei ausgedehnten Knochendefekten und Beckendiskontinuität (Typ III und Typ IV) gute Ergebnisse [42]. Zudem können verbliebene Defekte mit Trabecular-Metal-Komponenten rekonstruiert werden. Diese kombinieren dank modularer Technik eine hohe Flexibilität mit guter Biokompatibilität der Materialen [31].

Trotz der dargestellten Vielzahl an Verankerungstechniken gilt im Einzelfall der Grundsatz, dass ein zementlos eingebrachtes Implantat zu mindestens 50 % seiner Oberfläche mit autochtonen Knochen bedeckt sein sollte, um eine hinreichende Sekundärstabilität zu erreichen. Wenngleich die erforderliche Fläche auch von der Komponentengröße, der Knochenqualität und -lokalisation und der Implantatoberfläche abhängt, ist eine ausreichende Rekonstruktion mit Standard-Revisionsimplantaten nicht immer zu erreichen. In diesen Fällen drohen mittelfristig die Überlastung der punktuellen Abstützung und damit die Lockerung des Implantats.

Die Indikation individueller Implantate und Beckenteilersätze in Abgrenzung zu Standardrevisionsimplantaten ist in der Literatur bislang uneinheitlich bzw. noch unzureichend definiert. Nach unserer klinischen Erfahrung stellen ausgeprägte Knochendefekte, die über die Incisura ischiadica major hinausgehen, sowie ein nicht rekonstruierbarer dorsaler Pfeiler regelmäßig Indikationen zur individuellen Implantatversorgung dar.

Erscheint das Knochenlager im Os ilium selbst für diese Behandlungsstrategie unzureichend oder widerspricht der Allgemeinzustand des Patienten der Versorgung mittels individuell angefertigtem Implantat verbleibt in seltenen Fällen die Implantation sogenannter Megaköpfe im Sinne einer „salvage procedure“.

Der individuelle
Beckenteilersatz

Im klinischen Alltag ist ein deutlicher Anstieg sogenannten Mega-Defekte zu beobachten. In schätzungsweise 1–5 % der azetabulären Revisionsfälle liegt eine sogenannte Beckendiskontinuität vor, wobei eine weiter steigende Inzidenz erwartet wird [4, 31]. Aufgrund der häufig unzureichenden Kontaktfläche zwischen Standard-Revisionsimplantaten und autochthonem Knochenlager ist in diesen Fällen regelmäßig der Rückzug auf individuell angefertigte Implantate, die ursprünglich aus der Tumororthopädie stammen, notwendig [11, 14, 25]. Diese patientenindividuelle Konstruktion der Komponenten erlaubt eine detaillierte Orientierung an der vorliegenden, patientenspezifischen Defektsituation und damit die Behebung komplexer biomechanischer Fehlstellungen.

Hierfür werden zu Beginn der Behandlung anhand spezieller Protokolle CT-Daten des Beckens, der Knie- und oberen Sprunggelenke erhoben. Anschließend erfolgt die virtuelle Rekonstruktion der anatomisch-biomechanischen Verhältnisse mit dem Ziel der Optimierung des postoperativen Bewegungsumfangs. Darauf aufbauend werden die individuellen Revisionskomponenten am 3D-Modell konstruiert. Azetabulär bestehen diese aus Pfannengrundkörper, Knochenverankerung mittels Zapfen und Laschen sowie Makrostrukturierung der Knochenanlageflächen (Abb. 4). Anschließend erfolgen die Abstimmung der individuellen Planung mit dem behandelnden Arzt sowie die Fertigung der Implantate im schichtweisen Schmelzverfahren aus Metallpulver (3D-Printing). Nach entsprechender Aufklärung und Vorbereitung des Patienten wird die Implantation des individuellen Beckenteilersatzes durchgeführt (Abb. 5, 6). Dabei kann die Operation selbst über einen anterolateralen Standardzugang erfolgen, während bei individualisierten Triflanges der posteriore Zugang in Seitenlagerung herangezogen wird. Zudem kann postoperativ ein sogenannte Post-OP-Matching zur Beurteilung des Konstruktions- und Operationserfolges durchgeführt werden (vgl. Abb. 7).

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