Übersichtsarbeiten - OUP 09/2018

Digitale Medizin: Chancen für Unternehmen und Patienten

Ein Blick auf einige der wichtigsten Unternehmensgründungen im Gesundheitsbereich der vergangenen Jahre (siehe Info-Kasten) macht deutlich, dass die Digitalisierung von der Prävention über die Diagnose bis zur Therapie praktisch alle Bereiche der „Patientenreise“ tangiert (Abb. 3).

Die Aufstellung gibt lediglich eine Auswahl der derzeit am Markt aktiven Gesundheits- und Medizin-Start-ups wieder und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Allerdings erlaubt auch diese kleine Auswahl Rückschlüsse auf
5 zentrale Erfolgsfaktoren von Medizin-Start-ups:

  • 1. Sie haben eine klar definierte Zielgruppe, z.B. Patienten, die von einer bestimmten Krankheit betroffen sind (wie M-sense, MemoreBox, Caterna, mySugr), oder Ärzte mit speziellen Anforderungen (Medgate, Doctolib).
  • 2. Sie können den Mehrwert ihrer Leistungen beziehungsweise Produkte monetarisieren und kooperieren mit Krankenkassen, Pharma- oder Medizintechnikunternehmen.
  • 3. Sie haben eine Zulassung als Medizinprodukt für ihre Produkte oder Leistungen.
  • 4. Sie differenzieren sich technologisch eindeutig von bestehenden Lösungen und
  • 5. sie haben ein klares, anwenderfreundliches Produktdesign und setzen aktiv auf zusätzliche Features wie Gamification, um eine enge Bindung zur Zielgruppe aufzubauen.

Mehr als 20 Inkubatoren und zahlreiche Industrieinitiativen schaffen auch in Deutschland ein zunehmend innovationsfreundliches Umfeld. Zusätzlich investiert die Politik: So stellte die Horizont-2020-Initiative der Europäischen Kommission 600 Millionen Euro für Europas digitale Zukunft bereit. Anfang Juni hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag zum nächsten Rahmenprogramm für Forschung und Innovation veröffentlicht. „Horizont Europa“ soll den Zeitraum von 2021 bis 2027 und Investitionen im Umfang von rund 100 Milliarden Euro abdecken. Ein Schwerpunkt der Förderung sind „marktschaffende und hoch-risikoreiche Innovationen sowie deren schneller Transfer in marktfähige Produkte“.

Innovative Technologien
bewähren sich in der Praxis

Ein weiterer wesentlicher Treiber der Digitalisierung im Gesundheitswesen sind neue Technologien. Einige, etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI), haben vor allem infolge dramatisch verbesserter Rechnerleistungen in den vergangenen Jahren neue Dynamik bekommen. So können Ärzte Krankheiten mithilfe neuer Hightech-Verfahren oft präziser und schonender diagnostizieren als bisher.

Etwa den schwarzen Hautkrebs. Jedes Jahr kostet er 3000 Deutsche das Leben, weil er zu spät erkannt wurde. Selbst geübten Dermatologen entgehen regelmäßig Anzeichen des Melanoms. Ein Computerforscher vom Labor für künstliche Intelligenz der kalifornischen Stanford University fütterte daraufhin seine Maschinen mit fast 130.000 Aufnahmen verschiedenster Hautveränderungen. Die eingesetzte KI erwies sich dabei als gelehrige Schülerin: Beim Test an rund 2000 Fotografien übersah sie in der Regel nicht nur weniger Melanome als 21 erfahrene Dermatologen. Sie stufte auch seltener eine harmlose Veränderung als Tumor ein.

Klar ist aber auch: Der Einsatz von KI in der Medizin hat bis auf Weiteres ausschließlich unterstützende Funktion. Sie soll Ärzte und medizinisches Fachpersonal bei Analysen und Auswertungen entlasten, nicht ersetzen. Selbstlernende Programme können aus gigantischen Datenmengen Analyseaufgaben bei gleicher oder sogar besserer Qualität und Genauigkeit schneller erledigen als der Mensch. Dadurch werden Abläufe beschleunigt und komplexe Recherchen in Sekunden erledigt. Ein klarer Vorteil ist neben der Zeitersparnis, dass die KI neben der Erstdiagnose eine Zweitmeinung für den Arzt liefert. Das kann bei Brust- und Hautkrebs beispielsweise dazu beitragen, unnötige Eingriffe zu vermeiden. Branchenbeobachter gehen davon aus, dass künstliche Intelligenz die medizinische Diagnostik und vor allem die Krebsdiagnostik grundlegend verändern wird.

Der KI-Einsatz hat auch finanzielle Vorteile: Wie eine Studie der Universitäten Birmingham und Edinburgh gezeigt hat, lässt sich die Zahl der Biopsien, also der Entnahme einer Gewebeprobe, bei Patienten mit einer Fettleber deutlich reduzieren, wenn zunächst eine bestimmte Magnetresonanztomografie durchgeführt und die Daten computergestützt analysiert werden. Das britische Gesundheitssystem könnte damit 150.000 Pfund (fast 170.000 Euro) pro 1000 Patienten sparen, so die Rechnung der Forscher.

Digitale Medizintechnik: Neue Optionen in Diagnose und Therapie

Auch in der Medizintechnik hat die
Digitalisierung Einzug gehalten. 3D-Druck, Miniaturisierung, Personalisierung und Homecare sind einige der wichtigsten Trends, die oft Hand in Hand gehen oder sich sogar gegenseitig bedingen.

So kostete ein Ultraschallgerät vor 20 Jahren rund 15.000 US-Dollar und hatte beachtliche Ausmaße. Seit 2016 bietet Philips mit Lumify ein Gerät an, das nicht mehr gekauft, sondern gemietet wird – für rund 200 Dollar pro Monat. Für diese Summe erhält man nicht nur ein Ultraschallgerät, sondern eine mobile, App-basierte Ultraschall-Anwendung für den Einsatz in Notaufnahmen und Akutzentren, aber auch in anderen klinischen Umgebungen.

Die Vorteile sind offensichtlich: Durch digitalisierte und miniaturisierte Medizintechnik wird die Versorgung flexibler, denn sie ist nicht mehr an räumliche Bedingungen wie Krankenhäuser gebunden. Die einfache Bedienbarkeit erinnert an Geräte aus dem Konsumbereich, und auch die monatliche Gebühr ähnelt Bezahlmodellen, die man aus dem privaten Konsumbereich kennt.

Auch Miniaturisierung und Augmented Reality verändern die Medizintechnik. Bildgebende Diagnoseinstrumente werden immer kleiner und lassen sich mit anderen Daten, beispielsweise aus dem CT, überlagern. In Kombination mit einem Virtual-Reality-Gerät ermöglichen sie dem behandelnden Arzt Echtzeiteinblicke in das Behandlungsfeld. Mit einer Virtual-Reality-Brille können Ärzte beispielsweise im 3-dimensionalen Raum mit einem Hüftknochen interagieren, der operiert werden soll: Sie können ihn vergrößern, aus verschiedenen Winkeln betrachten und zwischen den Ansichten wechseln.

Ein weiterer attraktiver Zukunftsmarkt ist der Homecare-Bereich. Wenn Medizintechnikfirmen Produkte nicht mehr nur für die Anwendung durch Ärzte und Pflegepersonal entwickeln, sondern durch Laien, nämlich die Patienten selbst, können sie interessante neue Absatzmärkte erschließen. Und zwar auch dann, wenn ein Produkt teuer ist. Denn solange es noch deutlich kostspieligere Aufenthalte in Kliniken oder Rehabilitationszentren überflüssig macht, hat es gute Chancen, sich im Markt zu behaupten. Beispielhaft zu erwähnen ist hier etwa ein Sensoranzug für Schlaganfallpatienten, der Bewegungsdaten speichert und verarbeitet und so die Bewegungsqualität von Patienten modellieren kann.

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