Originalarbeiten - OUP 01/2013

Begutachtung des Leistungsvermögens im Antragsverfahren auf Erwerbsminderungsrente
Studienergebnisse für den Indikationsbereich Orthopädie

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden per Informationsflyer und Anschreiben aus dem Pool der externen und internen Gutachter der Deutschen Rentenversicherung Bund sowie der Landesträger rekrutiert. Die Teilnahme war freiwillig und wurde mit einer Aufwandsentschädigung bei vollständiger Bearbeitung von 2 Fällen vergütet. Aus Gründen des Datenschutzes wurde im Rahmen der PEgL-Studie erstmals ein Verfahren der doppelten Anonymisierung für die Online-Befragung im Rahmen rehabilitationswissenschaftlicher Forschung durchgeführt. Die Anmeldung zur Teilnahme sowie die Vergabe von Login und Passwort zur Durchführung der Studie auf der www.pegl-online.de Homepage erfolgte durch einen Datentreuhänder an der Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG3: Epidemiologie und International Public Health. Nach Abschluss der Untersuchung durch den Studienteilnehmer wurde die Zahlung der Aufwandsentschädigung auch durch den Datentreuhänder veranlasst. Dieses Vorgehen sicherte eine vollständig anonyme Teilnahme der Gutachterinnen und Gutachter an der Studie. Jeder Studienteilnehmer beurteilte 2 Fallvignetten aus 8 Fällen pro Indikationsbereich.

Jede Fallvignette enthielt alle sozialmedizinisch relevanten Informationen aus anonymisierten Originalfällen (Vorbefunde aus ambulanten, stationären und rehabilitativen Behandlungen, Untersuchungsbefunde aus der Begutachtungsuntersuchung, Sozialanamnese, Berufsanamnese, Familienanamnese, persönliche Anamnese mit Angaben zu Lebenssituation, Freizeitverhalten, Suchtmittelkonsum, Medikation und aktueller Behandlungen) sowie ein Video mit Ausschnitten aus der Begutachtungssituation, die mit gesunden Schauspielerpatienten nachgestellt wurden. Für die Fallvideos wurden die Anamnese, die Entkleidung in der offenen Kabine sowie Teile des orthopädischen Untersuchungsganges aus der Realbegutachtungssituation ausschnittsweise und diagnosezentriert nachgestellt. Die körperlich gesunden Schauspielerpatienten wurden durch einen für die Deutsche Rentenversicherung Westfalen tätigen Facharzt für Orthopädie auf die jeweilig darzustellenden Erkrankungen und Funktionseinschränkungen, soweit als möglich, trainiert.

Die teilnehmenden Gutachterinnen und Gutachter wurden darauf hingewiesen, dass die Videodarstellungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben würden und etwaige anatomische und phänotypische Veränderungen (z.B. Verschmächtigungszeichen) mit gesunden Schauspielern nicht darstellbar wären. Die beiden jeweils zu bearbeitenden Fälle wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern per Randomisierungsroutine automatisiert zugeteilt, so dass Permutations- und Reihenfolgeeffekte weitestgehend ausgeschlossen werden konnten. Durch die Freiwilligkeit der Teilnahme sind positive Selektionseffekte durch besonders motivierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer möglich.

Die Studienteilnehmer beantworteten sowohl fallbezogene Fragebögen (Sozialmedizinische Beurteilung der Diagnosen, des Ausschöpfungsgrades an medizinischen sowie rehabilitativen Leistungen, dem quantitativen und qualitativen Leistungsbild etc.) als auch Fragebögen zur eigenen Profession (Qualifikation, relevante Zusatzbezeichnungen, aktuelle Tätigkeit, Anzahl der Gutachten mit sozialrechtlicher Fragestellung pro Jahr, Fortbildungsverhalten und Fortbildungsinteressen) sowie zur Einschätzung der Relevanz verschiedener Faktoren (z.B. Erfolg bisheriger medizinischer und beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen, Arbeitsunfähigkeitszeiten, Aspekte von Krankheitsverständnis und Krankheitsbewältigung des Versicherten) für die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung. Um einen möglichen Einfluss der gutachterlichen Haltung auf das Beurteilungsverhalten abbilden zu können, wurden im Bereich der persönlichen Grundhaltungen die Drakonität im Sinne der Urteilsstrenge [10], die Präferenz für Intuition und Deliberation [11], die Ungewissheitstoleranz [12], die Protestantische Ethik [13] sowie Optimismus/Pessimismus [14] geprüft. Die Skalen wurden auf Basis einer Literaturrecherche zu den Wirkfaktoren menschlichen Entscheidungsverhaltens sowie nach der Bestätigung der psychometrischen Güte der Instrumente durch eine Pre-Testung mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutsche Rentenversicherung Westfalen ausgewählt.

Die Programmierung der Online-Befragung wurde durch einen extern beauftragten Informatiker durchgeführt, dem auch die technische Betreuung während der Befragung sowie die Sammlung der vollständig anonymisierten Ergebnisdaten oblag. Die Befragung wurde im Zeitraum zwischen Januar und April 2011 durchgeführt. Nach Abschluss der Befragung wurden die vollständig anonymisierten Daten dem Institut für Rehabilitationsforschung e.V. zur Analyse übergeben und der Zugang zur Studienhomepage gesperrt. Gutachterinnen und Gutachter, die die Befragung nicht komplett abgeschlossen hatten, wurden von der Analyse der Ergebnisse ausgeschlossen.

Die statistische Analyse erfolgte mittels IBM SPSS Statistics 19/20. Die Methodenberatung erfolgte durch die AG3: Epidemiologie und International Public Health der Universität Bielefeld. Im Folgenden sollen die quantitativen Ergebnisse im Indikationsbereich Orthopädie dargestellt werden.

Deskription der Stichprobe

Im Indikationsbereich Orthopädie haben 12 Gutachterinnen und 82 Gutachter (N = 94) an der PEgL-Studie teilgenommen. Das mittlere Alter der Teilnehmer betrug 53,37 Jahre (Range 35 bis 72 Jahre). Als Behandler waren zum Zeitpunkt der Untersuchung 74,5 % der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte tätig. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gaben an, zwischen 50 und mehr als 1000 Gutachten pro Jahr mit sozialmedizinischer Fragestellung zu bearbeiten, wobei der Mittelwert bei 325 Gutachten pro Jahr lag.

Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern handelte es sich, gemäß Selbstauskunft in der Anmeldung, ausschließlich um Ärztinnen und Ärzte mit Tätigkeiten in den Bereichen Orthopädie sowie Orthopädie und Unfallchirurgie, die regelmäßig Gutachten mit sozialmedizinischer Fragestellung im Indikationsbereich Orthopädie für die Deutsche Rentenversicherung anfertigen.

Ergebnisse

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigten ein hohes Interesse an Fort- und Weiterbildungsangeboten zu verschiedenen sozialmedizinischen Themen (Sozialmedizinische Urteilsbildung, rechtliche Aspekte der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung, Erstellung wissenschaftlich begründeter Gutachten, Aspekte des Allgemeinen Arbeitsmarktes).

Trotz einer gewissen Streuung in der Bewertung der Fallvignetten (Abbildung 1), wurden die Fallinformationen mehrheitlich als hinreichend vollständig bewertet. Richtungsweisende Aspekte bezüglich des systematischen Fehlens bestimmter Informationen ergaben sich aus der Analyse der Freitextantworten nicht. Die Einordnung des Schwierigkeitsgrades der Fälle bewegte sich zwischen leicht und mittelschwer.

Sozialmedizinisch relevante Beurteilungsvariablen

Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie wurden über die Bedeutsamkeit verschiedener, entscheidungsrelevanter Informationen (Untersuchungsbefund, Beschwerdeschilderung, Arbeitsunfähigkeitszeiten, Alter des Versicherten, Beruf des Versicherten, GDB, Vorbefunde, wissenschaftliche Studien zur vorliegenden Erkrankung) für ihre sozialmedizinische Beurteilung befragt. Für den Indikationsbereich Orthopädie zeigte sich bei den 94 Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine variable Einschätzung verschiedener Parameter (Abbildung 3). Variabilität findet sich auch wiederholt im Rahmen der sozialmedizinischen Betreuung von Verwaltungs-/Klageverfahren über den Zeitraum mehrerer Jahre. Der Untersuchungsbefund wurde von der Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer als „sehr wichtig“ für die sozialmedizinische Beurteilung angegeben.

Persönliche Haltung
der Gutachter

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