Übersichtsarbeiten - OUP 09/2018

Digitale Medizin: Chancen für Unternehmen und Patienten

Insgesamt steigt der Wettbewerbsdruck durch neue, branchenfremde Player mit innovativen, digitalen Erlösmodellen, die Auflösung bisheriger Wertschöpfungsketten und starken Anpassungsdruck infolge neuer Schnittstellen zwischen Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern.

Die Digitalisierung wird also nicht nur alle Sektoren der Branche fundamental verändern, sondern auch die darin tätigen Akteure, ihre Rollen, die Art ihrer Interaktion und ihre Geschäftsmodelle. Dem deutschen Gesundheitswesen stehen damit substanzielle – disruptive – Veränderungen bevor. Nicht alle derzeitigen Akteure sind gleich gut vorbereitet. Umso wichtiger ist es, jetzt die richtigen Weichen zu stellen: in den Unternehmen, bei Ärzten und Apothekern, in den Chefetagen der Versicherungen, aber auch in der Politik.

Auf dem Weg in die digitale Medizin I: Erste
regulatorische Hürden fallen

Ärzteschaft und Selbstverwaltung galten lange als eher zögerlich, wenn es darum ging, die Voraussetzungen für eine weitergehende Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland zu schaffen [2].

Dabei hatte der Deutsche Bundestag mit dem E-Health-Gesetz bereits 2016 den Weg für mehr Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung freigemacht. Das Gesetz sieht vor, Arztpraxen und Krankenhäuser flächendeckend an Telematik-Infrastruktur anzuschließen. Der Aufbau der Infrastruktur durch einen Dienstleister lief zunächst schleppend an und verzögerte sich stark, zwischenzeitlich ist eine Fristverlängerung für die ursprünglich bis Jahresmitte geplante Anbindung im Gespräch. In anderen Bereichen, etwa beim Medikationsplan, dem elektronischen Arztbrief und EBM-Ziffern für telemedizinischen Leistungen, gibt es inzwischen klare Regelungen.

Ausgerechnet die deutsche Ärzteschaft hat dann auf dem diesjährigen Ärztetag Fakten geschaffen. So markiert die Änderung der ärztlichen Muster-Berufsordnung (MBO), wie der Antrag offiziell firmierte, nicht weniger als eine Zeitenwende im Arzt-Patienten-Verhältnis. Denn wie die Delegierten in Erfurt mit überwältigender Mehrheit beschlossen, können Ärzte ihre Patienten künftig im Einzelfall auch aus der Ferne – etwa per Telefon- oder Videosprechstunde – behandeln, und zwar ohne dass diese vorher persönlichen Arztkontakt hatten (auch wenn der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt weiterhin Goldstandard ärztlichen Handelns bleibt, wie Spitzenfunktionäre unmittelbar nach der Entscheidung betonten).

Voraussetzung für eine Fernbehandlung ist dem Beschluss zufolge, dass diese ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung und Dokumentation gewahrt wird. Außerdem müssen die Patienten im Vorfeld über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt werden.

Erste Initiativen von Krankenversicherungen, dieses Konzept praktisch umzusetzen, gibt es bereits: So können sich vollversicherte Barmenia-Kunden mit stationären Wahlleistungen demnächst über die Barmenia-MediApp schnell, direkt und von zu Hause aus telemedizinisch beraten lassen. Die Vorteile für die Nutzer sind enorm: keine Wartezeiten auf einen Arzttermin, Unabhängigkeit von den Öffnungszeiten der Arztpraxen und volle Erreichbarkeit – auch im ländlichen Raum. Die Nutzung der App soll kostenfrei und ohne Auswirkungen auf die Beitragsrückerstattung oder den Selbstbehalt sein. Auch für Ärzte sind solche Initiativen attraktiv, können sie doch u.a. einen Beitrag dazu leisten, Leerzeiten in den Praxen zu füllen.

Eine von privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen gemeinsam genutzte digitale Plattform ist Vivy. Sie vernetzt Patienten u.a. mit Ärzten, Krankenhäusern, Laboren und weiteren gesundheits- und fitnessrelevanten Anbietern. Dabei ist Vivy zum einen eine elektronische Gesundheitsakte, die alle medizinischen Dokumente in einer App speichert, verschlüsselt und nur für den Nutzer sichtbar macht. Per Klick können beim Arzt Unterlagen angefordert oder an einen Arzt versendet werden. Außerdem ist Vivy aber auch eine „persönliche Gesundheitsassistentin“, die an Impfungen erinnert, bei der Medikamenteneinnahme unterstützt und Tipps für einen gesunden Lebensstil gibt.

Das Ende des Fernbehandlungsverbots könnte auch einer zweiten, seit vielen Jahren im Dornröschenschlaf dämmernden Entwicklung neuen Schub verleihen: der Telemedizin. Scheiterte deren Anwendung in der Praxis bislang oft an rechtlichen Grauzonen, haben Ärzte nach dem Fall des Fernbehandlungsverbots deutlich mehr Handlungsspielraum. Außerdem schließt Deutschland damit gegenüber anderen europäischen Ländern wie Großbritannien, der Schweiz oder Skandinavien auf, in denen Telemedizin längst Standard ist. Viele potenzielle Patienten sehen die Entwicklung ganz offensichtlich positiv: Einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom unter mehr als 1000 Bürgern zufolge würden 45 % der Befragten gerne Terminerinnerungen via SMS oder E-Mail erhalten, 14 % praktizieren dies bereits. 60 % befürworten außerdem elektronische Patientenakten [3].

Auf dem Weg in die digitale Medizin II:
Neue Anbieter etablieren sich

Weniger regulatorische Hürden, vor allem aber das enorme Potenzial des digitalen Gesundheitsmarkts, machen Deutschland zunehmend auch für neue Player interessant. So startete erst im Juni die erste vollständig digitale Krankenversicherung Ottonova. Der Vertragsabschluss mit Neukunden erfolgt ausschließlich direkt (ohne Makler) und online, kommuniziert wird über die Ottonova-App im Smartphone, Rechnungen und Kostenvoranschläge von Ärzten sollen weitgehend vollautomatisch geprüft und verarbeitet werden. Die durchgehend digitale Ausrichtung von Ottonova ermöglicht nach Unternehmensangaben nicht nur neue Dienstleistungen für die Versicherten – z.B. eine persönliche elektronische Patientenakte – und reduziert die Verwaltungskosten; der monatliche Beitragssatz soll außerdem deutlich unter dem Satz konventioneller Mitbewerber liegen. Mit Tengelmann Ventures, STS Ventures des Onvista-Finanzportal-Gründers Stephan Schubert und Holtzbrinck Ventures (Zalando, Flixbus) konnte Ottonova bereits zum Start mehrere namhafte Investoren gewinnen.

Insgesamt wird derzeit massiv investiert. Ottonova ist bei Weitem nicht das einzige Start-up, das mit neuen Geschäftsmodellen in den Markt drängt. Mit 150 beratenden Ärzten und mehr als 1500 aktiven Nutzern (Unternehmensangaben) gehört die im Mai 2016 gestartete Online-Gesundheitsplattform Teleclinic zu den erfolgreichsten Neugründungen der jüngeren Vergangenheit. Teleclinic bietet via App, Website oder Telefon digitale ärztliche Beratung in mehr als 30 Fachgebieten. Damit haben Verbraucher rund um die Uhr Zugang zu medizinischem Fachwissen, ohne eine Praxis aufsuchen zu müssen.

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