Übersichtsarbeiten - OUP 09/2018

Digitale Medizin: Chancen für Unternehmen und Patienten

Thilo Kaltenbach1, Marco Bühren1

Zusammenfassung: Der Beitrag befasst sich mit den Chancen, die sich für Unternehmen und Patienten aus der Digitalisierung der Medizin ergeben. Dazu zählen u.a. neue Dienste und Anwendungen wie Telefon- und Videosprechstunden, Apps zur Überwachung oder Therapie sowie innovative Behandlungsmöglichkeiten in der Medizintechnik. Die Entwicklung bringt viele etablierte Anbieter unter Druck, während neue, oft branchenfremde Marktteilnehmer mit digitalisierten Geschäftsmodellen einen leichten Einstieg in einen Markt haben, in dem die Nutzung von Patientendaten eine immer wichtigere Rolle spielt. Wir gehen davon aus, dass Digitalisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz den Versorgungsalltag von der Diagnose bis zur Therapie nachhaltig positiv verändern werden, auch in der Orthopädie und Unfallchirurgie.

Schlüsselwörter: Digitalisierung, Telefon-/Videosprechstunde, Fernbehandlungsverbot, Telemedizin, roboterassistiertes
Operieren, Apps, mobile Services, elektronische Patientenakte, digitale Krankenversicherung, Start-ups im Gesundheitswesen, digitale Geschäftsmodelle, digitale Medizintechnik,
Miniaturisierung, Virtual/Augmented Reality, 3D-Druck,
Homecare, Finanzinvestoren, Private Equity, Konsolidierung, ambulante Strukturen, Praxisketten, künstliche Intelligenz, e-Health, Disruption

Zitierweise
Kaltenbach T, Bühren M: Digitale Medizin: Chancen für
Unternehmen und Patienten.
OUP 2018; 7: 445–452 DOI 10.3238/oup.2018.0445–0452

Summary: The article deals with the opportunities for companies and patients resulting from the digitization of medicine. These include, among others, new services, applications and products such as telephone and video consultation, apps for monitoring supportive therapy or innovative treatment options in medical technology. The development is putting many established vendors under pressure as new, often non-industry market participants with digitized business models have an easy entry into a market in which the use of patient data plays an increasingly important role. We assume that digitalisation, big data and artificial intelligence will ultimately change the daily routine of care from diagnosis to therapy, even in orthopedics and trauma surgery.

Keywords: digitization, telephone/video consultation, remote treatment ban, telemedicine, robot assisted surgery, apps,
mobile services, electronic patient record, digital health
insurance, healthcare startups, digital business models, digital medical technology, miniaturization, virtual/augmented reality, 3D-printing, homecare, financial investors, private equity,
consolidation, outpatient structures, practice chains, artificial
intelligence, e-health, disruption

Citation
Kaltenbach T, Bühren M: Digital medicine: opportunities for
companies and patients.
OUP 2018; 7: 445–452 DOI 10.3238/oup.2018.0445–0452

1 Roland Berger GmbH, München

Die Digitalisierung erreicht das Gesundheitswesen

Diagnose und Therapie aus räumlicher Entfernung – Patient oder Untersuchungsgegenstand an einem Ort, Arzt oder Behandlerteam am einem anderen Ort – das ist längst keine Zukunftsmusik mehr. Fachärzte unterstützen Notfallsanitäter am Einsatzort, indem sie Vitaldaten der Patienten per
Videotechnik und mobile Kommunikation in Echtzeit überwachen und Handlungsempfehlungen geben. Software-Programme analysieren Röntgenbilder und machen behandelnden Orthopäden und Radiologen Diagnose- und Behandlungsvorschläge. Assistenzsysteme navigieren Ärzte durch Operationen, reagieren auf neue Situationen und schlagen nächste Schritte vor. Die Vorteile liegen auf der Hand: schnellere Patientenversorgung im Notfall, Vermeidung von ggf. nicht zielführenden Untersuchungen und Eingriffen, mehr Patientensicherheit sowie präzisere und effizientere Arbeitsabläufe im OP. Die Beispiele zeigen: Die Digitalisierung ist – endlich – auch im Gesundheitswesen angekommen.

Das ist zunächst eine gute Nachricht, denn für alle Akteure im Gesundheitssystem bieten sich durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten: Patienten durch eine stärker personalisierte und leichter zugängliche Versorgung, Pharmaunternehmen durch wirksamere und schneller marktfähige Produkte, Medizintechnikunternehmen durch renditestarke neue Ideen beispielsweise für den stark wachsenden Homecare-Bereich, Apotheken durch personalisierte Gesundheitsleistungen und nicht zuletzt Ärzte, die mehr Zeit für das Wichtigste haben: ihre Patienten. Vor allem im ersten Gesundheitsmarkt, also bei allen Nicht-Selbstzahlungsleistungen, können digital unterstützte Versorgungskonzepte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Kosten zu senken, die Versorgungsqualität zu verbessern und Versorgungsengpässe in ländlichen Gebieten auszugleichen (Abb. 1).

Aber auch aus unternehmerischer Sicht sind die Aussichten durchaus erfreulich: Unseren Schätzungen zufolge wird das weltweite Marktvolumen digitaler Gesundheitsleistungen bis zum Jahr 2020 bei mehr als 200 Milliarden Euro Umsatz liegen [1]. Das entspricht einer jährlichen Wachstumsrate von mehr als 20 % (Abb. 2).

Vor allem das Segment der mobilen Dienste – wie z.B. Apps für Smartphones – mit einem jährlichen Wachstum von mehr als 40 % treibt die Digitalisierung der Branche voran. Dabei erfasst das Smartphone als täglicher Begleiter Werte wie Blutdruck, Körpertemperatur oder Schlafgewohnheiten, um auf dieser
Basis Erstdiagnosen zu erstellen und dem Besitzer bei Bedarf einen Arztbesuch oder direkt die passende Medikation zu empfehlen. Auf diese Weise könnte etwa eine Schilddrüsenüberfunktion frühzeitig diagnostiziert und behandelt werden.

Diese und andere Möglichkeiten der Digitalisierung werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Einige Anwendungen sind bereits Realität. So entwickeln Pharmakonzerne schon heute gemeinsam mit großen Technologieanbietern neue Produkte, um die Wirkung ihrer Medikamente zu testen. In wenigen Jahren könnte die digitale Auswertung von Gesundheitsdaten sogar zu einer individuellen Medikation des Patienten führen, ohne dass dafür ein Arzt oder Apotheker konsultiert werden muss.

Doch wie jede Entwicklung hat auch diese ihre weniger erfreulichen Begleiterscheinungen. Für viele Pharmaunternehmen führt der Trend zur personalisierten Medikation dazu, dass neue Wirkstoffe, Formulierungen oder Darreichungsformen für immer kleinere Patientenpopulationen entwickelt werden müssen. Anbieter aus der Medizintechnik sind gefordert, neue technologische Kompetenzen zu erwerben, um ihre Produkte zu digitalisieren. Apotheken müssen stärker als bisher deutlich machen, warum sich der Gang zu ihnen lohnt, obwohl Produkte und Beratungsdienstleistungen längst auch online oder über Apps erhältlich sind. Ärzte müssen sich neuen Technologien und Behandlungsformen anpassen oder diese sogar völlig neu erlernen.

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