Übersichtsarbeiten - OUP 09/2018

Digitale Medizin: Chancen für Unternehmen und Patienten

Der Gesundheitsbranche steht ein radikaler Wandel bevor: In den kommenden Jahren wird die Digitalisierung alle Sektoren und Spieler der Branche stark verändern. Von der Prävention über die Diagnose bis zur Therapie – die gesamte „Patientenreise“ wird durch digitale Werkzeuge und Interaktionen verändert, mit entsprechenden Folgen für Geschäftsmodelle und Marktanteile.

Digital Health bietet dabei einerseits neuen Marktteilnehmern die Chance, sich mit ihren Angeboten zu positionieren, andererseits bedroht es die Position vieler etablierter Anbieter. Vor allem die wachsende Zahl gesundheitsbezogener Daten bringt es mit sich, dass digitalisierte Geschäftsmodelle neuer Marktteilnehmer gefragt sind, die mit Big Data arbeiten und den Patienten eine personalisierte Medizin anbieten. Angebote wie Gesundheitstipps auf Basis der Daten von Wearables, Tele-Gesundheitsberatung oder auch Online-Medikamentierung kommen dabei zunächst ohne die traditionelle Beziehung zum bisherigen Gesundheitssystem aus.

Digitalisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz werden den Versorgungsalltag nachhaltig verändern. Das wird sich auch in der Orthopädie und Unfallchirurgie bemerkbar machen. Orthopäden werden in der Diagnose, etwa bei bildgebenden Analysen wie Röntgen und MRT, aber auch hinsichtlich der Symptomatik durch Software-Systeme mit künstlicher Intelligenz unterstützt. Auch die Prognosefähigkeit im Hinblick auf den weiteren Verlauf einer Krankheit wird zunehmen. So soll die KI-basierte Lösung des Wiener Start-up-Unternehmens IB Lab beispielsweise die Früherkennung von Kniearthrosen Software-gestützt revolutionieren und das für Radiologen und Orthopäden aufwendige Verfahren erheblich verkürzen. Mithilfe von Deep-learning-Methoden analysiert das System selbstständig Röntgenbilder und liefert dem behandelnden Arzt einen sofortigen Überblick über den aktuellen Status des Gelenks. Nach dem Training an mehr als 15.000 Röntgenaufnahmen erkennt die Software automatisch unterschiedliche Krankheitsstadien. Bei Auffälligkeiten schlägt sie entsprechende Diagnosen vor.

Auch Operationen werden künftig verstärkt durch roboterassistierte Systeme unterstützt. Gegenüber menschlichen Operateuren haben diese den Vorteil, garantiert ohne Zittern und millimetergenau arbeiten zu können. Moderne Kombisysteme aus CT/MRT und Angiografie werden über Algorithmen multimodale Anwendungen bieten, die Operateuren den Weg zum adressierten Gewebe aufzeigen – und diesen in 3D-Optik aufzeigen. KI-gestützte Navigationssysteme werden damit einen wichtigen Beitrag zu neuen Dimensionen in der Präzisionschirurgie leisten.

Auch wenn die Digitalisierung noch einige Hürden nehmen muss, bevor sie durchgehend in der Gesundheitsversorgung eingeführt ist, wird sie über kurz oder lang eine Neuordnung der Rollen der Marktspieler und ihrer Geschäftsmodelle bewirken. Insbesondere klassische, etablierte Pharma-Geschäftsmodelle sind von dieser Disruption betroffen. Die meisten Unternehmen bereiten sich bereits auf die Transformation vor, indem sie sich mit Wagniskapital an Digital-Health-Start-ups beteiligen oder Partnerschaften eingehen. Strategische Kooperationen sind ein weiterer wichtiger Faktor für den Erfolg im digital veränderten Geschäftsfeld Gesundheit – nicht nur unter etablierten Marktteilnehmern, sondern auch zwischen diesen und innovativen erfolgversprechenden Start-ups.

Eine weitere Herausforderung ist die Frage, wie geschlossene Strukturen für Innovationen geöffnet werden können. Das betrifft die Struktur eines Unternehmens genauso wie seine Innovationskultur und seine Prozesse. Anbieter im Gesundheitsmarkt müssen die Frage beantworten, wie ihr eigenes „Betriebssystem“ für den digitalen Wandel aussehen soll.

Für den orthopädischen und unfallchirurgischen Bereich sehen wir die Entwicklung insgesamt positiv. Repetitive und inhaltlich wenig anspruchsvolle Tätigkeiten werden zunehmend digitalisiert. Gleichzeitig eröffnet sich – nicht nur im Zuge des Einstigs externer Investoren – die Chance zur Konsolidierung von Praxisstrukturen. Orthopäden und Unfallchirurgen werden sich dadurch mehr als bisher auf ihre individuelle operative Kunst fokussieren können.

Interessenkonflikt: Keine angegeben.

Korrespondenzadresse

Dr. Thilo Kaltenbach

Roland Berger GmbH

Sederanger 1

80538 München

thilo.kaltenbach@rolandberger.com

Literatur

1. RB Think Act: All change for healthcare

2. Hürden bei der Digitalisierung der Medizin in Deutschland – eine Expertenbefragung. DOI: 10.1055/s-0043–121010

3. www.bitkom.org/Presse/Anhaenge-an-PIs/2017/03-Maerz/Verbraucherstudie- Telemedizin-2017–170327.pdf

Info-Kasten: Start-ups im Gesundheitswesen

Die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense ist die weltweit erste digitale Migränetherapie, die sowohl Auslöser von Migräne- und Kopfschmerz analysiert als auch mobile Therapiemethoden zur Verfügung stellt. Mithilfe der datengetriebenen, mobilen Therapie des Berliner Start-ups sollen Betroffene ihre Migräneattacken besser bewältigen und Intensität, Dauer und Häufigkeit der Attacken sowie die Medikamenteneinnahme um bis zu 40 % reduzieren können.

Mit MemoreBox bietet das Hamburger Start-up RetroBrain Videospiele und Übungen, mit deren Hilfe Senioren Bewegungsabläufe trainieren und damit eine einsetzende Demenz verlangsamen können.

Das Dresdner Start-up Caterna Vision will kleinen Kindern bei der Überwindung von Schwachsichtigkeit (Amblyopie) helfen. Schwachsichtigkeit ist eine Sehstörung, die häufig durch einseitiges Schielen verursacht wird. Über einen Internetzugang ist die Online-Sehschule von Caterna überall und jederzeit verfügbar. Statt zum Augenarzt zu gehen, können die Kinder damit bequem zu Hause am Computer üben.

MySugr aus Wien gehört seit 2017 zum Pharmaunternehmen Roche. Der Anbieter setzt für seine Zielgruppe – Diabetes-Patienten – auf eine Kombination aus Gamification, Motivation und durchdachtem Produktdesign. Die App ist inzwischen in mehr als 50 Ländern verfügbar und funktioniert wie ein modernes Diabetes-Tagebuch. Sie lässt sich mit dem Blutzucker-Messgerät synchronisieren, sodass die Daten automatisch übertragen werden, manuelles Eintippen ist nicht mehr nötig. Für jeden Eintrag erhält der User Punkte. Mittlerweile gibt es auch eine App für Kinder und die mySugr Academy, die den Umgang mit der Krankheit u.a. mithilfe von Lernvideos erleichtert.

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