Originalarbeiten - OUP 01/2013

Begutachtung des Leistungsvermögens im Antragsverfahren auf Erwerbsminderungsrente
Studienergebnisse für den Indikationsbereich Orthopädie

Im Rahmen der Untersuchung wurden Variablen der persönlichen Grundhaltung von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern erhoben, um eine mögliche Abweichung von der im Rahmen sozialmedizinischer Begutachtung geforderten Neutralitätsannahme zu prüfen. Die Werte der orthopädischen Gutachterinnen und Gutachter zeigten sich für alle geprüften Skalen (Drakonität, Präferenz für Intuition und Deliberation, Ungewissheitstoleranz/ Ungewissheitsintoleranz, Protestantische Ethik, Optimismus/Pessimismus) annähernd normalverteilt.

Aufgrund der geringen Anzahl an Teilnehmerinnen wurde auf eine Subgruppenanalyse von Geschlechtseffekten verzichtet. Alterseffekte zeigten sich in der Stichprobe orthopädischer Gutachterinnen und Gutachter nicht. Insgesamt weisen die Untersuchungsergebnisse zu den gutachterlichen Grundhaltungen auf ein ausgeglichenes Persönlichkeitsportrait ohne starke Abweichungen von mittleren Variablenausprägungen hin, was insgesamt die Annahme einer gutachterlichen Neutralität orthopädischer Gutachterinnen und Gutachter für die untersuchte Stichprobe stützt.

Quantitative
Leistungsbeurteilung

Im ärztlichen Gutachten von besonderer Bedeutung sind Aussagen zum zeitlichen Leistungsvermögen, auch unter Berücksichtigung der ab dem 01.01.2001 gültigen Rechtslage.

Variabilität findet sich auch wiederholt im Rahmen der sozialmedizinischen Betreuung von Verwaltungs- und Klageverfahren über den Zeitraum mehrerer Jahre. In der Mehrzahl der Verwaltungsverfahren stellt sich die Frage nach einem zeitlichen Leistungsvermögen von unter 3 Stunden pro Tag, einem Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden pro Tag bzw. einem Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr pro Tag.

Für die tatsächliche Zuordnung von Erwerbsminderungsrentenleistungen von besonderer Bedeutung ist allerdings auch die Frage, ob ein Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr pro Tag oder unter 6 Stunden pro Tag vorliegt. Dieses bildet sich auch in den geleisteten Renten wegen Erwerbsminderung ab, schwerpunktmäßig werden Renten wegen voller Erwerbsminderung geleistet. Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung werden in einem relativ geringen Prozentsatz geleistet (wiederholt unter 10 % für die DRV Westfalen). Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Analyse der Daten der Untersuchung bezüglich der Frage eines zeitlichen Leistungsvermögens von 6 Stunden und mehr pro Tag oder unter 6 Stunden pro Tag.

Bezüglich der Einschätzung der quantitativen Leistungsfähigkeit ergab sich für die Teilstichprobe im Indikationsbereich Orthopädie folgendes Bild: In 6 von 8 Fällen betrug die Übereinstimmung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Frage, ob ein Restleistungsvermögen von 6 Stunden und mehr oder von unter 6 Stunden vorliegt, zwischen 76,7 % und 95,7 % (Abb. 2).

Da stets von einer gewissen Urteilsvarianz ausgegangen werden muss, ist die gutachterliche Übereinstimmung in der vorliegenden Stichprobe und bezogen auf die Fragestellung als zufriedenstellend zu beurteilen. Eine Überprüfung der Übereinstimmung der gutachterlichen Einschätzung bezüglich eines Leistungsvermögens von unter 3 Stunden, 3–6 Stunden sowie 6 Stunden und mehr ergab erwartungsgemäß eine etwas höhere Varianz. Ein Vergleich mit bereits veröffentlichten Studienergebnissen aus dem Bereich der Begutachtungsforschung bietet sich im Hinblick auf die gutachterliche Varianz nicht an, da sich sowohl die Studiendesigns als auch die Zielvariablen (z.B. Übereinstimmung in der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit für eine Rückkehr zum Arbeitsplatz, Verifizierbarkeit von Diagnose und Arbeitsfähigkeit) unterscheiden.

Eine Analyse nach Anzahl der Gutachten pro Jahr sowie Alter der Gutachterinnen und Gutachter erbrachte keine signifikant veränderte Urteilsvarianz in der Einschätzung des quantitativen Leistungsvermögens. Auf eine Analyse von Geschlechtseffekten sowie auf logistische Regressionsanalysen wurde aus mathematisch-statistischen Überlegungen heraus verzichtet.

Diskussion und
Schlussfolgerung

Im Rahmen der Online-Studie zur Erfassung von Einflussfaktoren auf die gutachterliche Leistungsbeurteilung im Antragsverfahren auf Erwerbsminderungsrente wurden die gutachterliche Expertise, psychologische Merkmale gutachterlicher Grundhaltungen, die Einschätzung urteilsrelevanter Versichertenmerkmale sowie die Varianz bezüglich der sozialmedizinischen Einschätzung bezüglich des quantitativen (zeitlichen) Leistungsvermögens geprüft. Ziel der Studie war es, mögliche Einflussfaktoren auf den Prozess der Leistungsbeurteilung in den Indikationsbereichen Orthopädie und Psychiatrie/Psychosomatik zu identifizieren, wobei die vorliegende Arbeit auf die quantitativen Analyseergebnisse im Indikationsbereich Orthopädie fokussiert.

Es zeigte sich in der untersuchten Stichprobe eine erfreulich geringe Urteilsvarianz in der Einschätzung der Frage, ob ein zeitliches Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr pro Tag oder unter 6 Stunden pro Tag vorliegt. Da die unterschiedlichen Falldesigns so ausgewählt wurden, dass sehr unterschiedliche Fallkonstellationen zu bewerten waren, war von vorne herein nicht zu erwarten, dass bei derartigen Konstellationen eine hohe Übereinstimmung zu erzielen wäre. Hinweise auf Persönlichkeitsakzentuierungen zeigten sich für die teilnehmenden Gutachterinnen und Gutachter nicht. Die gutachterliche Neutralitätsannahme kann daher für die untersuchte Stichprobe als durch die Studienergebnisse gestützt gelten. Der Untersuchungsbefund stellt für die überwiegende Mehrheit der Gutachterinnen und Gutachter im Fachgebiet Orthopädie die maßgebliche Urteilsvariable bei der sozialmedizinischen Einschätzung dar.

Es würde nicht überraschen, wenn die Mehrheit der orthopädisch tätigen Kolleginnen und Kollegen diese Gewichtung (im Rahmen unserer Studie) der eigenen Untersuchungsbefunderhebung als maßgebliche Variable für weitere eigene Bewertungen gut nachvollziehen könnte.

Es lässt sich eine überwiegende Zufriedenheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Schwierigkeitsgrad und Informationsgehalt der Fallvignetten dokumentieren.

Für weiterführende Studien auf dem Gebiet der Begutachtungsforschung wäre interessant, den Prozess der Beurteilung durch den Gutachter/die Gutachterin selbst formulieren zu lassen bzw. das „Wie“ der Informationsselektion, Analyse und Integration direkt zu erfragen.

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