Übersichtsarbeiten - OUP 06/2015

Zur Relevanz individueller funktionsdiagnostischer Erhebungen im Return-to-play-Prozess nach operativer Versorgung der VKB-Ruptur

Tobias Engeroff1, Daniel Niederer1, Winfried Banzer1

Zusammenfassung: Die Wiederaufnahme von Wettkampfaktivitäten ist für Athleten nach Verletzungen und Operationen von zentraler Bedeutung. Ziel der vorliegenden Übersichtsarbeit ist die Zusammenstellung funktional-muskuloskelettaler Erfassungsmethoden für die Rückkehr zur sportlichen Aktivität bei Erwachsenen nach operativer Versorgung von VKB-Rupturen auf der Basis von systematischen Reviews.

Zwei unabhängige Untersucher recherchierten relevante Literatur in MEDLINE. Zielgrößen waren der Zeitpunkt sowie die funktionalen Entscheidungskriterien für die Rückkehr zu sportlicher Aktivität (Return to play, RTP).

Aktuell existiert eine unüberschaubare Zahl an funktional-muskuloskelettalen Erfassungsmethoden und sportartspezifischen Tests. Von validem prädiktivem Wert scheinen insbesondere Seitenasymmetrien der Beinstreckerkraft, Single-Hop-Tests, das maximale Bewegungsausmaß im Kniegelenk sowie der normalisierte Knieabstand während Drop-Jumps zu sein.

Aus funktioneller Sichtweise stehen als Ziele das Wiedererlangen der physiologischen Funktion und die Belastbarkeit sowie Schmerzfreiheit unter Belastung im Fokus. Die hier aufgeführten Tests ermöglichen eine evidenzbasierte sowie differenzierte Betrachtung der Funktion des Bewegungsapparats und sind klinisch anwendbar.

Schlüsselwörter: VKB-Ruptur, Kniegelenk, Return to play, sportliche Belastung, Wettkampf

Zitierweise
Engeroff T, Niederer D, Banzer W. Zur Relevanz individueller funktionsdiagnostischer Erhebungen im Return-to-play-Prozess nach operativer Versorgung der VKB-Ruptur.
OUP 2015; 6: 301–307 DOI 10.3238/oup.2015.0301–0307

Summary: Return to play (RTP) and competition following injury and surgery are of particular importance for athletes. The aim of our study was to provide a review on functional criteria and time of return in the RTP decision process for adults undergoing surgical management of the ACL.

Two independent investigators searched MEDLINE. Targeted outcomes were functional criteria for return to play decisions and total duration of the RTP process.

Up-to-date, a manageable number of functional and musculoskeletal tests to support the RTP process are available. The relevant literature describes side differences in maximal voluntary force of the knee extensors, during single-leg-hop-tests, during maximal range of motion of the knee and, in addition, the normalized knee distance during drop-jumps to be of particular predictive value.

From a functional point of view, to regain the pre-operative and physiological value is of particular importance. The assessment methods described allow a differentiated consideration of function and are clinical applicable.

Keywords: ACL rupture, return to play, knee joint, competition

Citation
Engeroff T, Niederer D, Banzer W. On the relevance of individual functional outcome assessments in the return to play decision process following operative management of acl rupture.
OUP 2015; 6: 301–307 DOI 10.3238/oup.2015.0301–0307

Einleitung

Rupturen des vorderen Kreuzbands (VKB) stellen mit einer geschätzten Häufigkeit von 1 pro 3.500 Einwohnern eine der häufigsten Bandverletzung der unteren Extremitäten dar [1]. Rupturen des VKB sind assoziiert mit einer vergleichbar langen Rehabilitationszeit, verringerter Leistungsfähigkeit und einem erhöhten Risiko für Re-Rupturen [2, 3]. Ungefähr zwei Drittel der VKB-Verletzungen ereignen sich im Sport bei Richtungswechseln, Beschleunigen, Abbremsen oder beim Landen nach einem Sprung und ohne Gegner- oder Mitspielereinwirkung [4]. So ist sie in Sportarten wie Fußball sogar die häufigste operativ versorgte, muskuloskelettale Verletzung [5]. Insbesondere junge und sehr aktive Personen scheinen ein hohes Risiko für einen ungünstigen Erkrankungsverlauf zu haben. Aktuelle Studien berichten von Wiederverletzungsraten bis zu 24 % innerhalb der ersten 2 Jahre nach einmaliger Kreuzbandverletzung [2]. Die erfolgreiche Behandlung dieses Patientenkollektivs stellt somit besondere Anforderungen an Arzt und Rehabilitationsteam.

Insbesondere bei Spitzensportlern, aber auch häufig bei Hobbysportlern ist, neben der Wiederherstellung der Alltagsfunktion, die Wiederaufnahme des sportart- und wettkampfspezifischen Trainings sowie – zum Teil – der Wettkampfstätigkeit nach einer Operation von zentraler Bedeutung [6]. Diese Wiederaufnahme wird in der einschlägigen Literatur als Return to play (RTP) bezeichnet. Nahezu alle Unfallchirurgen und Orthopäden empfehlen die operative Behandlung von VKB-Rupturen, insbesondere bei bestehendem Wunsch des Patienten, sportliche Aktivität nach der Rehabilitation wieder uneingeschränkt ausüben zu können.

Zeitpunkt und Return to
play Quoten

Laut einer systematischen Übersichtsarbeit empfiehlt der Großteil der relevanten Studien eine Rückkehr zu einfacheren Aktivitäten ohne Gegnerkontakt (bspw. laufen) 3 Monate postoperativ, zu Sportarten mit z.B. Drehbewegungen jedoch erst 6–9 Monate post-operativ [7].

Insgesamt nehmen ca. 82 % aller operativ versorgten Kreuzband-Patienten ihre sportliche Aktivität wieder auf, 63 % kehren dabei zu ihrem prä-operativen Level zurück. Unter diesen schafften, laut der Autoren um Harris [7], lediglich 44 % die nachhaltige Wiederaufnahme ihrer Wettkampfaktivität. Dieser verhältnismäßig niedrigen Quote stehen die Angaben zur Funktionsfähigkeit gegenüber, quantifiziert insbesondere über die Beweglichkeit im Kniegelenk. Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2011 erreichen fast 90 % aller Athleten eine normale bzw. annähernd normale Kniefunktion nach operativer Versorgung [8]. Einfache Funktionstests wie Beweglichkeitsmessungen im Kniegelenk sind somit nicht geeignet, um als Hauptkriterium für die RTP-Entscheidung herangezogen zu werden. Der zahlenmäßige Unterschied in den Ergebnissen simpler Funktionstests und der tatsächlichen RTP-Rate unterstützen somit die Relevanz von Funktionstests mit trennschärferem und somit validerem prädiktiven Wert.

Forschungsdefizit und Ziel der Übersichtsarbeit

Als Gründe für die vergleichbar niedrige Quote der erfolgreichen RTP nach VKB-Operation werden sowohl objektiv erfassbare Defizite, subjektiv empfundene Funktionsfähigkeit als auch psychosoziale Barrieren wie die Angst vor neuen Verletzungen und die Angst vor kniegelenkbelastenden Bewegungen diskutiert [9].

Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidungsfindung für ein RTP für das Behandlungsteam (Arzt, Patient, Rehabilitationspersonal) eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Existierende Leitlinien empfehlen eine Dauer bis RTP von 9 Monaten [7, 10] bzw. 6–8 Monaten [3] postoperativ. Allerdings sind diese Empfehlungen nur bedingt individuell anwendbar. Die Autoren relevanter Studien zeigen hier beträchtliche interindividuelle Unterschiede von 3–24 Monaten postoperativ [11]. Während Spitzensportler im Mittel häufig weniger Zeit bis zum RTP als Freizeit- und Amateursportler benötigen, ist aber auch dies individuell sehr unterschiedlich [10]. Da für die Entscheidungsfindung somit keine allgemeingültigen Zeitpunkte herangezogen werden können, zeigt sich erneut die Relevanz der Bewertung auf Basis individueller Kriterien. Somit stellen sich Fragen, wie der Zeitpunkt evidenzbasiert und individualisiert bestimmt und der Rehabilitationsprozess objektiv erfasst werden kann.

In Literatur und klinischer Praxis existieren eine Vielzahl an funktionalen Erfassungsmethoden zur Bestimmung des individuellen Status. Oftmals ist nicht ausreichend definiert, welche Eigenschaft durch eine Assessmentmethode erfasst wird und welche Relevanz diese für einen erfolgreichen RTP-Prozess hat. Von großer Bedeutung für die ärztliche Praxis ist daher die Überprüfung der Eignung einzelner Funktionsuntersuchungen oder Testbatterien zur Prädiktion des Zeitpunkts von RTP. Aktuell ist die Datenlage zu objektiven Kriterien mit prädiktivem Wert zur Entscheidungsfindung des RTP uneinheitlich.

Vor diesem Hintergrund ist es das primäre Ziel der vorliegenden Arbeit, eine Übersicht der funktional-muskuloskelettalen Erfassungsmethoden zur Rückkehr zur sportlichen Aktivität (RTP) nach operativer Versorgung von VKB-Rupturen bei Erwachsenen zu erstellen. Daraus ergeben sich in einem zweiten Schritt Empfehlungen zur Anwendung relevanter Funktionsassessments und zu deren Eingliederung in einen erfolgreichen Behandlungs- und RTP-Prozess.

Material und Methoden

Im Februar 2015 wurde eine selektive Literaturrecherche durchgeführt. Zwei unabhängige Untersucher (TE, DN) ermittelten relevante Literatur in der Datenbank PubMed (MEDLINE) unter Einbezug von MeSH-Terms („acl reconstruction“ [All Fields] OR „anterior cruciate ligament reconstruction“ [All Fields]) AND („return to play“ [All Fields] OR „return to sport” [All Fields] OR comeback [All Fields]). Eingeschlossen wurden systematische peer-review-Übersichtsarbeiten in deutscher und englischer Sprache, die die Relevanz funktionsdiagnostischer Kenngrößen auf den RTP erwachsener Patienten nach VKB-Operationen thematisieren. Das Literaturverzeichnis der eingeschlossenen Studien wurde zusätzlich auf weitere, potenziell relevante Studien überprüft.

Biomechanische
und morphologische
Überlegungen

Die Funktion des VKB wird durch die Kombination aus mechanischer Führung, kräftiger Bandstruktur und propriozeptiver Wahrnehmung mittels Mechanorezeptoren ermöglicht. Bei Funktionsverlust resultieren eine eingeschränkte Belastbarkeit des Bewegungsapparats und ein erhöhtes Risiko für Schäden an den übrigen gelenkbildenden Strukturen. Durch die Belastung während Sport und körperlicher Aktivität kann sich das Risiko einer Re-Ruptur und der Entwicklung einer Kniegelenk-arthrose erhöhen. Für die erfolgreiche Behandlung nach VKB-Ruptur ergibt sich folglich das Ziel, sowohl die mechanische Stabilität als auch die neuromuskuläre Funktion wiederherzustellen.

Zugangsweg, Transplantatherkunft, Fixationstechnik und viele weitere Punkte ermöglichen eine Vielzahl an unterschiedlichen Operationsmethoden. Obwohl von großer Relevanz in der Gestaltung der Rehabilitationsmaßnahmen [3], hat laut einer systematischen Übersichtsarbeit die Operationstechnik und -art (z.B. Art des Transplantats) keinen systematischen Effekt auf den Zeitpunkt des RTP [4]. Im Folgenden werden aus diesem Grund die verschiedenen Erhebungsmethoden unabhängig von der Art des operativen Eingriffs (Transplantat etc.) diskutiert.

Übersicht der funktional-muskuloskelettalen
Erfassungsmethoden

Die auf Basis der Literaturrecherche in die Studie eingeschlossenen Arbeiten bieten eine Übersicht der funktional-muskuloskelettalen Erfassungsmethoden zur Entscheidungsfindung RTP. Bei den in Tabelle 1 aufgelisteten Methoden handelt es sich folglich um eine Auswahl validierter Tests, die auf Basis ihrer Relevanz als Prädiktor für den Entscheidungsprozess RTP selektiert wurden.

Häufig untersucht und von validem prädiktivem Wert ist laut der Übersichtsarbeiten insbesondere die Kraft. Hierbei sind sowohl die Verhältnisse zwischen operativ versorgter und nicht-operierter Seite als auch Quadrizeps-Hamstrings-Verhältnisse von Relevanz [1, 3, 4, 9, 13]. Zusätzlich berichten einige Autoren von der Relevanz von Seitensymmetrieuntersuchungen im Single-Hop-Test, also bei einbeinigen Sprüngen [1, 4, 9, 13], für die Abschätzung des Risikos einer Re-Ruptur. Evidenz für eine Relevanz in der Bewertung des Funktionsstatus zur Entscheidungsfindung RTP besteht zudem für das maximale Bewegungsausmaß im Kniegelenk in der Sagittalebene [1, 4], wiederum zu erheben im Seitenvergleich. Ebenfalls ist Evidenz für die Relevanz von Seitenunterschieden zwischen operativ versorgter und nicht-operierter Seite des normalisierten Knieabstands während Drop-Jumps vorhanden [12, 1].

Von Relevanz sind zudem Tests zur Propriozeption. Eine aktuelle Übersichtsarbeit zeigt, dass nach VKB-Ruptur Einschränkungen sensomotorischer Fähigkeiten des Knies auftreten können [14]. Erhebungen dazu können mittels verschiedener Tests zur aktiven und passiven Reproduktion von Winkelstellungen, Kraft-Reproduktionen und Reaktionsfähigkeit auf destabilisierende Reize vorgenommen werden. Trotz ersten Hinweisen auf Verbesserung der sensomotorischen Fähigkeiten im postoperativen Verlauf (insbesondere durch die Remodellierung des Implantats [14], sind aktuell weder Hinweise zur Relevanz der Überprüfung dieses Verlaufs im RTP-Prozess noch Schwellenwerte resp. trennscharfe Kriterien (etwa im Seitenvergleich) zur Unterstützung der Entscheidungsfindung RTP auf Basis von funktionalen Tests der Sensomotorik publiziert.

Empfehlungen zur
Anwendung relevanter
Funktions-Assessments

Messung der Kraft

Bedingt durch zahlreiche Faktoren wie Begleitverletzungen oder die eingeschränkte Mobilität oder Belastbarkeit vor und während des Behandlungsprozesses, kommt es zu einem deutlichen Kraftverlust der unteren Extremität der betroffenen Seite. Die Wiederherstellung eines ausreichenden Kraftniveaus ist essenziell für die physiologische Funktion und den RTP. Als Outcomes werden die maximale Kraft der Kniebeuger und Strecker während der Bewegung und deren Verhältnis im Seitenvergleich erfasst.

Messung der Kraft: Isokinetik

Die isokinetische Diagnostik gewährleistet während der Bewegung unabhängig von der Größe des jeweiligen Drehmoments bzw. des Hebels des Lastarms einen konstanten Widerstand und, daraus resultierend, eine gleichbleibende Geschwindigkeit während der Kraftmessung. Nach der entsprechenden Aufwärmung resp. Gerätegewöhnung (üblicherweise 2 Serien je 10–20 Wiederholungen bei 30–40 % der subjektiven Maximalkraft) erfolgt die Testung der dynamischen, muskulären Leistungsfähigkeit der Knieflexoren (Hamstrings, ischiocrurale Muskulatur) und -extensoren (M. quadriceps femoris) in der entsprechenden Funktionsrichtung der Muskulatur. Die Versuchspersonen werden dabei standardisiert positioniert, die Seitenabfolge sollte zufällig bestimmt werden. Besonderes Augenmerk sollte auf die Fixierung der Hüfte gelegt werden. Zur Erfassung der Maximalkraft werden über das komplette Bewegungsausmaß (initial zu definieren) 3–5 maximal „kräftige“ Wiederholungen in Extension und Flexion durchgeführt. Die Winkelgeschwindigkeit für die Überprüfung der Funktionsasymmetrien beträgt dabei 180°/s und 300°/s. Relevant und daher zu standardisieren ist ebenfalls die extrinsische Motivation der Probanden in Form von Anfeuerung durch den Untersucher.

Messung der Kraft: Einfaches
Wiederholungsmaximum

Falls kein isokinetisches Testequipment vorhanden ist, bietet sich die Erfassung mittels einem Einer-Wiederholungs-Maximum an. Nach einer Gewöhnung (10–12 Wiederholungen, 40–60 % des Maximalgewichts) und einer Minute Pause absolviert der Patient 3–5 Wiederholungen einer der ausgewählten Übungen mit 60–80 % des vorher abgeschätzten Maximalgewichts [4]. Bei erfolgreicher Durchführung wird eine Wiederholung mit dem geschätzten Maximalgewicht durchgeführt [4]. Das Gewicht wird schrittweise erhöht, bis die Übung nicht mehr absolviert werden kann. Zwischen den Wiederholungen pausiert der Patient 3–5 Minuten. Das größte Gewicht, mit dem die Bewegung durchgeführt werden kann, ist das Einer-Wiederholungs-Maximum. In aktuellen Studien wird vor allem die Übung Beinpresse, zur Überprüfung mehrerer Muskelgruppen und derer Interaktion, empfohlen [4]. Auch Übungen zur Überprüfung der Kraft der Kniestrecker (M. quadriceps femoris) und Beuger (Hamstrings, ischiocrurale Muskulatur) könnten ergänzend durchgeführt werden. Diagnosekriterium ist der Vergleich zwischen betroffener und gesunder Seite bei einbeiniger Durchführung.

Messung der Bewegung

Laut der aktuellen Evidenzlage ist das maximale Bewegungsausmaß (ROM) von Flexion und Rotation im Kniegelenk von hoher Bedeutung für eine uneingeschränkte Funktion des Kniegelenks [1, 4]. Für die Bewertung von Seitendifferenzen sollte sowohl das passive Bewegungsausmaß im Liegen als auch das aktive Bewegungsausmaß in der Sagittalebene standardisiert erhoben werden. Eine weitere Möglichkeit ist die dynamische Erfassung des ROM der Knieflexion während des Drop-Vertical Jump (s. unten). Auch die Erfassung des ROM der Tibia Rotation ist von Bedeutung für eine uneingeschränkte Funktion des Kniegelenks nach VKB-Plastik. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass sowohl eine größere Außen- als auch eine größere Innenrotation positiv mit körperlicher Aktivität nach abgeschlossener Behandlung in Verbindung stehen [9]. Aktuell ist nicht ausreichend geklärt, ob und wie die Tibia ROM als Diagnosekriterium für den Return-to-play-Prozess eingesetzt werden kann.

Messung der neuromuskulären Kontrolle

Videoanalysen von VKB-Verletzungen lassen verringerte Knieflexion, vergrößerte Hüftflexion, eine in Valgusstellung kollabierte Position des Kniegelenks, reduzierte Plantarflexion im Sprunggelenk, vergrößerte Innenrotation im Hüftgelenk und vergrößerte Innen- oder Außenrotation der Tibia kurz vor- oder während des Verletzungsmechanismus erkennen [4]. Auf Basis der aufgeführten Abweichungen des Bewegungsmusters ist es relevant, spezifische Tests für die dynamische Erfassung der neuromuskulären Kontrolle durchzuführen. Die im Folgenden aufgeführten Sprungtests eignen sich für die Erfassung der dynamischen Stabilität des Kniegelenks und der Bewegungssymmetrie der gesunden und betroffenen Extremität.

Messung der neuromuskulären
Kontrolle: Drop-Vertical Jump

Der Drop-Vertical Jump Tests ermöglicht es, das Bewegungsmuster beim Landen auf ebenem Grund in der Frontal- und Sagittalebene kostengünstig und zeiteffektiv zu bewerten. Die Abduktion im Kniegelenk und die Symmetrie von gesunder und operierter Extremität wird zu 3 Zeitpunkten bewertet; vor dem Aufsetzen der Füße; während des Auftreffens; und beim Absprung [4]. Hierzu wird der Abstand zwischen Referenzpunkten an der Hüfte zur Normalisierung der Abstände an Knie und Knöchel verwendet [4]. Es wird angenommen, dass die Valgisierung des Kniegelenks in der Landephase einen Risikofaktor für erneute VKB-Rupturen ohne Gegnereinwirkung darstellt [4, 12]. Die Flexion im Kniegelenk in der Sagittalebene wird zu 2 Zeitpunkten erfasst. Die Messung kurz vor Bodenkontakt und bei maximaler Flexion während des Bewegungsablaufs ermöglicht die Kalkulation des ROM der Knieflexion [15]. Auch hier haben die Untersuchung des Bewegungsablaufs und des Umfangs im Seitenvergleich die größte Relevanz.

Für die Durchführung des Tests werden eine Absprungbox definierter Höhe (20–40 cm) und eine Videokamera benötigt. Der Patient wird nach einem Warm-Up angeleitet, sich mit beiden Füßen in einem Abstand von ca. 35 cm auf die Box zu stellen, mit einem Schritt von der Box auf den Boden zu steigen und mit beiden Beinen gleichzeitig auf dem Boden zu landen. Unmittelbar nach dem Landen soll der Patient vom Boden vertikal nach oben springen. Die Armhaltung sollte standardisiert werden. Abhängig von der Sportart können die Hände in den Hüften gehalten oder auch beim Sprung nach oben gestreckt werden. Der Ablauf ist in Abbildung 1 dargestellt.

Messung der neuromuskulären Kontrolle: Hop-Tests

Die Anwendung von 4 verschiedenen einbeinigen Sprung-Tests bietet die Möglichkeit, Funktion und Symmetrie von operiertem und gesundem Bein bei unterschiedlichen komplexen Bewegungsabläufen zu evaluieren [1, 4, 9, 13]. Die hier beschriebene Testkombination aus Single Hop, Triple Hop, Crossover-Hop und 6-Meter Timed Hop, wird häufig eingesetzt und besitzt eine gute Reliabilität bei Gesunden und Patienten mit Kreuzbandersatzplastik [2]. Ein häufig verwendetes Kriterium ist der „Limb-Symmetry-Index“, kurz LSI (LSI = [Wert betroffene Seite / Wert unbetroffene Seite] x 100 %) [2]. Ein Wert unter 100 % indiziert ein Defizit der betroffenen Seite [2].

Alle Tests werden zur Gewöhnung einmal mit jedem Bein durchgeführt. Es erfolgen pro Bein je 2 Testdurchgänge, aus denen für Links und Rechts je ein Mittelwert gebildet wird. Die Abfolge erfolgt randomisiert. Die Mittelwerte dienen zur Untersuchung der Seitensymmetrie von operierter und gesunder Seite [1, 4, 9, 13].

Für die Durchführung des Tests werden eine ebene Fläche mit rutschfreiem Untergrund, ein Maßband (10 m) sowie haltbares Klebeband benötigt. Die Tests sollten in der hier aufgeführten Reihenfolge absolviert werden. Bei allen Sprungtests dürfen die Arme zum Schwungholen oder zur Unterstützung der Balance, jedoch nicht zum Abstützen, eingesetzt werden.

  • Single Hop: Der Patient wird aufgefordert, einen einzelnen einbeinigen Sprung entlang des am Boden befestigten Maßbands zu absolvieren. Absprung und Landung erfolgen mit dem gleichen Bein. Das Diagnosekriterium ist die Sprungdistanz in Zentimetern erfasst am Absprung- und Aufsatzpunkt der Ferse oder Fußspitze.
  • Triple Hop: Der Patient absolviert 3 direkt aufeinanderfolgende Sprünge mit einem Bein entlang des am Boden befestigten Maßbands. Auch hier erfolgen Absprung und Landung mit dem gleichen Bein und das Diagnosekriterium ist die Gesamtdistanz der 3 Sprünge in Zentimetern.
  • Crossover Hop: In dieser Variante springt der Patient ebenfalls 3-mal aufeinanderfolgend mit dem gleichen Bein und landet auf der ipsilateralen Seite. Bei jedem Sprung wird das am Boden befestigte Maßband überkreuzt. Diagnosekriterium ist die Gesamtdistanz in Zentimetern.
  • 6-Meter Timed Hop: Der Proband legt eine 6 m lange Strecke entlang des Maßbands mittels einbeiniger Sprünge zurück. Das Diagnosekriterium ist die Zeit in Sekunden, die für das Zurücklegen der Strecke benötigt wird (Abb. 2).

Sportartspezifische Tests

Sportartspezifische Tests versprechen die Funktion noch realitätsnäher untersuchen zu können. Oftmals bietet die Durchführung komplexer Bewegungsabläufe den Nachteil, dass eine objektive Auswertung nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Auf Basis der aktuellen Datenlage gibt es keine sportartspezifischen Tests, die für den klinischen Einsatz als diagnostisches Kriterium für den RTP empfohlen werden können.

Einordnung der Funktions-Assessments in das RTP-
Entscheidungsprozess-Modell

Die bislang beschriebenen Ergebnisse über das funktionale Testen sind ein wichtiger Teilaspekt des RTP-Entscheidungsprozesses. Neben Kriterien wie nicht vorhandenem Hämatom, normaler Patellabeweglichkeit, möglichst fehlendem Patella-Krepitus sowie Schmerzfreiheit während körperlicher Aktivität [1] sind beispielsweise auch die subjektive Einschätzung des Athleten [4] sowie psychische Phänomene, wie die Angst vor bestimmten Bewegungen oder erneuten Verletzungen, zu beachten [9].

Für eine positive RTP-Entscheidung müssen literaturbasiert somit mehrere Kriterien erfüllt sein [16]:

  • 1. Anatomische und funktionelle Wiederherstellung
  • 2. Gewährleistung der Sicherheit des Athleten und anderer Personen im Rahmen des Trainings und Wettkampfs
  • 3. Sportartspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten müssen (wieder) vorhanden sein
  • 4. Die Person muss psychosozial bereit für den RTP sein.

Unter Beachtung der durch die genannten Faktoren bedingten Ausgangssituation, empfehlen wir die Anwendung des Decision-based RTP-Modells nach Creighton et al. [17] und Matheson et al. [6]. Dieses haben wir, angepasst für den RTP-Prozess nach einer spinalen Fusionsoperation, bereits an anderer Stelle veröffentlicht [18]. Nun modifiziert für den RTP nach operativer Versorgung einer VKB-Ruptur ist das Modell in Abbildung 3 dargestellt.

Wie der Grafik zu entnehmen ist, besteht der Prozess aus 3 ineinander übergehenden Stufen und damit zusammenhängenden, unterschiedlichen Evaluationsinhalten. Konkrete Inhalte und Details sind, den einzelnen Faktoren zugeordnet, rechts dargestellt, sowie durch Beispiele (kursive Schrift) ergänzt. Die medizinischen Faktoren in Stufe 1 beinhalten dabei Untersuchungen zum Gesundheitszustand des Athleten und damit zum Stand des postoperativen Heilungsprozesses. Stufe 2 beschreibt die Erhebung des mit der Sportart einhergehenden Risikos der Partizipation in Sport- und Wettkampfaktivität. Beispielsweise sind hier die Art möglicher Fremdeinwirkungen (Kontaktsportart etc.) relevant. Daraus hervorgehend muss möglicherweise auch das notwendige Ausmaß der Heilung zur RTP-Entscheidung neu bewertet werden. Als präfinaler Schritt wird die Entscheidung vor dem Hintergrund der Adaptationen in Stufe 3 neu bewertet. Auf Basis der oben genannten Informationen kann die definitive RTP Entscheidung getroffen werden.

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Tobias Engeroff

Goethe-Universität

Institut für Sportwissenschaften

Abteilung Sportmedizin

Ginnheimer Landstr. 39

60487 Frankfurt/Main

Engeroff@sport.uni-frankfurt.de

Literatur

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3. Petersen W, Taheri P, Forkel P, Zantop T. Return to play following ACL reconstruction: a systematic review about strength deficits. Arch Orthop Trauma Surg 2014; 134: 1417–1428

4. Barber-Westin SD, Noyes FR. Objective criteria for return to athletics after anterior cruciate ligament reconstruction and subsequent reinjury rates: a systematic review. Phys Sportsmed 2011; 39: 100–110

5. Henke T, Luig P, Schulz D. Sportunfälle im Vereinssport in Deutschland. Bundesgesundheitsbl. 2014; 57: 628–637

6. Matheson GO, Shultz R, Bido J, Mitten MJ, Meeuwisse WH, Shrier I. Return-to-play decisions: are they the team physician’s responsibility? Clin J Sport Med 2011; 21: 25–30

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9. Czuppon S, Racette BA, Klein SE, Harris-Hayes M. Variables associated with return to sport following anterior cruciate ligament reconstruction: a systematic review. Br J Sports Med 2014; 48: 356–364

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11. Feller J, Webster KE. Return to sport following anterior cruciate ligament reconstruction. Int Orthop 2013; 37: 285–290

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15. Myer GD, Ford KR, Khoury J, Succop P, Hewett TE. Development and Validation of a Clinic-Based Prediction Tool to Identify Female Athletes at High Risk for Anterior Cruciate Ligament Injury. The American Journal of Sports Medicine 2010; 38: 2025–2033

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17. Creighton DW, Shrier I, Shultz R, Meeuwisse WH, Matheson GO. Return-to-play in sport: a decision-based model. Clin J Sport Med 2010; 20: 379–385

18. Niederer D, Wilke J, Füzéki E, Banzer W. Sportliche Belastungen nach Spondylodesen der Lendenwirbelsäule. Der Return-to-play-Prozess. Orthopade 2014; 43: 1100–1105

Fussnoten

1 Abteilung Sportmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main

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