Übersichtsarbeiten - OUP 11/2012

Behandlungsalgorithmen der chronischen Osteomyelitis

G. Walter1, M. Kemmerer1, C. Kappler1, R. Hoffmann1

Hintergrund: Die Osteomyelitis ist eine seit langem
bekannte, aber immer noch kontrovers diskutierte Erkrankung. Infolge der demografischen Entwicklung ist künftig mit einem Anstieg der exogen erworbenen Form zu rechnen. Es werden das klinisch relevante, pathophysiologische Modell der Biofilmbildung dargestellt und davon ausgehend die aktuellen therapeutischen Ansätze abgeleitet.

Methoden: In den Datenbanken PubMed und Cochrane-
Library wurde eine selektive Literaturrecherche durchgeführt. Gesucht wurden lokale und systemische Antibiotika sowie chirurgische Verfahren zur Behandlung der chronischen
Osteomyelitis. Die Biofilmtheorie wird anhand der aktuellen Literatur erläutert.

Ergebnisse: Weder über die Definition noch über die
Diagnosekriterien des Krankheitsbildes besteht bisher Konsens. Die publizierten Arbeiten sind untereinander kaum
vergleichbar, und es fehlen evidenzbasierte Übersichten zur Therapie. Die Behandlungsempfehlungen beruhen deshalb auf den Ergebnissen einzelner Studien und den aktuellen Lehrbüchern. Es wird zwischen einem kurativen und einem
palliativen Behandlungsansatz unterschieden. Für beide Vorgehensweisen ist derzeit die chirurgische Therapie die
wesentliche Maßnahme. Additiv ist eine antibiotische Behandlung erforderlich, die sich nach der Empfindlichkeit des Erregerspektrums richten muss.

Schlussfolgerung: Eine kombinierte chirurgische und
antiinfektive chemotherapeutische Behandlung führt bei 70–90% der Patienten zu einer anhaltenden Infektberuhigung. Zur Eradikation von Biofilm-produzierenden Erregern fehlen derzeit geeignete Antibiotika.

Schlüsselwörter: Chronische Osteomyelitis, Biofilm, chirurgische Therapie, additive Antibiotikatherapie, Infektberuhigung

Background: Osteomyelitis was described many years ago but is still incompletely understood. Its exogenously
acquired form is likely to become more common as the population ages. We discuss biofilm formation as a clinically relevant pathophysiological model and present current
recommendations for the treatment of osteomyelitis.

Methods: We selectively searched the PubMed and Cochrane databases for articles on the treatment of chronic osteomyelitis with local and systemic antibiotics and with surgery. The biofilm hypothesis is discussed in the light of the current literature.

Results: There is still no consensus on either the definition of osteomyelitis or the criteria for its diagnosis. Most of the published studies cannot be compared with one another, and there is a lack of scientific evidence to guide treatment. The therapeutic recommendations are, therefore, based on the findings of individual studies and on current textbooks. There are two approaches to treatment, with either curative or palliative intent; surgery is now the most important treatment modality in both. In addition to surgery, antibiotics must also be given, with the choice of agent determined by the sensitivity spectrum of the pathogen.

Conclusion: Surgery combined with anti-infective chemotherapy leads to long-lasting containment of infection in 70–90% of cases. Suitable drugs are not yet available for the eradication of biofilm-producing bacteria.

Keywords: chronic osteomyelitis, biofilm, surgical therapy, additive antibiotic therapy, remission of osteomyelitis

Infektiöse Erkrankungen des Skelettsystems sind bereits aus der Frühphase der menschlichen Entwicklung bekannt. Zeichen einer abgelaufenen Osteomyelitis findet man in hominiden Fossilien (Australopithecus africanus), die Symptome werden schon in den ältesten medizinischen Texten beschrieben (Edwin Smith Papyrus) [1–3].

Dennoch gelang es bis heute nicht, verbindliche Kriterien festzulegen, die eine sichere Diagnose erlauben. Ein Vergleich verschiedener Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ist deshalb kaum möglich, evidenzbasierte Ergebnisse gibt es wenige. Ursächlich liegt dies am wichtigsten Charakteristikum: dem ausgesprochenen Symptomreichtum, mit dem sich die chronische Osteomyelitis (COM) manifestieren kann. Sie erschwert eine systematische Beschreibung, sie überrascht selbst erfahrene Behandler mit immer wieder neuen und unvorhersehbaren Verläufen [4–6].

Das klinische Erscheinungsbild der COM hat sich in den letzten 70 Jahren deutlich verändert. Mit der Einführung der Antibiotika schien sie zunächst ihre Schrecken zu verlieren. So konnte die hämatogene Osteomyelitis in den Industrieländern nahezu vollständig zurückgedrängt werden [7].

Die posttraumatisch-postoperativ erworbene Form nimmt hingegen zu. Durch die Veränderung der Altersstruktur in der Bevölkerung und die wachsende Zahl chirurgisch-orthopädischer Implantate wird in den nächsten Jahren mit einem weiteren Anstieg gerechnet [8, 9]. Es sollen deshalb die derzeitigen Behandlungskonzepte im Überblick dargestellt und erklärt werden.

Methoden

In den Datenbanken PubMed und Cochrane Library wurde eine selektive Literaturrecherche zu Behandlungsalgorithmen der chronischen Osteomyelitis durchgeführt. Nach deutschsprachigen Publikationen wurde in den Datenbanken des Springer- und Thieme-Verlags sowie in aktuellen Lehrbüchern der septischen Chirurgie gesucht.

Die Cochrane Datenbank enthält bisher eine Übersicht zur medikamentösen Therapie der chronischen Osteomyelitis [10].

Eine Abfrage der PubMed-Bibliothek mit dem Term ((“chronic osteomyelitis” OR “bone infection” OR “chronic osteitis”) and therapy) AND systematic(sb) ergab 15 Übersichten. 8 Publikationen erschienen für das Thema relevant und wurden ausgewertet [10–17]. Gesucht wurden lokale und systemische Antibiotika sowie chirurgische Verfahren zur Behandlung der chronischen Osteomyelitis. Die Biofilmtheorie wird anhand der aktuellen Literatur erläutert.

Epidemiologie

Frustran behandelte akute Infektkomplikationen stellen die häufigste Ursache der chronischen Osteomyelitis in den entwickelten Ländern dar [18]. Sie treten in der elektiven Unfallchirurgie in 1–5% nach geschlossenen und – in Abhängigkeit vom Schweregrad – in 3–50% nach erst- bis drittgradig offenen Frakturen auf [19]. Insgesamt kommt es bei 5% der traumatologisch/orthopädischen Implantate im Laufe ihrer Standzeit zu Infektkomplikationen [20].

In der primären Endoprothetik ist nach Hüft- und Kniegelenkersatz mit 0,5–2% Frühinfektionen zu rechnen. Bei aseptischen Wechseloperationen treten 5% tiefe Infektionen auf, nach septischen Revisionseingriffen steigt der Wert über 20% an [21].

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