Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2017

Verletzungen des hinteren Kreuzbands – operativ oder konservativ?
Ein Beitrag des Ligament Komitees der Deutschen Kniegesellschaft (DKG)A contribution of the Ligament Committee of the German Knee Society

Wolf Petersen1, Thore Zantop2

Zusammenfassung: Verletzungen des hinteren Kreuzbands (HKB) sind selten und werden daher oft übersehen. Sie treten oft in Kombination mit Verletzungen der posterolateralen und posteromedialen Strukturen auf. Aus diesem Grunde erfordern Bandverletzungen eine differenzierte Diagnostik. Dabei spielen gehaltene Aufnahmen eine wichtige Rolle, da sie geeignet sind, das Ausmaß der posterioren Instabilität zu quantifizieren. Bei chronischen Instabilitäten sollte immer eine fixierte hintere Schublade ausgeschlossen werden.

Isolierte HKB-Rupturen haben ein gutes Heilungspotenzial. Daher kann in diesen Fällen ein konservativer Therapieversuch vielversprechend sein. Bei akuten Kombinationsverletzungen wird eine frühzeitige Naht der posteromedialen oder posterolateralen Strukturen in Kombination mit einer HKB-Plastik angestrebt. Eine Alternative für den frühen Bandersatz ist die Naht und Augmentation mit kräftigen Fadenkordeln (Ligament Bracing). Bei chronischen Instabilitäten muss zwischen ligamentären Rekonstruktionseingriffen und ossären Korrekturen unterschieden werden. Als operatives Verfahren zum HKB-Ersatz werden arthroskopische transtibiale Tunnel-Techniken und sogenannte Inlay-Techniken beschrieben.

Schlüsselworte: hintere Instabilität, Knieluxation,
Varus-Deformität, posteromediale Strukturen, posterolaterale Strukturen, hohe tibiale Umstellungsosteotomie

Zitierweise
Petersen W, Zantop T: Verletzungen des hinteren Kreuzbands –
operativ oder konservativ? Ein Beitrag des Ligament Komitees der Deutschen Kniegesellschaft (DKG).
OUP 2017; 7/8: 386–395 DOI 10.3238/oup.2017.0386–0395

Summary: Injuries of the posterior cruciate ligament (PCL) are rare and often overlooked. They often occur in combination with injuries of posterolateral and posteromedial structures. For this reason PCL injuries require a differentiated diagnosis. Stress x rays play an important role since they are suitable to quantify the extent of posterior tibial translation. In case of chronic instability, a fixed posterior drawer should always be excluded.

Isolated PCL ruptures have a good healing potential. Therefore, a conservative therapy can be promising in these cases. In acute combined injuries an early suture of the posteromedial or posterolateral structures should be performed in combination with a PCL plasty. An alternative is the augmentation with strong cords (ligament bracing). In chronic instabilities, a distinction must be made between ligament reconstruction and osseous corrections. Arthroscopic transtibial tunnel techniques and so-called inlay techniques are described as an operative procedure for the replacement of the PCL.

Keywords: posterior instability, knee luxation, varus deformity, posteromedial structures, posterolateral structures, high tibial osteotomy

Citation
Petersen W, Zantop T: Injuries of the posterior cruciate ligament –
A contribution of the Ligament Committee of the German Knee Society.
OUP 2017; 7/8: 386–395 DOI 10.3238/oup.2017.0386–0395

Einleitung

Verletzungen des hinteren Kreuzbands (HKB) sind selten und werden daher oft übersehen. Das gilt besonders für Verletzungen, die nach einem Niedrigenergietrauma auftreten (z.B. Sportunfälle). Aber selbst beim polytraumatisierten Patienten stehen die Kniegelenkverletzungen bei der Primärversorgung nicht immer im Vordergrund und werden oft im weiteren Behandlungsverlauf vergessen.

Aufgrund ihrer Seltenheit werden HKB-Verletzungen jedoch nicht nur häufig übersehen, sondern auch falsch behandelt, da die vom vorderen Kreuzband bekannten Algorithmen auf das hintere Kreuzband übertragen werden. Insbesondere in der Diagnostik und im Management posterioer Instabilitäten werden oft entscheidende Fehler gemacht, die zu schlechten Behandlungsergebnissen führen [3].

Dieser Übersichtsartikel soll einen Überblick über das Management und die Therapie von Rupturen des hinteren Kreuzbands sowie von Kombinationsverletzungen des HKB mit den Strukturen der posterolateralen und posteromedialen Gelenkecke geben. Der Beitrag soll klären, welche Verletzungen konservativ zu behandeln sind und welche sich eher für eine operative Therapie eignen.

Anatomie und Biomechanik

Das HKB hat eine wichtige Funktion für die Biomechanik des Kniegelenks [7, 12]. Es entspringt am medialen Femurcondylus und inseriert im hinteren Anteil der Fossa intercondylaris ca. 15 cm unterhalb der Gelenkflächen (Abb. 1). Es besteht aus 2 funktionellen Bündeln, dem kräftigen anterolateralen Bündel, das in 90° Beugung gespannt ist, und einem schwächeren posteromedialen Bündel, das in Streckung und maximaler Beugung gespannt ist. Das HKB wird anterior und posterior von den meniskofemoralen Bändern begleitet.

Das HKB ist der wichtigste Stabilisator gegen die posteriore tibiale Translation. Das gilt besonders für die Beugung. In Streckung wird die Stabilisation den Strukturen der posterolateralen und posteromedialen Gelenkecke übernommen, die agonistisch zum HKB wirken [2, 16, 28]. Die posterolaterale Gelenkecke besteht aus dem lateralen Seitenband, das gegen Varusstress stabilisiert und dem Popliteus-Komplex, der in Aussenrotation stabilisiert (Abb. 1). Die posteromediale Gelenkecke besteht aus dem medialen Seitenband, dem hinteren Schrägband und der posteromedialen Kapsel. Für die Stabilisation gegen die posteriore tibiale Translation sind vor allem das hintere Schrägband und die posteromediale Kapsel relevant.

Verletzungsmechanismus

HKB-Verletzungen treten typischerweise nach Hochenegietraumata auf (Dashbord injury, Autounfall, Motorradunfall). Bei Hochenergietraumata ist die Inzidenz von Begleitverletzungen hoch.

Eine epidemiologische Studie hat jedoch gezeigt, dass bis zu 40 % der HKB-Verletzungen auf Sportunfälle zurückzuführen sind [21]. Als typischer Unfallmechanismus im Sport gilt der Sturz auf die Tuberositas tibiae. Aber auch Rotations- und Hyperextensionstraumata kommen als Ursache in Betracht

Begleitverletzungen

HKB-Rupturen treten selten isoliert auf. Bei Kniegelenkluxationen kann es zur Verletzungen der Gefäße und Nerven der Fossa politea oder des N. peroneus kommen [18]. Auch Affektionen des Streckapparats und die Kombination Femurfraktur und HKB-Ruptur ist häufig [18].

Besonders hoch ist die Inzidenz ligamentärer Begleitverletzungen. Das gilt vor allem für Strukturen der posterolateralen und posteromedialen Gelenkecke. Die Inzidenz von Verletzungen der posterolateralen Gelenkecke beträgt je nach Studie zwischen 60 und 75 %; die Inzidemz posteromedialer Begleitveletzungen beträgt ca. 50 % [18].

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