Originalarbeiten - OUP 01/2013

Begutachtung des Leistungsvermögens im Antragsverfahren auf Erwerbsminderungsrente
Studienergebnisse für den Indikationsbereich Orthopädie

Bahmer JA1, Meisel S2, Horschke A3

Zusammenfassung: Das Antragsverfahren auf Rente wegen Erwerbsminderung ist ein Prozess von hoher individueller, sozioökonomischer und sozialrechtlicher Tragweite. Dem Gutachter obliegt, vor dem Hintergrund der Sozialgesetzgebung, die Aufgabe, die medizinischen Voraussetzungen für Leistungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation sowie zur Erwerbsminderungsrente zu prüfen. Im Rahmen der PEgL-Studie wurden mögliche kontextuelle und intrapersonale Einflussfaktoren auf die gutachterliche Einschätzung der Leistungsfähigkeit untersucht. Die Annahme einer neutralen gutachterlichen Grundhaltung wird für die untersuchte Stichprobe orthopädischer Gutachterinnen und Gutachter durch die Ergebnisse gestützt. Es zeigen sich positive Ergebnisse bezüglich zentraler Aspekte der Urteilsübereinstimmung.

Schlüsselwörter: Online-Studie, Orthopädie, Begutachtungsforschung, quantitative Leistungsbeurteilung, Erwerbsminderungsrente

Abstract: Social-medical reasoning on disability pensions is a process of high individual, social, legal and economic impact. There is evidence for variance in social-medical reasoning about the reduction in quantitative working capacity. The study focuses on the reasoning process of medical experts in the context of disability pensions in cases with psychosomatic/psychiatric or orthopedic disorders. It aims at assessing the impact of medical, psychological, interactional and social factors on the estimation of working capacity. We present the results of the orthopedic subsample in this study.In six out of eight cases the percentage of agreement on working capacity ranged from 76,7 to 95,7 percent. For the medical experts the diagnostic findings seem to be the most important influencing factor for estimation of working capacity.

Keywords: social-medical reasoning; disability pension assessment; online-survey

Theoretischer Hintergrund

Die sozialmedizinische Begutachtung im Antragsverfahren auf Erwerbsminderungsrente ist von hoher sozialrechtlicher, (sozial-)medizinischer Komplexität sowie von großer ökonomischer Tragweite. Im Jahr 2010 wurden bei der Deutschen Rentenversicherung insgesamt 144.466 Rentenanträge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bewilligt [1a]. Das durchschnittliche Rentenzugangsalter aufgrund von Erwerbsminderung beträgt bei Männern 50,9 Jahre, bei Frauen 49,8 Jahre [1]. Im Verwaltungsverfahren werden ärztliche Begutachtungen, u.a. im Rehabilitations- und Rentenverfahren, durchgeführt. Das ärztliche Gutachten dient der folgerichtigen, schlüssigen und nachvollziehbaren Verknüpfung von Anamnese, Befunden, Diagnosen, Epikrise sowie sozialmedizinischer Leistungsbeurteilung. In der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung wird das Fähigkeitsprofil der Probandin/des Probanden abgebildet und in Beziehung zu den Anforderungen der zuletzt ausgeübten Tätigkeit und den üblichen Bedingungen des sogenannten allgemeinen Arbeitsmarktes gesetzt. In diesem Kontext bleibt darauf hinzuweisen, dass die abschließenden Bewertungen bezüglich der letzten Tätigkeit, des sogenannten allgemeinen Arbeitsmarktes, juristisch getroffen werden, unter Miteinbeziehung der notwendigen Berufskunde.

Die Analyse der medizinischen Informationen ist dabei ein komplexer Prozess aus Informationsakquise, Selektion, Interaktion zwischen Gutachter und Proband, Prüfung, Bewertung und Beurteilung [1b]. Nach Bochnik [2] kann der gutachterliche Entscheidungsprozess als 3-schrittiger Prozess einer Regelanalyse im Rahmen der Diagnostik über die Strukturanalyse individueller Aspekte der Krankheitsgeschichte bis zur Behinderungsanalyse verstanden werden. Gleichzeitig ist auch eine Übersetzung der individuellen Funktionseinschränkungen in die Kategorien des vom Sozialgesetzgeber vorgegebenen Systems der Leistungsfähigkeitsbeurteilung zu leisten. Hierbei ist nach Körner [3] eine Integration „harter“ medizinischer Befunddaten, die in der Regel quantifizierbar und reproduzierbar sind, und „weicher“ Daten zum allgemeinen Eindruck des Versicherten in der Begutachtungssituation sowie zu seiner subjektiven Schilderung von Beschwerden und Beeinträchtigungen in Beruf und Alltag, notwendig. Der Gutachter ist in seinem Urteil unabhängig, d.h., er ist hinsichtlich des Begutachtungsergebnisses nicht weisungsgebunden. Dennoch ergibt sich ein Spannungsfeld gutachterlicher Tätigkeit durch die notwendige Abwägung zwischen Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit sowie durch die Prognose für die weitere Entwicklung der Erkrankung und der aus ihr resultierenden Funktionseinschränkungen.

Aufgrund der hohen Komplexität und der sozialrechtlichen sowie gesellschaftsökonomischen Bedeutung der Begutachtung im Verfahren auf Erwerbsminderungsrente stellt sich häufig die Frage nach der Übereinstimmung gutachterlicher Einschätzungen. Wie Hesse und Gebauer zeigen [4], beschäftigen sich nur wenige Forschungsarbeiten mit dem Thema Begutachtung. Die wenigen Veröffentlichungen kommen dabei aus Deutschland, den Niederlanden sowie aus dem Skandinavischen Raum. Zumeist handelt es sich um Arbeiten, die sich dem Thema beschreibend und vor dem Hintergrund der Systemspezifika des im jeweiligen Land zugrundeliegenden Rentensystems annähern.

Empirische Arbeiten wurden von Kerstholt et al. [5] sowie von Dickmann und Broocks [6] vorgelegt. Beide Studien zeigten eine deutliche Variabilität in den gutachterlichen Urteilen in der Beurteilung jeweils eines Falles durch eine kleine Zahl von Gutachterinnen und Gutachtern. Meershoek et al. [7] weisen auf die Kontextfaktoren hin, die das Explorations- und Entscheidungsverhalten – zumindest in der persönlichen Begutachtung – beeinflussen. Der komplexe Bewertungs- und Entscheidungsprozess sei, so die Autoren, eher normativer denn technischer Natur. Linden [8] weist in seinem Editorial darauf hin, dass sowohl die Kenntnisse des Gutachters über die aktuelle sozial- und arbeitspolitische Situation als auch seine persönliche Wert- und Grundhaltung in gesellschaftspolitischen Fragestellungen unbewusst das Entscheidungsverhalten beeinflussen. Diese Annahmen sind jedoch erfahrungsbasierter und nicht empirischer Natur. Bisherige Studien im Gesamtkontext bilden aufgrund ihres Designs die Fragestellung nicht ab, die dieser Untersuchung zugrunde liegt.

Das „Projekt zur Erfassung und Beurteilung gutachterlicher Einflussfaktoren auf die gutachterliche Leistungsbeurteilung“ („PEgL“) zielt auf die Beschreibung von Faktoren im multivariaten Bedingungsraum, die die sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens beeinflussen [9a, b].

Material und Methoden

Die PEgL-Studie wurde als Online-Befragung konzipiert und ermöglichte die realitätsnahe Simulation des Begutachtungsprozesses anhand von Fallvignetten aus den Indikationsbereichen Orthopädie und Psychiatrie/Psychosomatik. In dieser Publikation sollen die Teilergebnisse des Indikationsbereiches Orthopädie dargestellt werden.

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