Übersichtsarbeiten - OUP 10/2014
Prospektive Erfassung von Fehlern bei orthopädisch-unfallchirurgischen Operationen
R. Wirbel1, A. Yacoub1, M. Dehne2
Zusammenfassung: Die Häufigkeit, Art und Auswirkungen von Fehlern bei unfallchirurgisch-orthopädischen Eingriffen sollen analysiert werden. Die Erfassung und Analyse der Fehler wird als maßgebender Faktor zu deren Prävention angesehen.
Fehler (Abweichungen vom geplantem optimalen Operationsverlauf) und intraoperative Komplikationen wurden prospektiv bei unfallchirurgisch-orthopädischen Notfall- und elektiven Eingriffen eines Schwerpunkt-Krankenhauses erfasst und nach Typ (medizinisch, organisatorisch), Schweregrad (erheblich, unerheblich), Vermeidbarkeit und klinischen Konsequenzen analysiert. Die fehlerbedingte Zeitverzögerung wurde erfasst und die dadurch bedingten Kosten berechnet. Als erheblich wurde ein Fehler eingestuft, wenn er klinische Konsequenzen hatte oder hätte verursachen können oder wenn die fehlerbedingte Zeitverzögerung mehr als 20 % der Operationszeit betrug.
Schlüsselwörter: Fehleranalyse, Orthopädie-Unfallchirurgie,
prospektiv
Zitierweise
Wirbel R, Yacoub A, Dehne M. Prospektive Erfassung von Fehlern bei orthopädisch-unfallchirurgischen Operationen.
OUP 2014; 10: 444–449 DOI 10.3238/oup.2014.0444–0449
Summary: The frequency, type and consequences of errors in trauma-surgery procedures should be analysed. The collection and analysis of error data are considered essential and a valuable key point to error prevention.
In a level II trauma center errors (deviations from the planned and optimal course of the surgical procedure) and intraoperative complications were prospectively recorded in consecutive patients undergoing elective and emergency trauma and orthopedic surgical procedures. Each error was scored for type (medical, organizing), severity (minor, major), preventability and consequences. The error-related time delay was recorded and the costs conditioned by that were calculated. Errors were considered as major if they caused or could have caused clinical consequences or if the error-related time delay amounted more than 20 % of the operation time.
Keywords: error analysis, orthopedic trauma sugery, prospective
Citation
Wirbel R, Yacoub A, Dehne M. Prospective collection of error data in orthopedic and trauma-surgical procedures.
OUP 2014; 10: 444–449 DOI 10.3238/oup.2014.0444–0449
Einführung
Fehler sind menschlich und ereignen sich in allen Berufsgruppen zumeist durch Zeitstress, Kommunikations-Probleme oder einfach durch Unachtsamkeiten. Aus der Arbeits- und Organisationspsychologie ist bekannt, dass eine schlechte Organisation und fehlende Kommunikation die häufigsten Fehlerquellen sind. Für eine zukünftige Fehlervermeidung ist es aber von entscheidender Bedeutung, die Gründe und die Gefahrensituation für Fehler zu verstehen.
Exakte Daten über Fehler in der Medizin gibt es nicht. Nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts und aus Berichten der Schlichtungsstellen der Ärztekammern wird die Anzahl der Anträge bzw. Beschwerden auf 40.000 pro Jahr geschätzt. Dabei beträgt die Anzahl der möglichen Behandlungsfehler ca. 14.000/pro Jahr. In circa jedem 4. bis 5. Fall werden durch die Schlichtungsgutachten Behandlungsfehler bestätigt [1, 2].
Als Beispiele für Fehler in chirurgischen Bereichen seien die Eingriffs- oder Patientenverwechslung genannt. In einer amerikanischen Studie [3] wird die Wahrscheinlichkeit mit 1:130.000 angegeben; Meinberg [4] schätzt dieses Risiko bei handchirurgischen Eingriffen auf 1:27.000. Das Aktionsbündnis für Patientensicherheit [5] schätzt die Rate an Eingriffsverwechslungen in allen operativen Teilgebieten sogar mit 1:4761. Somit ergäben sich bei ca. 15 Millionen Operationen pro Jahr in Deutschland 200 bis 3300 Fälle.
Ebbeke berichtet, dass 64 % aller Chirurgen in ihrem Berufsleben Erfahrung gesammelt haben in Zusammenhang mit einem belassenen Fremdkörper [6]. In einer neurochirurgischen Studie [7] geben ca. 25 % aller Neurochirurgen an, einmal in ihrem Berufsleben bei Bandscheibenoperationen den Hautschnitt in der falschen Höhe angesetzt zu haben.
Seit 2006 geben die Statistiken der Bundesärztekammer neben der Anzahl zum ersten Mal auch qualitative Informationen über die Art des möglichen medizinischen Fehlers.
Dies wird als Voraussetzung angesehen, da eine effektive Fehlervermeidung nur dann gelingen kann, wenn möglichst viele Informationen über die Häufigkeit und die Begleitumstände der verschiedenen Fehlermöglichkeiten in der Medizin vorliegen.
Über die Art und Klassifikation von Fehlern in der orthopädischen Chirurgie gibt es nur wenige Berichte. Wong et al. [8] haben eine Übersicht zusammengestellt, welche prinzipiell „echte“ medizinische Fehler (z.B. falsche Indikation, falscher Hautschnitt, etc.) von organisatorischen Fehlern (z.B. fehlende Kommunikation, fehlendes Equipment, etc.) unterscheiden.
Der Begriff „Fehler“ beinhaltet aber auch neben „echten“ Fehlern mit klinischen Konsequenzen kleinere Abweichungen vom geplanten operativen Standardverlauf inklusive der präoperativen Planung. So hat sich der Begriff „Abweichung vom optimalen Verlauf“ in Anlehnung an den englischen Begriff DOC („deviation from an optimal course“) etabliert. Diesbezüglich existieren 2 Arbeiten im neurochirurgischen Fachgebiet [9, 10]. Boström et al. [10] berichten bei neurochirurgischen Operationen in ca. 20–25 % über Abweichungen vom geplanten Operationsverlauf. Sie berichten in 2 von 190 Fehlern, also in ca. 1 %, über klinische Konsequenzen.
Vergleichbare Arbeiten im deutschsprachigen Raum im Gebiet der Orthopädie und Unfallchirurgie sind nicht bekannt. Angeregt durch die oben genannte Studie [10] haben wir eine prospektive Beobachtung initiiert, um alle intraoperativen Komplikationen und Abweichungen vom geplanten, optimalen Operationsverlauf zu erfassen.
Patienten und Methoden
Alle Patienten einer 50-Betten-Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, die elektiv oder notfallmäßig operiert wurden, konnten über einen Zeitraum von 6 Monaten in die prospektive Beobachtungsstudie eingeschlossen werden.
Neben der Dringlichkeit der Operation (elektiv, Notfall) wurde die ASA-Klassifikation und die Narkoseform (Allgemein-, Regionalanästhesie) erfasst.
Bezüglich der Lokalisation wurden Eingriffe an den Extremitäten und am Stammskelett (Becken, Wirbelsäule) unterschieden, gesondert betrachtet wurden die Eingriffe beim endoprothetischen Gelenkersatz.
Alle Abweichungen vom geplanten Operationsverlauf inklusive präoperatives Management und intraoperative Komplikationen wurden durch einen standardisierten Fragebogen (nach [10]) erfasst. Der Fragebogen wurde unmittelbar nach der Operation vom verantwortlichen Operateur ausgefüllt.
Insgesamt ergaben sich 12 Fehlerkategorien:
- 1. Indikation: z.B. der intraoperative Befund konnte die Indikation zur Operation nicht bestätigen;
- 2. Präoperatives Management: z.B. fehlende Blutkonserven, fehlende Aufklärung;
- 3. Kommunikation: z.B. fehlende oder ungenügende Absprachen zwischen Operationssaal, Aufwachraum, Station mit Zeitverzögerung;
- 4. Einschleusung, Lagerung: z.B. auf falschem Tisch gelagert;
- 5. Einleitung: z.B. Zeitverzögerung bei Narkose-Einleitung;
- 6. Siebe: z.B. Sieb nicht steril, Fehlen von Instrumenten;
- 7. Operationsverlauf: z.B. falscher Hautschnitt;
- 8. Osteosynthesematerialien: z.B. Fehlen von benötigten Implantaten;
- 9. Mikroskop: defekt;
- 10. Arthroskop: defekt;
- 11. Durchleuchtung: z.B. BV-Störungen;
- 12. Kontamination: z.B. unsteriles Operationsfeld.
Neben der Einstufung des Fehlers als medizinischer oder organisatorischer Fehler wurden vom Operateur der Schweregrad (erheblich, unerheblich), die Vermeidbarkeit (leicht, schwer, nicht vermeidbar) und die fehlerbedingte Zeitverzögerung des Operationsverlaufs (in Minuten) beurteilt. Als erheblich wurde ein Fehler eingestuft, wenn er klinische Konsequenzen hatte (z.B. erneute Operation) oder hätte verursachen können (z.B. Infekt bei Kontamination) oder wenn die fehlerbedingte Zeitverzögerung mehr als 20 % der Operationszeit betrug.
Die postoperativen Komplikationen und die Dauer des stationären Aufenthalts wurden dokumentiert, sofern sie mit dem Fehler in Zusammenhang gebracht werden konnten.
Die fehlerbedingte Zeitverzögerung wurde in eine potenzielle Kostenersparnis umgerechnet; die Kosten für eine Operationsminute wurden durch die Controlling-Abteilung des Krankenhauses mit 12,00 €/min. festgelegt.
Die Daten wurden in einer Excel-Datenbank erfasst; zur statistischen Auswertung wurden die Computerprogramme Excel (Microsoft, Seattle, WA) und SPSS (SPSS Inc., Chicago, IL) verwendet.
Bezüglich der Aufklärung der Patienten über die aufgetretenen Fehler wurden die ethischen und legalen Richtlinien beachtet. Über „kleinere“ Abweichungen vom geplanten Operationsverlauf (z.B. defektes Monopolar-Kabel mit Notwendigkeit des Austauschs und Zeitverzögerung um einige Minuten) wurde nicht routinemäßig informiert.
Ergebnisse
Vom 01.07. bis zum 31.12.2012 wurden insgesamt 1330 Patienten stationär behandelt. Die 50-Betten-Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie ist Teil eines 513-Betten-Krankenhauses mit Schwerpunktversorgungsaufträgen.
Alle 984 operativ behandelten Patienten konnten in die Studie eingeschlossen werden. Es handelte sich um 744 (75,6 %) geplante und um 240 (24,4 %) Notfalleingriffe. Die weiteren Kenndaten der Patienten (Geschlecht, Narkoseform, ASA-Klassifikation, Art bzw. Lokalisation des Eingriffes) sind in Tabelle 1 aufgelistet.
Insgesamt wurden 107 Abweichungen vom optimalen Verlauf (10,8 %) bei 72 Eingriffen beobachtet. Bei 40 Eingriffen wurden ein Fehler, bei 29 Eingriffen 2 und bei 3 Eingriffen 3 Fehler beobachtet.
Zumeist handelte es sich um organisatorische Fehler (fehlendes Equipment, mangelnde präoperative Planung) (n = 78; 72,9 %); in 9 Fällen (8,4 %) wurden medizinische (Abweichungen vom geplanten Operationsverlauf) und in 20 Fällen (18,7 %) Kombinations-Fehler attestiert.
Die Häufigkeit und Verteilung der einzelnen Fehlerkategorien sind in Abbildung 1 aufgelistet. Über die Hälfte aller Fehler wurde in der Kategorie 2 „präoperatives Management“ (n = 24; 22,4 %) und in der Kategorie 6 „Siebe“ (n = 27; 25,2 %) beobachtet.
95 Fehler (88,8 %) wurden als leicht, unerheblich eingestuft, 12 (11,2 %) als schwer, erheblich. Die meisten Fehler (n = 98; 91,6 %) wurden als leicht vermeidbar, 6 (5,6 %) als schwer und 3 (2,8 %) als unvermeidbar gewertet.
Unter Verwendung eines Chi-Quadrat-Tests fand sich kein signifikanter Zusammenhang der Fehlerhäufigkeit mit dem Geschlecht der Patienten, der ASA-Klassifikation oder der Narkoseform.
Die Fehlerhäufigkeit war erhöht bei Notfalleingriffen (15,4 %) im Vergleich zu elektiven Eingriffen (9,4 %) und in der Endoprothetik bezüglich der Eingriffskategorie bzw. -lokalisation im Vergleich zu den Eingriffen an den Extremitäten bzw. am Stammskelett (t-Test, F = 5,89, p = 0,05). Tabelle 2 zeigte eine Übersicht der Fehlerrate in Relation zur Art bzw. Lokalisation des Eingriffes.
In weniger als 1 % kam es bei den insgesamt 107 Fehlern zu klinischen Auswirkungen. Bei einer 76-jährigen Patientin war der stationäre Krankenhausaufenthalt um 3 Tage verlängert. Ein abgebrochener Bohrer wurde primär bei einer Plattenosteosynthese einer proximalen Humerusfraktur intraossär unter BV-Kontrolle geortet und belassen. Nach postoperativer Röntgenkontrolle mit dann intraartikulärer Lage war sekundär ein Zweiteingriff zur Entfernung notwendig (Abb. 2).
Weitere Beispiele für erhebliche Abweichungen waren intraoperative mögliche Kontaminationen durch Lösen der Abdeckfolien oder eine Verzögerung der Operationsdauer durch Wartezeit über eine Stunde bei unsterilem benötigtem Instrumentarium. Beispiele für kleine, unerhebliche Abweichungen waren ein heruntergefallenes Kauther-Kabel mit Zeitverzögerung bis zur Beschaffung eines neuen, eine Zeitverzögerung durch Schwierigkeiten und damit verzögerter Anästhesieeinleitung oder fehlende Bereitstellung von Blutkonserven.
Eine Seitenverwechslung trat nicht auf; bei einem Patienten (1:984; 0,1 %) musste die Seitenlokalisation bei fehlender präoperativer Markierung und unterschiedlichen Angaben in der Operations-Aufklärung und im Operationsprogramm geklärt werden; dies wurde als Beinahe-Verwechslung gewertet.
Bei 48 der 72 Eingriffe (66,6 %), in denen mindestens ein Fehler beobachtet wurde, kam es zu einer Zeitverzögerung. Bezogen auf alle Fehler lag diese bei durchschnittlich 8,53 (0–90) Minuten. Die Gesamt-Zeitverzögerung betrug somit 912 Minuten. Bei Berechnung einer Operationsminute mit 12,00 €/min. ergab sich somit ein Kostenaufwand bzw. ein mögliches Kostenersparnis-Potenzial von 10.944,00 €.
Diskussion
In der medizinischen Literatur existiert keine einheitliche Fehler-Definition. Verschiedene Termini, wie z.B. Komplikation, unerwünschtes Ereignis, menschliches Versagen (Irrtum) etc. werden oft gleichbedeutend verwendet vergleichbar mit den englischen Begriffen „mistake“, „error“ und „failure“. Generell kann man verschiedene Typen von Fehlern unterscheiden, z.B. passive oder aktive Fehler, Fehler des gesamten Systems oder innerhalb eines Systems oder einfache Unachtsamkeiten (z.B. Konzentrationsschwächen oder Erinnerungslücken).
Nach Reason [11] bedeutet ein Fehler ein Merkmalswert oder Terminus, welcher alle Gelegenheiten umfasst, bei denen die geplante Folge von geistigen oder physikalischen Aktivitäten misslingt, um das angestrebte Ziel zu erreichen ohne die Intervention eines unvorhersehbaren Ereignisses.
Wie Boström et al. [10] haben wir uns in unserer Studie für eine andere, weiter gefasste Definition entschieden, die von Bernstein et al. [9] als „Abweichung vom optimalen Verlauf“, englisch DOC = „deviation from an optimal course“, bezeichnet wurde. Man mag entgegenhalten, dass dadurch sehr viele „kleine“, oft unbedeutende Fehler erfasst werden, die häufig ohne Relevanz bleiben.
Aber im Sinne der Vollständigkeit wollten wir alle Abweichungen erfassen und erst danach über den Schweregrad, die Relevanz und die Vermeidbarkeit entscheiden.
Insgesamt fanden wir in ca. 10 % Abweichungen vom angestrebten Operationsverlauf; dabei ist dieser Wert deutlich niedriger als in anderen Beobachtungsstudien [8–10, 12–14], bei denen Werte von 25 % und höher angegeben werden.
Nach unserem Wissen ist die vorgestellte Studie die erste dieser Art im deutschsprachigen Raum im Fachgebiet der Orthopädie und Unfallchirurgie.
Einige methodisch bedingte Einschränkungen der Studie sollen angemerkt werden. Die Daten sind nicht als repräsentativ anzusehen, da es sich um eine Monocenter-Studie handelt. Durch die Beurteilung und Einschätzung der Fehler durch verschiedene Operateure wird immer eine Subjektivität vorliegen, vergleichbar mit der ASA-Einschätzung durch verschiedene Anästhesisten. Durch die Erfassung der Daten über einen großen Zeitraum wird hier jedoch eine gewisse Nivellierung erwartet. Die durchführende Klinik ist eine Ausbildungsklinik; es könnte der Eindruck entstehen, dass durch mehrere unerfahrene Operateure mehr Fehler zu erwarten seien. Da aber immer ein Facharzt-Standard durch einen erfahrenen Oberarzt garantiert ist, kann dieser Einflussfaktor nach unserem Ermessen vernachlässigt werden.
Während der halbjährigen Studienphase war die Fehlerrate gleichbleibend. Es fand eine ständige Supervision durch den für die Operation verantwortlichen Operateur statt. Andere Studien belegen eine Abhängigkeit der Fehlerrate von der Qualität der Kontrolle bzw. Supervision. Boström et al. [10] fanden in der zweiten Hälfte ihrer Studienphase, in der nicht mehr so konsequent eine Supervision durchgeführt wurde wie in der ersten Phase, eine Abnahme der erfassten Fehlerrate auf 50 %.
Insgesamt war die Fehlerrate in unserer Studie mit 10,8 % im Vergleich zu anderen Studien [8, 10, 12–14] gering. Verantwortlich dafür könnte auch der sog. Hawthorne-Effekt [15] sein, der beschreibt, dass die Arbeitsqualität steigt bzw. die Fehlerrate sinkt, sobald der Proband weiß, dass er kontrolliert wird.
Ein positiver Nebeneffekt der durchgeführten Studie war die in den täglichen Besprechungen stattgefundene offene Diskussion über die erlebten Fehler und deren medizinische bzw. organisatorische Ursachen.
Ein weiterer Aspekt unserer Studie war die signifikant erhöhte Fehlerrate bei Notfalleingriffen im Vergleich zu elektiven Operationen (15,4 % versus 9,4 %).
Hier kann der Mangel an Zeit zur Vorbereitung, zum Überlegen und Planen, die mögliche Übermüdung der Mitarbeiter sowie die oft zeitlich begrenzte Verfügbarkeit gewisser Equipments als Stressfaktor und damit als Quelle einer höheren Fehlerrate angesehen werden [12, 14, 16]. Der Stressfaktor Zeit ist in der Studie von Sexton et al. [14] ausführlich beschrieben. Bendavid et al. [12] berichten über eine erhöhte Fehlerrate an Wochenenden bzw. in Sommermonaten während der Urlaubszeit.
Andere Studien berichten über eine geringere Fehlerrate bei Notfalleingriffen und begründen dies mit einer erhöhten Aufmerksamkeit der Mitarbeiter und der technisch oft nicht so anspruchsvollen Eingriffsqualität [10].
Die Einteilung der Fehler in nicht medizinische, organisatorische und in medizinische, die durchgeführte Prozedur betreffende Fehler ist allgemein akzeptiert. Nahezu alle Studien belegen, dass es sich in der überwiegenden Mehrzahl um organisatorische Fehler handelt. Boström et al. [10] berichten in ihrer Studie mit 190 Fehlern bei 756 neurochirurgischen Operationen über 69 % organisatorische, 6 % Kombinations- und 26 % medizinsicher Fehler.
Wong et al. [8] berichten bei ihrer Befragung von 917 Chirurgen, dass 53 % von ihnen in den letzten 6 Monaten einen Fehler erlebt hätten; davon hätten 78 % der Fehler im Krankenhaus stattgefunden, 60 % im Operationssaal. Der Chirurg sei dabei in 60 % an dem Fehler beteiligt gewesen, in 40 % seien andere Berufsgruppen verantwortlich gewesen. Die häufigsten Fehler „Equipment und Kommunikation“ hätten in 54 % vorgelegen. In unserer Studie zeigten sich organisatorische Fehler sogar in 72,9 %; reine medizinische Fehler nur in 8,4 % und Kombinationsfehler in 18,7 %.
In mehreren Berichten [8–10, 12–14, 16] wird die Vermeidbarkeit aller Fehler mit 50–60 % angegeben; betroffen waren dabei aber alle chirurgischen Fachdisziplinen. In unserer Studie wurden im Fachgebiet Orthopädie und Unfallchirurgie über 90 % aller Fehler als leicht vermeidbar gewertet.
Seitenverwechslungen traten in der eigenen Studie glücklicherweise nicht auf. In einem Fall (0,1 %) war es aber zu einer Beinahe-Verwechslung gekommen. Dies entspricht den Daten von Clarke et al. [17], die ein Risiko einer Seitenverwechslung mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1015 bei allgemeinchirurgischen Eingriffen angeben.
Die konsequente präoperative Seitenmarkierung, präoperative Checklisten und ein Timer-Time-out unmittelbar vor der Hautinzision können hier vor einer Seitenverwechslung schützen.
Die Seitenmarkierung durch den Operateur war bereits seit mehreren Jahren in der eigenen Klinik eingeführt. Als weitere Konsequenzen aus den Daten unserer Studie haben wir das Team-Time-out verbessert und in einer Checkliste aktualisiert. Da in einem Viertel aller unserer Fehler präoperative Managementdefizite (fehlende bestellte Implantate, Instrumente, Blutkonserven etc.) aufgedeckt wurden, ist die Operationsbesprechung am Vortag optimiert worden zur Überprüfung der benötigten Materialien.
Patientensicherheitsprogramme mit Checklisten sind bereits seit mehreren Jahren in mehreren Studien [18–22] als Instrumente zur Reduktion von Fehlern anerkannt. Das unmittelbar präoperative Team-Time-out hilft, Seitenverwechslungen zu vermeiden; Zählkontrollen am Ende der Operation helfen, die Gefahr von übersehenen, belassenen Fremdkörpern oder Instrumenten zu minimieren.
In einer bundesweiten Umfrage zeigt Lessing [23] jedoch auf, dass Zählkontrollen nur in 2/3 aller deutschen unfallchirurgisch-orthopädischen Kliniken durchgeführt werden. Im Operationsbericht wird dies sogar nur in 14 % dokumentiert.
Eine hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben. Sehr viele Probleme sind sehr schwer fassbar und liegen auf der Kommunikationsebene [24]. So konnten Egorova et al. [25] und Gawande et al. [16] nachweisen, dass ein Personalwechsel während einer Operation ein Risikofaktor für das Übersehen bzw. Belassen eines Fremdkörpers darstellt.
Ein Problem von Checklisten liegt auch in der Nachhaltigkeit. So konnten Rateau et al. [26] in einer retrospektiven Untersuchung bei 40.000 Operationen zeigen, dass in 2,1 % der Fälle trotz auffälliger Befunde in der präoperativen Checkliste die Operation trotzdem durchgeführt wurde. Gawande et al. [16] berichten, dass bei nachgewiesenen, übersehenen Fremdkörpern die Zählkontrollen in 88 % als unauffällig dokumentiert wurden. Sehr wichtig und in mehreren Untersuchungen [27, 28] nachgewiesen ist bei der Implementierung von Checklisten und bei der Überprüfung der Nachhaltigkeit die Rolle des leitenden Arztes als Vorbildfunktion.
Die Bedeutung von Fehlern im Operationssaal kann auch durch die damit verbundene Zeitverzögerung erklärt werden. In einer prospektiven Studie bei 1531 neurochirurgischen Operationen haben Wong et al. [29] in über der Hälfte ihrer Fälle eine Zeitverzögerung gefunden; ein unzureichendes Equipment war dabei die häufigste Ursache der Zeitverzögerung. In unserer Serie kam es bei ca. 2/3 aller fehlerbehafteten Eingriffe zu Zeitverzögerungen. Die tatsächliche ökonomische Bedeutung dieser Zeitverzögerung kann nur geschätzt werden. Die Kosten einer Operationsminute sind unterschiedlich und hängen im Wesentlichen vom Versorgungs- bzw. Operationsspektrum des Krankenhauses ab [30]. Die Kosten für eine Operationsminute werden mit 10–15,00 € [30] angegeben, in unserem Krankenhaus wurde 12,00 €/min. durch die Controlling-Abteilung ermittelt. Die wirtschaftliche Bedeutung wird dadurch ersichtlich, dass sich in unserer Berechnung über einen Halbjahreszeitraum eine mögliche Kostenersparnis von ca. 10.000,00 € ergäbe.
Ein weiterer erwähnter Vorteil der vorgelegten Studie ist die sich daraus entwickelnde Kultur des Umgangs mit Fehlern. Es muss offen und ohne Angst vor Repressalien über die stattgehabten Fehler zeitnah diskutiert werden. Ähnlich dem Vorgehen bei Zertifizierungen oder dem Erarbeiten von Qualitätsmanagement-Maßnahmen kann der Leitsatz gelten: „Der Weg ist das Ziel“. Dadurch entstehen eine Fehlerkultur und ein Fehler-Bewusstsein, welche in sich schon Lösungsansätze zu Fehlervermeidungsstrategien entstehen lassen.
Fazit
Gemäß der These von Laurence J. Peter „Fehler vermeidet man, indem man Erfahrung sammelt, Erfahrung sammelt man, indem man Fehler macht.“ können Fehler nie gänzlich vermieden werden.
Die erste Voraussetzung zur Fehlervermeidung besteht in der konsequenten Dokumentation und Analyse typischer Fehler sowie verfahrens- und patientenbezogener Charakteristika. Die Dokumentation ist aufwendig und muss permanent überprüft werden, ist aber die Voraussetzung, um effiziente Vermeidungsstrategien zu entwickeln.
Die Zeit als Stressfaktor kann bei Notfalleingriffen eine Rolle spielen. In ca. 2/3 der Fälle bedeuten Fehler eine Zeitverzögerung des Operationsablaufs. Allein aus den immer wichtiger werdenden wirtschaftlichen Gesichtspunkten kann eine konsequente Fehlervermeidung somit Zeit sparen helfen und beinhaltet ein mögliches Kostenersparnis-Potenzial.
Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Korrespondenzadresse
PD Dr. Reiner Wirbel
Chirurgie II: Unfall-, Hand- und
Wiederherstellungschirurgie
Verbundkrankenhaus
Bernkastel – Wittlich
Koblenzer Str. 91
54516 Wittlich
r.wirbel@verbund-krankenhaus.de
Literatur
1. Rieser S. Behandlungsfehlerstatistik. Ein Viertel der Ansprüche halten die Gutachter für begründet. Dt Ärztebl 2011; 108: A1459
2. Statistische Erhebung der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen für das Statistikjahr 2012. www.bundesaerztekammer.de/downloads/bundesein- heitliche_statistik_2012_gesch.pdf
3. Kwaan MR, Studdert DM, Zinner MJ et al. Incidence, patterns, and prevention of wrong-site surgery. Arch Surg 2006; 141: 353–358
4. Meinberg EG, Stern PJ. Incidence of wrong-site surgery among hand surgeons. J Bone Joint Surg 2003; 85Am: 193–197
5. Schrappe M, Lessing LC, Albers B et al. Agenda Patientensicherheit 2007. Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V., Private Universität Witten/Herdecke, 2007
6. Ebbeke P. Belassene Fremdkörper aus Sicht der Op.-Schwester. Chirurg 2007; 78: 13–21
7. Jhawar BS, Mitsis D, Duggal N. Wrong-sided and wrong-level neurosurgery: a national survey. J Neurosurg Spine 2007; 7: 467–472
8. Wong DA, Herndon JH, Canale ST et al. Medical Errors in orthopaedics. Results of an AAOS member survey. J Bone Joint Surg 2009; 91Am: 547–557
9. Bernstein M, Hebert PC, Etchells E. Patient safety in neurosurgery: detection of errors, prevention of errors, and disclosure of errors. Neurosurg Q 2003; 13: 125–137
10. Boström J, Yacoub A, Schramm J. Prospective collection and analysis of error data in a neurosurgical clinic. Clin Neurol Neurosurg 2010; 112: 314–319
11. Reason JT. Human error: models and management. B M J 2000; 320: 768–770
12. Bendavid E, Kaganova Y, Needleman J et al. Complication rates on weekends and weekdays in US hospitals Am J Med 2007; 120: 422–429
13. Nuland SB. Mistakes in the operating room – error and responsibility. N Engl J Med 2004; 351: 1281–1283
14. Sexton JB, Thomas EJ, Heimreich RL. Error, stress and teamwork in medicine and aviation: cross sectional surveys. B M J 2000; 320: 745–749
15. Schwartz D, Fischhoff B, Krishnamurti T et al. The Hwathorne effect and emergency awareness. Proc Natl Acad Sci USA 2013; 110: 15242–15246
16. Gawande AA, Studdert DM, Orav EJ et al. Risk factors for retained instruments and sponges after surgery. N Engl J Med 2003; 348: 229–235
17. Clarke JR, Johnston J, Finley ED. Getting surgery right. Ann Surg 2007; 246: 395–405
18. Haynes AB, Weiser TG, Berry WR et al. A surgery safety checklist to reducemorbidity and mortality in a global population. N Engl J Med 2009; 360: 491–499
19. van Klei WA, Hoff RG, van Aarnheim EE et al. Effects of the introduction of the WHO „Surgical Safety Checklist“ on in-hospital mortality: a cohort study. Ann Surg 2012; 255: 44–49
20. Fudickar A, Hörle K, Wiltfang J et al. „Surgical Safety Checklist“ der Weltgesundheitsorganisation. Auswirkungen auf Komplikationsrate und interdisziplinäre Kommunikation. Dt Ärztebl 2012; 109: 695–701
21. Panesar SS, Noble DJ, Mirza SB et al. Can the surgical checklist reduce the risk of wrong site surgery in orthopedics? Can the checklist help? Supporting evidence from analysis of a national patient incident reporting system. J Orthop Surg Res 2011; 6: 18–23
22. Sewell M, Adebibe M, Jayakumar P et al. Use of the WHO surgical safety checklist in trauma and orthopaedic patients. Int Orthop 2011; 35: 897–90
23. Lessing C. Postoperative Zählkontrollen sind nicht standardisiert. Dt Ärztebl 2012; 109: A372–A373
24. Herndon JH. 2004 ABJS Earl McBride lecture: patient safety: past, present, and future. Clin Orthop 2005; 440: 242–250
25. Egorova NN, Moskowitz A, Gelijns A et al. Managing the prevention of retained surgical instruments: what is the value of counting? Ann Surg 2008; 247: 13–18
26. Rateau F, Levrant L, Colombel AL et al. Checklist „Patient Safety“ in the operating room: one year experience of 40000 surgical procedures at the university hospital of Nice. Ann Fr Anesth Reanim 2011; 30: 479–483
27. Conley DM, Singer SJ, Edmonson L et al. Effective surgical checklist implementation. Am J Coll Surg 2011; 212: 873–879
28. Ruchlin HS, Dubbs NL, Callahan MA. The role of leadership in instilling a culture of safety: lessions from the literature. J Healthc Manag 2004; 49: 47–57
29. Wong J, Khu KJ, Kaderali Z, et al. Delays in the operating room: signs of animperfect system. Can J Surg 2010; 53: 189–195
30. Macario A. What does one minute of operating room time cost? J Clin Anesth 2010; 22: 233–236
Fussnoten
1 Chirurgische Klinik II: Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie
2 Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Verbundkrankenhaus Bernkastel – Wittlich