Übersichtsarbeiten - OUP 12/2015

Nicht-invasives Skoliose-Screening
Validitätsanalysen zur videorasterstereografischen FrüherkennungA validity study for early diagnosis by means of raster stereography

Jan Schröder1, Markus Liebig2, Jan-Thorben Sander3, Rüdiger Reer1, Klaus-Michael Braumann1

Zusammenfassung: Eine nicht-invasive Skoliose-Diagnostik sollte nicht nur zuverlässig und anwenderfreundlich sein, sondern auch eine direkte Umrechnung in Kennwerte ermöglichen, die bei Skoliosen als „Goldstandard“ anerkannt sind. Ziel war es daher, den rasterstereografischen „Skoliosewinkel“ anhand des radiologischen COBB-Winkels zu validieren. Inkludiert wurden 10 fachärztlich zugewiesene Patienten mit einem aktuellen Röntgenbild der gesamten Wirbelsäule (13–76 Jahre), die videorasterstereografisch (Formetric 4D-Average, DICAM II) im Hinblick auf ihren Skoliosewinkel untersucht wurden. Der radiologische COBB-Winkel wurde verblindet lege artis von einem Facharzt ermittelt. Bei klinisch relevanten Skoliosen (COBB > 10°) stimmten Formetric-Skoliose- und Röntgen-COBB-Winkel hochgradig überein (absolute Differenz 1,1° ± 1,4° (0°–3°); rho = 1,00; p < 0,01). Bei COBB-Winkeln ? 10° waren Korrelationen niedriger (rho = 0,49; p > 0,05) und die absolute Differenz größer: 5,9° ± 3,4° (1°–12°). Für klinisch nicht relevante COBB-Winkel ergaben sich rasterstereografische Abweichungen des Formetric-Skoliosewinkels, die denen des Quantec-Systems (Q-Winkel) entsprachen, für klinisch relevante skoliotische Wirbelsäulendeformitäten waren die Abweichungen sogar deutlich geringer. Trotz der Limitierungen durch den geringen Stichprobenumfang sprechen die Befunde für ein valides, nicht-invasives Screening mithilfe des Formetric-Systems für Personen mit klinisch relevanten Skoliosen.

Schlüsselwörter: Skoliose, Rasterstereografie, COBB-Winkel,
Validität

Zitierweise
Schröder J, Liebig M, Sander JT, Reer R, Braumann KM. Nicht-invasives Skoliose-Screening. Validitätsanalysen zur videorasterstereografischen Früherkennung.
OUP 2015; 12: 588–593 DOI 10.3238/oup.2015.0588–0593

Summary: A non-invasive scoliosis diagnosis procedure should not only be user-friendly and leading to reliable results, but it should also offer a resulting parameter that can easily be compared to the “gold standard“ of radiographic scoliosis imaging. So, the study was aiming at validating the raster stereography “scoliosis angle“ by means of radiographic COBB-angles. A total of 10 patients (13 to 76 years of age) were examined and recruited by an orthopaedic physician, if they agreed to participate as volunteers, and if there was a recently taken radiograph of the whole spine. COBB-angles were calculated blinded and lege artis from the radiographs. The participants’ spine shape was examined by means of raster stereography back shape reconstruction (Formetric 4D-Average, DICAM II) to reveal the “scoliosis angle“. For clinically imposing deformities (COBB > 10°), the radiography and raster stereography angles were very similar (rho = 1.00; p < .01): differences ranged between 0° and 3° (1.1° ± 1.4°). For smaller deformities (COBB ? 10°), correlations were lower (rho = 0.49; p > .05) and angle differences were ranging from 1° to 12° (5.9° ± 3.4°). For smaller deformities, we found numerical differences between COBB and Formetric-scoliosis angles that were in a line with earlier findings validating the Quantec-system (Q-angle). For screening purposes of clinically relevant scoliotic deformities, the Formetric spine shape reconstruction could explain the COBB angle even better, although study limitations concerning the sample size should be taken into account.

Keywords: scoliosis, raster stereography, COBB-angle, validity

Citation
Schröder J, Liebig M, Sander JT, Reer R, Braumann KM. Non-invasive scoliosis-screening. A validity study for early diagnosis by means of raster stereography.
OUP 2015; 12: 588–593 DOI 10.3238/oup.2015.0588–0593

Hintergrund und
Fragestellung

Rasterstereografische Verfahren zur Rückenoberflächenvermessung und Rekonstruktion der Wirbelsäulenkurvatur werden seit Jahrzehnten im Therapie-Monitoring bei Skoliosen eingesetzt, um die Strahlenexposition insbesondere bei Kindern und Jugendlichen zu minimieren [1]. In einer jüngeren Übersichtsarbeit wurden unterschiedliche rasterstereografische Systeme in Vor- und Nachteilen qualifiziert [2]. Dem Formetric-System darf eine anwenderfreundliche Bedienung und eine Wirbelsäulenformanalyse in Echtzeit bescheinigt werden [3], während kritisiert wird, dass die Rekonstruktion der Wirbelrotation auf Korrelationsmodellen basiere [2]. Frühere Validitäts- und Nützlichkeitsanalysen konnten zwar eine gute Skolioseaufklärung ohne falsch-negative diagnostische Einschätzungen zeigen [4], die Befunde führten jedoch nicht zu Konsequenzen in der Praxis, weil ein Transfer zum radiologischen „Goldstandard“ nicht gelang [5, 6]. Jüngste technische Weiterentwicklungen ermöglichen nun eine direkte Vergleichbarkeit mit dem COBB-Winkel.

Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, diesen „Skoliosewinkel“ radiologisch zu validieren, bzw. Abweichungen vom COBB-Winkel zu quantifizieren.

Material und Methoden

Studiendesign

Die vorliegende Arbeit zur Verfahrensvalidierung wurde als prospektive Querschnittstudie durchgeführt, wobei vorliegende Röntgenaufnahmen im Sinne einer retrospektiven Analyse genutzt wurden.

Stichprobenbeschreibung

Für die aktuelle Vorstudie konnten 10 Patienten (4 Frauen und 6 Männer) im Alter von 13–76 Jahren (51,7 ± 19,6 Jahre; BMI: 25,4 ± 4,9 kg/m²) akquiriert werden. Die Probanden wurden von einer orthopädischen Facharztpraxis zugewiesen, wenn sie grundsätzlich mit einer nicht invasiven Wirbelsäulenformanalyse zu Studienzwecken einverstanden waren.

Einschlusskriterium war, dass die Patienten im Rahmen ihrer vorliegenden orthopädischen Problematiken bereits eine ärztlich indizierte Röntgenaufnahme der gesamten Wirbelsäule haben mussten und dass es grobe klinische Hinweise für Wirbelsäulenformdeformitäten gab (z.B. asymmetrischer Taillenknick, Rippenbuckel, Schulter- oder Beckenschiefstand, Oberkörperschiefstellung). Die Röntgenaufnahmen sollten aktuell sein, damit die Patienten für die Akquise in Frage kamen.

Im Einklang mit der Deklaration von Helsinki in der aktuellen überarbeiteten Fassung wurden die Probanden über den nicht invasiven Charakter einer lichtoptischen Rückenvermessung informiert und die Daten nach der statistischen Aufbereitung anonymisiert [7].

Für das Untersuchungsziel war die Geschlechtszugehörigkeit kein relevantes Gruppierungskriterium, vielmehr der Grad der röntgenologisch klassifizierten skoliotischen Wirbelsäulenkurvatur. Für die Bearbeitung der Fragestellung wurde die Gesamtgruppe daher unterteilt in solche, die eine klinisch relevante Skoliose aufwiesen (definiert als: COBB-Winkel > 10°) und solche, die keine relevante – röntgenologisch überprüfte – Deformität hatten (definiert als: COBB-Winkel ? 10°) (Tab. 1).

Messinstrumente

Videorasterstereografie (VRS)

Die Wirbelsäulenform wurde nicht-invasiv, rasterstereografisch analysiert (Formetric, Diers, Schlangenbad, Deutschland). Die digitale Rekonstruktion der Rückenoberfläche basierte auf lichtoptischen Rasterprojektionsmustern und den korrespondierenden Videokamerabildern (10 frames/sec). Videorasterstereografisch konnten somit dreidimensionale Formanalysen der Rückenoberfläche vorgenommen werden (Abb. 1), aus denen Lage und geometrische Orientierung unter der Haut liegender knöcherner Strukturen errechnet wurden (Auflösung 10 Pkt./cm², Rekonstruktionsfehler < 0,2 mm). Das Messprinzip wurde früher schon ausführlich beschrieben [8, 9]. Von großer Bedeutsamkeit war der berührungslose, strahlenfreie und automatisiert-digitalisierende Charakter der Datenerhebung, sodass die Ergebnisse nahezu in Echtzeit zur Verfügung standen.

Röntgenologische Validierungsstudien konnten hohe Zusammenhänge zwischen knöchernen Strukturen und den unter der Haut detektierten Prominenzen bzw. Einziehungen ermitteln, sodass die Vermessung der Rückenoberfläche gültige Rückschlüsse auf Strukturen des Achsenskeletts ermöglichte [10, 11].

Die Wirbelsäulenform und die
Beckenstellung in der Sagittalebene (Rumpfneigung, Kyphosewinkel, Lordosewinkel, Beckenneigung, Beckentorsion), in der Frontalebene (Skoliosewinkel, Lotabweichung, Beckenhochstand, Wirbelkörperseitabweichung) und in der Transversalebene (Wirbelrotation) konnten zuverlässig parametrisiert werden [12].

Für die aktuelle Fragestellung war die Lage des Neutralwirbels, bzw. des Skoliose-Apex und des Parameters „Skoliosewinkel“ (SKOL) von zentraler Bedeutung, die der statistischen Analyse zugeführt wurden. Der Skoliosewinkel wurde ähnlich wie der radiologische COBB-Winkel bestimmt, allerdings als größter eingeschlossener Winkel der Tangenten, die unterhalb der Deckplatten rasterstereografisch rekonstruierter Wirbelkörper anlagen und nicht ober- und unterhalb radiologisch abgrenzbarer Knochenstrukturen (Abb. 1).

Röntgen

Zur Gegenüberstellung mit rasterstereografischen Skoliosewinkeln wurde retrospektiv auf bestehende, maximal 2 Wochen alte Röntgenaufnahmen (konventionelles und digitales Röntgen) zurückgegriffen. Die Aufnahmen im anterior-posterioren Strahlengang mussten die gesamte Wirbelsäule abbilden, sodass Neutralwirbel und COBB-Winkel bestimmt werden konnten. Die Aufnahmen wurden durchweg von ein und demselben geübten Arzt „lege artis“ manuell und verblindet errechnet (grafisch, Strahlensatz-Trigonometrie), um Auswertungsfehler und Untersucherbias gering zu halten [13].

Untersuchungsablauf

Patienten, die die Einschlusskriterien erfüllten, wurden binnen 10 Tagen nach ihrem Röntgentermin zu einer rasterstereografischen Untersuchung eingeladen, die dann als Doppelmessung im Abstand von etwa 5 Minuten an einem Tag durchgeführt wurde. Anhand der wiederholten videorasterstereografischen Aufnahmen, wurde zunächst die Güte der Rückenoberflächenrekonstruktion beurteilt und entschieden, ob die Aufnahmen geeignet waren, den rasterstereografischen Skoliosewinkel verlässlichen zu erfassen.

Patienten sehr hohen Alters (> 75 Jahre) konnten zum Teil nicht berücksichtigt werden (n = 2), weil die Rückenoberfläche dem Alter entsprechend sehr unregelmäßig strukturiert war (Hautfalten bei lockerem Bindegewebe), sodass eine rasterstereografische Rückenoberflächenrekonstruktion nicht verlässlich gelang; andersherum war die Rekonstruktion manchmal auch bei ausgeprägter Adipositas so fraglich, dass die entsprechenden Personen nicht inkludiert werden konnten (n = 2).

Die verbleibenden Personen (n = 10) wurden in Abhängigkeit ihres COBB-Winkels den definierten Subgruppen (COBB ? 10° respektive > 10°) zugeordnet (Tab. 1).

Statistische Methoden

Die Daten wurden als Mittelwert und Standardabweichung (SD) und in ihrer Spannweite (Minimum bis Maximum) beschrieben. Stichprobenunterschiede wurden verteilungsfrei geprüft, bei abhängigen Stichproben mithilfe des Wilcoxon-Paartests und bei unabhängigen Stichproben mithilfe des U-Tests (Mann/Whithney). Für Zusammenhangsanalysen wurde der Rangkorrelationskoeffizient (rho) berechnet (IBM SPSS V.20). Signifikanz wurde angenommen bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p ? 0,05.

Ergebnisse

Für die Auswertung wurden 2 Subgruppen gebildet (Tab. 2):

COBB ? 10° (klinisch irrelevant: n = 6; 46,5 ± 19,5 Jahre; BMI 25,8 ± 5,6 kg/m²; COBB 6,3° ± 3,4° von 1°–10°),

COBB > 10° (klinisch relevant: n = 4; 49,8 ± 28,8 Jahre; BMI 22,5 ± 5,5 kg/m²; COBB 19,6° ± 8,6° von 12°–32°).

Für beide Subgruppen wurde analysiert, ob sich die ermittelten Skoliosewinkel der 1. und 2. rasterstereografischen Messung unterschieden. Signifikante Unterschiede lagen nicht vor:

Gruppe COBB ? 10°: SKOL 12,0° ± 4,2° vs. SKOL 12,3° ± 6,4°; p = 0,684

Gruppe COBB > 10°: SKOL 21,5° ± 9,2° vs. SKOL 20,0° ± 7,7°; p = 0,357.

Um die Güte der rasterstereografischen Rekonstruktion zu qualifizieren, wurden die individuellen Differenzen im Skoliosewinkel (SKOLDIFF1–2) zwischen 1. und 2. Messung für beide Teilgruppen ermittelt:

Gruppe COBB ? 10° Differenz SKOL von 0°–7° (3,7° ± 2,3°),

Gruppe COBB > 10° Differenz SKOL von 1°–5° (2,5° ± 1,7°).

Die Güte der Rekonstruktion war für die Teilgruppe mit COBB-Winkeln > 10° im Stichprobenmittel um etwa 1° besser, als in der anderen Teilgruppe. Dieser Unterschied war jedoch nicht signifikant (p = 0,352). Da die Unterschiede zwischen 1. und 2. Messung innerhalb der Teilgruppen ebenfalls nicht signifikant waren, wurde die Validierung der Wirbelsäulenformrekonstruktion im Vergleich zum Röntgen anhand der gemittelten rasterstereografischen Skoliosewinkel (SKOLmx1–2) vorgenommen (Tab. 2).

Röntgenologische COBB- und rasterstereografische Skoliosewinkel unterschieden sich signifikant in der Gesamtgruppe (SKOL mx1–2 15,6° ± 7,5° vs. COBB 11,6° ± 8,9°; p = 0,012) und bei den klinisch irrelevanten COBB-Winkeln ? 10° (SKOL mx1–2 12,2° ± 4,9° vs. COBB 6,3° ± 3,4°; p = 0,028). Für die ausgeprägten Skoliosen mit COBB-Winkeln > 10° waren die Unterschiede jedoch nicht signifikant (SKOL mx1–2 20,8° ± 8,3° vs. COBB 19,6° ± 8,6°; p = 0,180).

Die Abweichung des gemittelten, rasterstereografischen Skoliosewinkels zum röntgenologischen COBB-Winkel war für die Subgruppe der klinisch relevanten Skoliosen (COBB > 10°) signifikant geringer, als für die Skoliosewinkel von COBB ? 10° (p = 0,038):

Gruppe COBB ? 10°: Abweichung SKOL mx1–2 zum Röntgen von 1°–12° (5,9° ± 3,4°)

Gruppe COBB > 10°: Abweichung SKOL mx1–2 zum Röntgen von 0°–3° (1,1° ± 1,4°).

Abweichungen zwischen radiologischem Neutralwirbel und rasterstereografischem Skoliose-Apex wurden als Differenz der Wirbelkörper ermittelt. Zwischen Röntgen und erster rasterstereografischer Rekonstruktion wurde für die Gesamtgruppe ein Fehler von 0–6 Wirbelkörpern (2 ± 2) beobachtet; für die zweite Rekonstruktion lag der Fehler bei 0–2 Wirbelkörpern (1 ± 1) innerhalb der Gesamtgruppe.

In der Fehlerhaftigkeit, den radiologischen Neutralwirbel deckungsgleich zu detektieren, gab es zwischen den Teilgruppen mit minimaler (COBB ? 10°) oder manifester (COBB > 10°) Skoliose keine statistisch abzusichernden Unterschiede, weder für die erste (p = 0,343), noch für die 2. rasterstereografische Rekonstruktion (p = 1.000), auch wenn in Einzelfallanalysen deutlich wurde, dass radiologischer Neutralwirbel und rasterstereografischer Skoliose-Apex häufiger übereinstimmten, wenn die Skoliose ausgeprägter war (Abb. 2), während bei minimalen skoliotischen Fehlstellungen größere Abweichungen zwischen Neutralwirbel (Röntgen) und Skoliose-Apex (Formetric) zu finden waren.

Trotz der geringen Stichprobenumfänge wurden Validitätskoeffizienten auf Rangskalenniveau für die Teilgruppen (n = 6, resp. n = 4) und die Gesamtstichprobe (n = 10) errechnet:

Gruppe COBB ? 10°: rho = 0,49 (p > 0,05),

Gruppe COBB > 10°: rho = 1,00 (p ? 0,01),

Gesamtgruppe: rho = 0,77 (p ? 0,01).

Diskussion

Die rasterstereografische Rekonstruktion gelang hinreichend gut, auch wenn sich die 1. und 2. Messreihe im Merkmal Skoliosewinkel um maximal 7° unterschieden. Für die Subgruppe der ausgeprägten Skoliosen betrug diese Abweichung maximal 5°. Unterschiede in der Rekonstruktionsgüte zwischen den beiden Subgruppen waren nicht signifikant (p > 0,05). Vergleichbare Unterschiede wurden auch für die wiederholte Ermittlung des radiologischen COBB-Winkels beschrieben [14].

Die Abweichungen der Rasterstereografie zum Röntgen waren für die Gruppe der klinisch irrelevanten Wirbelsäulendeformitäten mit etwa 6° im Mittel so ausgeprägt, dass sich COBB- und Skoliosewinkel signifikant unterschieden (p = 0,028), während bei den klinisch relevanten Skoliosen der Unterschied zwischen Röntgen und Rasterstereografie im Mittel nur etwa 1° betrug und statistisch nicht signifikant war (p = 0,180). Insgesamt waren rasterstereografische Skoliosewinkel in jedem Fall größer als röntgenologische COBB-Winkel. Die Ausprägung einer Skoliose wurde somit rasterstereografisch nie unterschätzt [4]. Im Falle ausgeprägter Skoliosen wurde der radiologische COBB-Winkel sogar sehr gut abgeschätzt (Abb. 2).

Bei ausgeprägten Skoliosen konnte ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen rasterstereografischer und radiologischer Quantifizierung des Skoliosewinkels ermittelt werden (rho = 1,00; p ? 0,01), was für geringfügige und minimale Skoliosewinkel nicht galt (rho = 0,49; p > 0,05), auch wenn hier Limitierungen durch die geringe Stichprobengröße beachtet werden sollten.

Die Ermittlung des radiologischen Neutralwirbels unterlag in der vorliegenden Untersuchung den regulären Fehlern, die einer manuellen COBB-Winkelberechnung immanent sind und den Fehlern, die auf die Erstellung des Röntgenbildes zurückzuführen sind [13, 14]. Beobachtete Abweichungen zum rasterstereografischen Skoliose-Apex lagen im Mittel bei 1–2 Wirbelkörpern, waren bei ausgeprägten Skoliosen jedoch geringer als bei klinisch irrelevanten Wirbelsäulendeformitäten.

Die Ergebnisse der aktuellen Vorstudie scheinen eine günstigere Abschätzung des COBB-Winkels zu erlauben als frühere Studien, die mit der älteren Software des Formetric-Systems immer 2 Kennwerte – frontale Seitabweichung und axiale Rotation der Wirbelkörper – gleichberechtigt betrachten mussten, um die Merkmale einer Skoliose als Ausmaß der skoliotischen Deformität zu beschreiben. Korrelationen zwischen Röntgen und Rasterstereografie waren in älteren Studien zwar akzeptabel, aber eine einfache und transparente Umrechnung zum COBB-Winkel „Goldstandard“ oder zu anderen skoliometrischen Winkelmaßen blieb unbefriedigend [2, 5]. Günstiger waren lediglich die Ergebnisse retrospektiver Längsschnittanalysen, die die Progression skoliotischer Winkelmaße vergleichend evaluiert haben [15–17].

Eine Eignung für die Früherkennung von Skoliosen und für das Skoliose-Monitoring wurde jüngst einem „Functional Classification System“ (FCS) bescheinigt, das auf Wirbelsäulenformanalysen mit einem anderen rasterstereografischen System basiert: dem Quantec Spinal Image System (QSIS) [18]. Dieses System stellt mit dem „Q-Winkel“ einen Kennwert zur Beschreibung skoliotischer Wirbelsäulenkrümmungen in der Frontalebene analog zum COBB-Winkel bereit, der – bei Beachtung von nicht ganz unaufwendigen Datenerhebungsstandards – reproduzierbar erfasst werden konnte [19]. Korrelationen zwischen Q- und COBB-Winkeln waren befriedigend hoch (0,63–0,70) [20].

Das System wurde für die Praxis jedoch als aufwendig und anwenderunfreundlich beschrieben. Eine technische Weiterentwicklung, der Milwaukee Topografic Scanner (MTS), sollte diesen Mängeln begegnen und konnte aktuell als objektiv und reliabel qualifiziert werden, sodass der MTS als Instrument zum Skoliose-Monitoring empfohlen wurde [21].

Wenn angenommen werden darf, dass der MTS die gleichen Eigenschaften zur Abschätzung des radiologischen COBB-Winkels hat wie der Gerätevorgänger (QSIS), dann können die Daten der vorliegenden Untersuchung mit diesen rasterstereografischen Systemen in Beziehung gesetzt werden. Für QSIS wurde eine mittlere Abweichung des Q-Winkels vom COBB-Winkel von etwa 6°, bei milden bis schwachen skoliotischen Schwingungen von < 21° beschrieben [20]. Dies kommt den hier ermittelten Abweichungen des Skoliosewinkels (Formetric) vom COBB-Winkel von im Mittel ebenfalls 6° (1°–12°) bei kleinen und minimalen COBB-Winkeln bis 10° nahe. Aber im Gegensatz zum QSIS Q-Winkel nimmt die Abweichung des Skoliosewinkels (Formetric) vom radiologischen COBB-Winkel bei ausgeprägten Skoliosen (COBB bis 32°) deutlich ab – auf im Mittel nur 1° (0°–3°).

Korrelationen zwischen Skoliosewinkel (Formetric) und COBB-Winkel waren für ausgeprägte Skoliosen höher als beim Q-Winkel des Quantec-Systems (rho = 1,00; p ? 0,01), für kleine und minimale COBB-Winkel jedoch geringer und statistisch nicht signifikant (rho = 0,49; p > 0,05) und für die Gesamtgruppe vergleichbar groß (rho = 0,77; p ? 0,01) wie beim Q-Winkel.

Problematisch erscheint – bei einer relativ guten Übereinstimmung der Skoliose- und COBB-Winkel – die schwächere Übereinstimmung von rasterstereografischem Skoliose-Apex und radiologischem Neutralwirbel; bei minimalen Deformitäten lag eine Abweichung von bis zu 6 Wirbelkörpern vor. Hierbei sollte berücksichtigt werden, dass das Formetric-System die Wirbelsäule nicht vollständig rekonstruiert, sondern lediglich die Wirbelkörper von C7 bis L4 detektiert, sodass auch Skoliosewinkelberechnungen und die korrespondierende Lage des Neutralwirbels nur innerhalb dieser Segmente vorgenommen werden konnten (Abb. 1).

In diesem Zusammenhang muss auf Limitierungen der aktuellen Arbeit hingewiesen werden, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur auf einer sehr kleinen Stichprobe basiert. Angaben zur Sensitivität oder Spezifität [18] sind somit derzeit nicht möglich. Aus technischer Sicht wurde es von Liu et al. [2] als Nachteil beschrieben, dass die Oberflächenrotation bei der Rückenrekonstruktion mit dem Formetric-System auf biomechanischen Korrelationsmodellen basiere, die zu einer mittelbaren Berechnung der vertebralen Rotation herangezogen würden.

Außerdem sollte in Erinnerung bleiben, dass adipöse oder greise Patienten – wegen einer fragwürdigen Rekonstruktionsgüte – für diese Studie nicht immer inkludiert werden konnten. Diese Einschränkung wird in der Praxis jedoch dadurch relativiert, dass es sich beim typischen Klientel in der Skoliosefrüherkennung und im Skoliosetherapie-Monitoring um jüngere oder sehr junge Patienten handelt, bei denen derartige Limitierungen des Formetric-Systems nicht beschrieben wurden.

Schlussfolgerungen
für die Praxis

Die vorliegende Arbeit war als orientierende Vorstudie konzipiert und konnte trotz der angesprochenen Limitierungen die pragmatische und klinische Nützlichkeit der videorasterstereografischen Screening-Diagnostik stützen.

Bei verlässlichen rasterstereografischen Rekonstruktionen können insbesondere klinisch relevante skoliotische Deformitäten mit dem Formetric-System strahlenfrei und ohne falsch-negativen Befund in guter Übereinstimmung zum COBB-Winkel detektiert werden.

Für eine weiterführende Validierung mit Bestimmung der Spezifität und Sensitivität sind größere Fallzahlen notwendig.

Interessenkonflikte: Keine angegeben.

Korrespondenzadresse

Dr. Jan Schröder

Universität Hamburg, Fakultät für
Psychologie und Bewegungswissenschaft, Institut für Bewegungswissenschaft, Arbeitsbereich Sport- und
Bewegungsmedizin

Turmweg 2

20146 Hamburg

jan.schroeder@uni-hamburg.de

Literatur

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Fussnoten

1 Universität Hamburg, Institut für Bewegungswissenschaft, Sport- und Bewegungsmedizin

2 Orthopädische Facharztpraxis Markus Liebig, Hamburg

3 Bundeswehrkrankenhaus (BWK) Abt. I, Hamburg

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