Originalarbeiten - OUP 01/2013

Begutachtung des Leistungsvermögens im Antragsverfahren auf Erwerbsminderungsrente
Studienergebnisse für den Indikationsbereich Orthopädie

Bahmer JA1, Meisel S2, Horschke A3

Zusammenfassung: Das Antragsverfahren auf Rente wegen Erwerbsminderung ist ein Prozess von hoher individueller, sozioökonomischer und sozialrechtlicher Tragweite. Dem Gutachter obliegt, vor dem Hintergrund der Sozialgesetzgebung, die Aufgabe, die medizinischen Voraussetzungen für Leistungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation sowie zur Erwerbsminderungsrente zu prüfen. Im Rahmen der PEgL-Studie wurden mögliche kontextuelle und intrapersonale Einflussfaktoren auf die gutachterliche Einschätzung der Leistungsfähigkeit untersucht. Die Annahme einer neutralen gutachterlichen Grundhaltung wird für die untersuchte Stichprobe orthopädischer Gutachterinnen und Gutachter durch die Ergebnisse gestützt. Es zeigen sich positive Ergebnisse bezüglich zentraler Aspekte der Urteilsübereinstimmung.

Schlüsselwörter: Online-Studie, Orthopädie, Begutachtungsforschung, quantitative Leistungsbeurteilung, Erwerbsminderungsrente

Abstract: Social-medical reasoning on disability pensions is a process of high individual, social, legal and economic impact. There is evidence for variance in social-medical reasoning about the reduction in quantitative working capacity. The study focuses on the reasoning process of medical experts in the context of disability pensions in cases with psychosomatic/psychiatric or orthopedic disorders. It aims at assessing the impact of medical, psychological, interactional and social factors on the estimation of working capacity. We present the results of the orthopedic subsample in this study.In six out of eight cases the percentage of agreement on working capacity ranged from 76,7 to 95,7 percent. For the medical experts the diagnostic findings seem to be the most important influencing factor for estimation of working capacity.

Keywords: social-medical reasoning; disability pension assessment; online-survey

Theoretischer Hintergrund

Die sozialmedizinische Begutachtung im Antragsverfahren auf Erwerbsminderungsrente ist von hoher sozialrechtlicher, (sozial-)medizinischer Komplexität sowie von großer ökonomischer Tragweite. Im Jahr 2010 wurden bei der Deutschen Rentenversicherung insgesamt 144.466 Rentenanträge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bewilligt [1a]. Das durchschnittliche Rentenzugangsalter aufgrund von Erwerbsminderung beträgt bei Männern 50,9 Jahre, bei Frauen 49,8 Jahre [1]. Im Verwaltungsverfahren werden ärztliche Begutachtungen, u.a. im Rehabilitations- und Rentenverfahren, durchgeführt. Das ärztliche Gutachten dient der folgerichtigen, schlüssigen und nachvollziehbaren Verknüpfung von Anamnese, Befunden, Diagnosen, Epikrise sowie sozialmedizinischer Leistungsbeurteilung. In der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung wird das Fähigkeitsprofil der Probandin/des Probanden abgebildet und in Beziehung zu den Anforderungen der zuletzt ausgeübten Tätigkeit und den üblichen Bedingungen des sogenannten allgemeinen Arbeitsmarktes gesetzt. In diesem Kontext bleibt darauf hinzuweisen, dass die abschließenden Bewertungen bezüglich der letzten Tätigkeit, des sogenannten allgemeinen Arbeitsmarktes, juristisch getroffen werden, unter Miteinbeziehung der notwendigen Berufskunde.

Die Analyse der medizinischen Informationen ist dabei ein komplexer Prozess aus Informationsakquise, Selektion, Interaktion zwischen Gutachter und Proband, Prüfung, Bewertung und Beurteilung [1b]. Nach Bochnik [2] kann der gutachterliche Entscheidungsprozess als 3-schrittiger Prozess einer Regelanalyse im Rahmen der Diagnostik über die Strukturanalyse individueller Aspekte der Krankheitsgeschichte bis zur Behinderungsanalyse verstanden werden. Gleichzeitig ist auch eine Übersetzung der individuellen Funktionseinschränkungen in die Kategorien des vom Sozialgesetzgeber vorgegebenen Systems der Leistungsfähigkeitsbeurteilung zu leisten. Hierbei ist nach Körner [3] eine Integration „harter“ medizinischer Befunddaten, die in der Regel quantifizierbar und reproduzierbar sind, und „weicher“ Daten zum allgemeinen Eindruck des Versicherten in der Begutachtungssituation sowie zu seiner subjektiven Schilderung von Beschwerden und Beeinträchtigungen in Beruf und Alltag, notwendig. Der Gutachter ist in seinem Urteil unabhängig, d.h., er ist hinsichtlich des Begutachtungsergebnisses nicht weisungsgebunden. Dennoch ergibt sich ein Spannungsfeld gutachterlicher Tätigkeit durch die notwendige Abwägung zwischen Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit sowie durch die Prognose für die weitere Entwicklung der Erkrankung und der aus ihr resultierenden Funktionseinschränkungen.

Aufgrund der hohen Komplexität und der sozialrechtlichen sowie gesellschaftsökonomischen Bedeutung der Begutachtung im Verfahren auf Erwerbsminderungsrente stellt sich häufig die Frage nach der Übereinstimmung gutachterlicher Einschätzungen. Wie Hesse und Gebauer zeigen [4], beschäftigen sich nur wenige Forschungsarbeiten mit dem Thema Begutachtung. Die wenigen Veröffentlichungen kommen dabei aus Deutschland, den Niederlanden sowie aus dem Skandinavischen Raum. Zumeist handelt es sich um Arbeiten, die sich dem Thema beschreibend und vor dem Hintergrund der Systemspezifika des im jeweiligen Land zugrundeliegenden Rentensystems annähern.

Empirische Arbeiten wurden von Kerstholt et al. [5] sowie von Dickmann und Broocks [6] vorgelegt. Beide Studien zeigten eine deutliche Variabilität in den gutachterlichen Urteilen in der Beurteilung jeweils eines Falles durch eine kleine Zahl von Gutachterinnen und Gutachtern. Meershoek et al. [7] weisen auf die Kontextfaktoren hin, die das Explorations- und Entscheidungsverhalten – zumindest in der persönlichen Begutachtung – beeinflussen. Der komplexe Bewertungs- und Entscheidungsprozess sei, so die Autoren, eher normativer denn technischer Natur. Linden [8] weist in seinem Editorial darauf hin, dass sowohl die Kenntnisse des Gutachters über die aktuelle sozial- und arbeitspolitische Situation als auch seine persönliche Wert- und Grundhaltung in gesellschaftspolitischen Fragestellungen unbewusst das Entscheidungsverhalten beeinflussen. Diese Annahmen sind jedoch erfahrungsbasierter und nicht empirischer Natur. Bisherige Studien im Gesamtkontext bilden aufgrund ihres Designs die Fragestellung nicht ab, die dieser Untersuchung zugrunde liegt.

Das „Projekt zur Erfassung und Beurteilung gutachterlicher Einflussfaktoren auf die gutachterliche Leistungsbeurteilung“ („PEgL“) zielt auf die Beschreibung von Faktoren im multivariaten Bedingungsraum, die die sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens beeinflussen [9a, b].

Material und Methoden

Die PEgL-Studie wurde als Online-Befragung konzipiert und ermöglichte die realitätsnahe Simulation des Begutachtungsprozesses anhand von Fallvignetten aus den Indikationsbereichen Orthopädie und Psychiatrie/Psychosomatik. In dieser Publikation sollen die Teilergebnisse des Indikationsbereiches Orthopädie dargestellt werden.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden per Informationsflyer und Anschreiben aus dem Pool der externen und internen Gutachter der Deutschen Rentenversicherung Bund sowie der Landesträger rekrutiert. Die Teilnahme war freiwillig und wurde mit einer Aufwandsentschädigung bei vollständiger Bearbeitung von 2 Fällen vergütet. Aus Gründen des Datenschutzes wurde im Rahmen der PEgL-Studie erstmals ein Verfahren der doppelten Anonymisierung für die Online-Befragung im Rahmen rehabilitationswissenschaftlicher Forschung durchgeführt. Die Anmeldung zur Teilnahme sowie die Vergabe von Login und Passwort zur Durchführung der Studie auf der www.pegl-online.de Homepage erfolgte durch einen Datentreuhänder an der Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG3: Epidemiologie und International Public Health. Nach Abschluss der Untersuchung durch den Studienteilnehmer wurde die Zahlung der Aufwandsentschädigung auch durch den Datentreuhänder veranlasst. Dieses Vorgehen sicherte eine vollständig anonyme Teilnahme der Gutachterinnen und Gutachter an der Studie. Jeder Studienteilnehmer beurteilte 2 Fallvignetten aus 8 Fällen pro Indikationsbereich.

Jede Fallvignette enthielt alle sozialmedizinisch relevanten Informationen aus anonymisierten Originalfällen (Vorbefunde aus ambulanten, stationären und rehabilitativen Behandlungen, Untersuchungsbefunde aus der Begutachtungsuntersuchung, Sozialanamnese, Berufsanamnese, Familienanamnese, persönliche Anamnese mit Angaben zu Lebenssituation, Freizeitverhalten, Suchtmittelkonsum, Medikation und aktueller Behandlungen) sowie ein Video mit Ausschnitten aus der Begutachtungssituation, die mit gesunden Schauspielerpatienten nachgestellt wurden. Für die Fallvideos wurden die Anamnese, die Entkleidung in der offenen Kabine sowie Teile des orthopädischen Untersuchungsganges aus der Realbegutachtungssituation ausschnittsweise und diagnosezentriert nachgestellt. Die körperlich gesunden Schauspielerpatienten wurden durch einen für die Deutsche Rentenversicherung Westfalen tätigen Facharzt für Orthopädie auf die jeweilig darzustellenden Erkrankungen und Funktionseinschränkungen, soweit als möglich, trainiert.

Die teilnehmenden Gutachterinnen und Gutachter wurden darauf hingewiesen, dass die Videodarstellungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben würden und etwaige anatomische und phänotypische Veränderungen (z.B. Verschmächtigungszeichen) mit gesunden Schauspielern nicht darstellbar wären. Die beiden jeweils zu bearbeitenden Fälle wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern per Randomisierungsroutine automatisiert zugeteilt, so dass Permutations- und Reihenfolgeeffekte weitestgehend ausgeschlossen werden konnten. Durch die Freiwilligkeit der Teilnahme sind positive Selektionseffekte durch besonders motivierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer möglich.

Die Studienteilnehmer beantworteten sowohl fallbezogene Fragebögen (Sozialmedizinische Beurteilung der Diagnosen, des Ausschöpfungsgrades an medizinischen sowie rehabilitativen Leistungen, dem quantitativen und qualitativen Leistungsbild etc.) als auch Fragebögen zur eigenen Profession (Qualifikation, relevante Zusatzbezeichnungen, aktuelle Tätigkeit, Anzahl der Gutachten mit sozialrechtlicher Fragestellung pro Jahr, Fortbildungsverhalten und Fortbildungsinteressen) sowie zur Einschätzung der Relevanz verschiedener Faktoren (z.B. Erfolg bisheriger medizinischer und beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen, Arbeitsunfähigkeitszeiten, Aspekte von Krankheitsverständnis und Krankheitsbewältigung des Versicherten) für die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung. Um einen möglichen Einfluss der gutachterlichen Haltung auf das Beurteilungsverhalten abbilden zu können, wurden im Bereich der persönlichen Grundhaltungen die Drakonität im Sinne der Urteilsstrenge [10], die Präferenz für Intuition und Deliberation [11], die Ungewissheitstoleranz [12], die Protestantische Ethik [13] sowie Optimismus/Pessimismus [14] geprüft. Die Skalen wurden auf Basis einer Literaturrecherche zu den Wirkfaktoren menschlichen Entscheidungsverhaltens sowie nach der Bestätigung der psychometrischen Güte der Instrumente durch eine Pre-Testung mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutsche Rentenversicherung Westfalen ausgewählt.

Die Programmierung der Online-Befragung wurde durch einen extern beauftragten Informatiker durchgeführt, dem auch die technische Betreuung während der Befragung sowie die Sammlung der vollständig anonymisierten Ergebnisdaten oblag. Die Befragung wurde im Zeitraum zwischen Januar und April 2011 durchgeführt. Nach Abschluss der Befragung wurden die vollständig anonymisierten Daten dem Institut für Rehabilitationsforschung e.V. zur Analyse übergeben und der Zugang zur Studienhomepage gesperrt. Gutachterinnen und Gutachter, die die Befragung nicht komplett abgeschlossen hatten, wurden von der Analyse der Ergebnisse ausgeschlossen.

Die statistische Analyse erfolgte mittels IBM SPSS Statistics 19/20. Die Methodenberatung erfolgte durch die AG3: Epidemiologie und International Public Health der Universität Bielefeld. Im Folgenden sollen die quantitativen Ergebnisse im Indikationsbereich Orthopädie dargestellt werden.

Deskription der Stichprobe

Im Indikationsbereich Orthopädie haben 12 Gutachterinnen und 82 Gutachter (N = 94) an der PEgL-Studie teilgenommen. Das mittlere Alter der Teilnehmer betrug 53,37 Jahre (Range 35 bis 72 Jahre). Als Behandler waren zum Zeitpunkt der Untersuchung 74,5 % der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte tätig. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gaben an, zwischen 50 und mehr als 1000 Gutachten pro Jahr mit sozialmedizinischer Fragestellung zu bearbeiten, wobei der Mittelwert bei 325 Gutachten pro Jahr lag.

Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern handelte es sich, gemäß Selbstauskunft in der Anmeldung, ausschließlich um Ärztinnen und Ärzte mit Tätigkeiten in den Bereichen Orthopädie sowie Orthopädie und Unfallchirurgie, die regelmäßig Gutachten mit sozialmedizinischer Fragestellung im Indikationsbereich Orthopädie für die Deutsche Rentenversicherung anfertigen.

Ergebnisse

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigten ein hohes Interesse an Fort- und Weiterbildungsangeboten zu verschiedenen sozialmedizinischen Themen (Sozialmedizinische Urteilsbildung, rechtliche Aspekte der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung, Erstellung wissenschaftlich begründeter Gutachten, Aspekte des Allgemeinen Arbeitsmarktes).

Trotz einer gewissen Streuung in der Bewertung der Fallvignetten (Abbildung 1), wurden die Fallinformationen mehrheitlich als hinreichend vollständig bewertet. Richtungsweisende Aspekte bezüglich des systematischen Fehlens bestimmter Informationen ergaben sich aus der Analyse der Freitextantworten nicht. Die Einordnung des Schwierigkeitsgrades der Fälle bewegte sich zwischen leicht und mittelschwer.

Sozialmedizinisch relevante Beurteilungsvariablen

Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie wurden über die Bedeutsamkeit verschiedener, entscheidungsrelevanter Informationen (Untersuchungsbefund, Beschwerdeschilderung, Arbeitsunfähigkeitszeiten, Alter des Versicherten, Beruf des Versicherten, GDB, Vorbefunde, wissenschaftliche Studien zur vorliegenden Erkrankung) für ihre sozialmedizinische Beurteilung befragt. Für den Indikationsbereich Orthopädie zeigte sich bei den 94 Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine variable Einschätzung verschiedener Parameter (Abbildung 3). Variabilität findet sich auch wiederholt im Rahmen der sozialmedizinischen Betreuung von Verwaltungs-/Klageverfahren über den Zeitraum mehrerer Jahre. Der Untersuchungsbefund wurde von der Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer als „sehr wichtig“ für die sozialmedizinische Beurteilung angegeben.

Persönliche Haltung
der Gutachter

Im Rahmen der Untersuchung wurden Variablen der persönlichen Grundhaltung von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern erhoben, um eine mögliche Abweichung von der im Rahmen sozialmedizinischer Begutachtung geforderten Neutralitätsannahme zu prüfen. Die Werte der orthopädischen Gutachterinnen und Gutachter zeigten sich für alle geprüften Skalen (Drakonität, Präferenz für Intuition und Deliberation, Ungewissheitstoleranz/ Ungewissheitsintoleranz, Protestantische Ethik, Optimismus/Pessimismus) annähernd normalverteilt.

Aufgrund der geringen Anzahl an Teilnehmerinnen wurde auf eine Subgruppenanalyse von Geschlechtseffekten verzichtet. Alterseffekte zeigten sich in der Stichprobe orthopädischer Gutachterinnen und Gutachter nicht. Insgesamt weisen die Untersuchungsergebnisse zu den gutachterlichen Grundhaltungen auf ein ausgeglichenes Persönlichkeitsportrait ohne starke Abweichungen von mittleren Variablenausprägungen hin, was insgesamt die Annahme einer gutachterlichen Neutralität orthopädischer Gutachterinnen und Gutachter für die untersuchte Stichprobe stützt.

Quantitative
Leistungsbeurteilung

Im ärztlichen Gutachten von besonderer Bedeutung sind Aussagen zum zeitlichen Leistungsvermögen, auch unter Berücksichtigung der ab dem 01.01.2001 gültigen Rechtslage.

Variabilität findet sich auch wiederholt im Rahmen der sozialmedizinischen Betreuung von Verwaltungs- und Klageverfahren über den Zeitraum mehrerer Jahre. In der Mehrzahl der Verwaltungsverfahren stellt sich die Frage nach einem zeitlichen Leistungsvermögen von unter 3 Stunden pro Tag, einem Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden pro Tag bzw. einem Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr pro Tag.

Für die tatsächliche Zuordnung von Erwerbsminderungsrentenleistungen von besonderer Bedeutung ist allerdings auch die Frage, ob ein Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr pro Tag oder unter 6 Stunden pro Tag vorliegt. Dieses bildet sich auch in den geleisteten Renten wegen Erwerbsminderung ab, schwerpunktmäßig werden Renten wegen voller Erwerbsminderung geleistet. Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung werden in einem relativ geringen Prozentsatz geleistet (wiederholt unter 10 % für die DRV Westfalen). Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Analyse der Daten der Untersuchung bezüglich der Frage eines zeitlichen Leistungsvermögens von 6 Stunden und mehr pro Tag oder unter 6 Stunden pro Tag.

Bezüglich der Einschätzung der quantitativen Leistungsfähigkeit ergab sich für die Teilstichprobe im Indikationsbereich Orthopädie folgendes Bild: In 6 von 8 Fällen betrug die Übereinstimmung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Frage, ob ein Restleistungsvermögen von 6 Stunden und mehr oder von unter 6 Stunden vorliegt, zwischen 76,7 % und 95,7 % (Abb. 2).

Da stets von einer gewissen Urteilsvarianz ausgegangen werden muss, ist die gutachterliche Übereinstimmung in der vorliegenden Stichprobe und bezogen auf die Fragestellung als zufriedenstellend zu beurteilen. Eine Überprüfung der Übereinstimmung der gutachterlichen Einschätzung bezüglich eines Leistungsvermögens von unter 3 Stunden, 3–6 Stunden sowie 6 Stunden und mehr ergab erwartungsgemäß eine etwas höhere Varianz. Ein Vergleich mit bereits veröffentlichten Studienergebnissen aus dem Bereich der Begutachtungsforschung bietet sich im Hinblick auf die gutachterliche Varianz nicht an, da sich sowohl die Studiendesigns als auch die Zielvariablen (z.B. Übereinstimmung in der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit für eine Rückkehr zum Arbeitsplatz, Verifizierbarkeit von Diagnose und Arbeitsfähigkeit) unterscheiden.

Eine Analyse nach Anzahl der Gutachten pro Jahr sowie Alter der Gutachterinnen und Gutachter erbrachte keine signifikant veränderte Urteilsvarianz in der Einschätzung des quantitativen Leistungsvermögens. Auf eine Analyse von Geschlechtseffekten sowie auf logistische Regressionsanalysen wurde aus mathematisch-statistischen Überlegungen heraus verzichtet.

Diskussion und
Schlussfolgerung

Im Rahmen der Online-Studie zur Erfassung von Einflussfaktoren auf die gutachterliche Leistungsbeurteilung im Antragsverfahren auf Erwerbsminderungsrente wurden die gutachterliche Expertise, psychologische Merkmale gutachterlicher Grundhaltungen, die Einschätzung urteilsrelevanter Versichertenmerkmale sowie die Varianz bezüglich der sozialmedizinischen Einschätzung bezüglich des quantitativen (zeitlichen) Leistungsvermögens geprüft. Ziel der Studie war es, mögliche Einflussfaktoren auf den Prozess der Leistungsbeurteilung in den Indikationsbereichen Orthopädie und Psychiatrie/Psychosomatik zu identifizieren, wobei die vorliegende Arbeit auf die quantitativen Analyseergebnisse im Indikationsbereich Orthopädie fokussiert.

Es zeigte sich in der untersuchten Stichprobe eine erfreulich geringe Urteilsvarianz in der Einschätzung der Frage, ob ein zeitliches Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr pro Tag oder unter 6 Stunden pro Tag vorliegt. Da die unterschiedlichen Falldesigns so ausgewählt wurden, dass sehr unterschiedliche Fallkonstellationen zu bewerten waren, war von vorne herein nicht zu erwarten, dass bei derartigen Konstellationen eine hohe Übereinstimmung zu erzielen wäre. Hinweise auf Persönlichkeitsakzentuierungen zeigten sich für die teilnehmenden Gutachterinnen und Gutachter nicht. Die gutachterliche Neutralitätsannahme kann daher für die untersuchte Stichprobe als durch die Studienergebnisse gestützt gelten. Der Untersuchungsbefund stellt für die überwiegende Mehrheit der Gutachterinnen und Gutachter im Fachgebiet Orthopädie die maßgebliche Urteilsvariable bei der sozialmedizinischen Einschätzung dar.

Es würde nicht überraschen, wenn die Mehrheit der orthopädisch tätigen Kolleginnen und Kollegen diese Gewichtung (im Rahmen unserer Studie) der eigenen Untersuchungsbefunderhebung als maßgebliche Variable für weitere eigene Bewertungen gut nachvollziehen könnte.

Es lässt sich eine überwiegende Zufriedenheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Schwierigkeitsgrad und Informationsgehalt der Fallvignetten dokumentieren.

Für weiterführende Studien auf dem Gebiet der Begutachtungsforschung wäre interessant, den Prozess der Beurteilung durch den Gutachter/die Gutachterin selbst formulieren zu lassen bzw. das „Wie“ der Informationsselektion, Analyse und Integration direkt zu erfragen.

Korrespondenzadresse

Dr. phil. Dipl.-Psych. Judith A. Bahmer

Institut für Rehabilitationsforschung Norderney e.V.

Abteilung Münster

Gartenstraße 194

48147 Münster

judith.bahmer@ifr-muenster.de

Literatur

1a Rentenversicherung in Zeitreihen. DRV Schriften Band 22. Oktober 2011.

1b Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung. Hinweise zur Begutachtung. DRV Schriften Band 21. Juni 2000.

2 Bochnik HJ: Der einzelne Mensch und die Regel – ein Grundproblem der Medizin. MedSach 1987; 38: 5–11.

3 Körner M: Messen und Ermessen jenseits von Vermessenheit – Zur Anatomie des menschlichen Begutachtungsprozesses am Beispiel der Beurteilung des Leistungsvermögens in der gesetzlichen Rentenversicherung. MedSach 1999; 95: 77–81.

4 Hesse B & Gebauer E: Sozialmedizinische Begutachtung im Rentenverfahren: Stellenwert, Forschungsbedarf und Chancen. Rehabilitation 2011; 50: 17–24.

5 Kerstholt JH, deBoer WEL & Jansen NJM: Disability assessments: Effects of response mode and experience. Disability & Rehabilitation 2006; 28: 111–115

6 Dickmann J & Broocks A: Das psychiatrische Gutachten im Rentenverfahren – Wie reliabel? Fortschr Neurol Psychiat 2007, 75: 397–401.

7 Meershoek A, Krumreich A & Vos R: Judging without criteria? Sickness certification in Dutch disability schemes. Sociology of Health & Illness 2007, 29: 497–514.

8 Linden M: Editorial: Das psychiatrische Gutachten im Rentenverfahren – Wie reliabel? Fortschr Neurol Psychiat 2007, 75: 379–381

9a Bahmer J, Meisel S, Hesse B, Gebauer E: Projekt zur Erfassung der Einflussfaktoren auf die gutachterliche Leistungsbeurteilung (PEgL) – Chancen sozialmedizinischer Begutachtung. Med Sach 2010; 106(6): 255–256.

9b Bahmer, J. & Gebauer, E: Project to identify factors influencing expert performance appraisal. A study of expert opinion research. Versicherungsmedizin 2010; 62(3), 136–137.

10 Maes J: Drakonität als Personmerkmal: Entwicklung und erste Erprobung eines Fragebogens zur Erfassung von Urteilsstrenge (Drakonität) versus Milde. Berichte aus der Arbeitsgruppe „Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral“, Nr. 78. Trier: Universität, Fachbereich I – Psychologie, 1994, 48 Seiten, 15 Literaturang.

11 Betsch C (2008): Chronic preferences for intuition and deliberation in decision making. Lessons learned about intuition from an individual differences approach In: Plessner, H. , Betsch C. & Betsch, T. (Ed.), Intuition in judgment and decision making, New York: Erlbaum 2008, 231–248

12 Dalbert C: UGTS – Ungewissheitstoleranzskala: Skaleneigenschaften und Validierungsbefunde; Hallesche Berichte zur Pädagogischen Psychologie Nr. 1., Halle (Saale) Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1999.

13 Maes J & Schmitt M: Protestantische-Ethik-Skala (PES): Messeigenschaften und Konstruktvalidität. Berichte aus der Arbeitsgruppe „Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral“, Nr. 146. Trier: Universität, Fachbereich I – Psychologie, 2001.

14 Glaesmer H, Hoyer J, Klotschke J & Herzberg, PY: Die deutsche Version des Life-Orientation-Tests (LOT-R) zum dispositionellen Optimismus und Pessimismus; Zeitschrift für Gesundheitspsychologie 2008; 16 (1): 26–31

Fussnoten

Projektleiterin Institut für Rehabilitationsforschung Norderney e.V., Abteilung Münster, Münster

Leiter der Ärztlichen Begutachtungsstelle der Dt. Rentenversicherung Westfalen; Bielefeld

Leiter der Abteilung Sozialmedizin Münster, 48147 Münster,

DOI 10.3238/oup.2013.0021–0025

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