Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Dysphagie als Komplikation nach einer Operation an der Halswirbelsäule
Schnittstelle zwischen Logopädie und Orthopädie

Stefanie Duchac, Christian Neuhäuser, Tobias Pitzen

Zusammenfassung:

Dysphagien (Schluckstörungen) sind die häufigste Komplikation nach Operationen an der Halswirbelsäule. Bislang gibt es kein valides und reliables klinisches Untersuchungsinstrument, um Patienten nach einer Operation an der Halswirbelsäule zuverlässig hinsichtlich bestehender Schluckstörungen zu detektieren. Dies ist jedoch erforderlich, um eine aussagekräftige instrumentelle Diagnostik und therapeutische Maßnahmen einleiten zu können. Im Rahmen dieses Artikels sollen neben einem strukturierten Überblick über die aktuelle Forschungslage Kooperationsprojekte zwischen Logopädie und Orthopädie am SRH Klinikum Karlsbad vorgestellt werden, in deren Rahmen unter anderem klinische Parameter ermitteln werden sollen, um Risikopatienten schnell und zuverlässig zu identifizieren.

Schlüsselwörter:
HWS-Operation, sagittales Profil, Dysphagie, Dysphagie-Screening, Videofluoroskopie

Zitierweise:
Duchac S, Neuhäuser C, Pitzen T: Dysphagie als Komplikation nach einer Operation an der Halswirbelsäule. OUP 2020; 9: 264–271 DOI 10.3238/oup.2020.0264–0271

Summary: Dysphagia (swallowing disorders) is the most common complication after cervical spine surgeries. So far, there is no valid and reliable clinical examination instrument to reliably detect patients with swallowing disorders after cervical spine surgery. However, this is necessary in order to be able to initiate instrumental diagnostics and therapeutic management. In the context of this article, a structured overview of the current research is given, followed by an introduction of cooperational projects between speech therapy and orthopedics at SRH Klinikum Karlsbad. The aim of these projects is for example to identify clinical parameters in order to select patients at risk of dysphagia quickly and reliably.

Keywords: cervical spine surgery, sagittal profile, dysphagia, dysphagia-screening, videofluoroscopy

Citation: Duchac S, Neuhäuser C, Pitzen T: Dysphagia as complication after cervical spine surgery.
OUP 2020; 9: 264–271 DOI 10.3238/oup.2020.0264–0271

Stefanie Duchac: Studiengang Logopädie, B.Sc., SRH Hochschule für Gesundheit, Campus Karlsruhe, Karlsruhe

Christian Neuhäuser: SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie und Traumatologie, Karlsbad

Tobias Pitzen: SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie und Traumatologie, Karlsbad

Einleitung

Seit einigen Jahren rückt zunehmend in den Fokus, dass auch Operationen an der Halswirbelsäule (HWS) Dysphagien (Schluckstörungen) verursachen können und diese sogar die häufigsten Komplikationen nach diesen Eingriffen darstellen [3, 23]. Bei Betrachtung der anatomischen Nähe von Halswirbelsäule und schluckrelevanten Strukturen scheint es auch offensichtlich, dass Irritationen im Bereich der Wirbelsäule zu einer Einschränkung der Schluckfunktion für die Patienten führen können.

Dennoch ist die Dysphagie eine bislang wenig erforschte Komplikation und in der Literatur variieren die Angaben bezüglich Häufigkeit, Risikofaktoren und Verlauf dieser Komplikation deutlich. Uneinheitliche Definitionen und die Vielzahl der unterschiedlichen Studiendesigns (Einzelfallstudien, retrospektive Analysen medizinischer Datenbanken, retrospektive Datenanalysen bis hin zu wenigen prospektiven randomisiert kontrollierten Studien) tragen zu dieser großen Varianz bei. Die meisten Studien basieren auf subjektiven Patientenbefragungen [2, 29], doch zunehmend werden auch objektive instrumentelle Messverfahren eingesetzt [4, 9, 16].

Trotz der wachsenden Kenntnis über den Zusammenhang von Operationen an der HWS und Schluckstörungen, sind bislang in Deutschland kaum Strukturen vorhanden, die Logopäden oder eine systematische Überprüfung der Schluckfunktion fest in das Behandlungsmanagement dieser Patienten integrieren. Im Rahmen dieses Artikels sollen neben einem strukturierten Überblick über die aktuelle Forschungslage Kooperationsprojekte zwischen Logopädie und Orthopädie vorgestellt werden, in deren Rahmen unter anderem klinische Parameter ermittelt werden sollen, um Risikopatienten schnell und zuverlässig zu identifizieren.

Schluckstörungen

Sowohl die Diagnostik, als auch die Therapie von Schluckstörungen gehören in das Tätigkeitsfeld von Sprach- Sprech- Stimm- und Schlucktherapeuten oder Logopäden und sind aus dem therapeutischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Hierbei sind grundsätzlich Patienten mit den verschiedensten Grunderkrankungen betroffen. Neben akuten Erkrankungen wie Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Traumata führen auch degenerative neurologische Erkrankungen zur Beeinträchtigung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Auch Tumore im Kopf- und Halsbereich sind häufig ursächlich für Dysphagien. Hierbei kann zum einen die zentrale Steuerung des Schluckens durch Beeinträchtigungen relevanter Hirnareale gestört sein, zum anderen aber können periphere Einschränkungen durch Resektionen oder Veränderung der Morphologie zu Auffälligkeiten der Schluckphysiologie führen.

Schluckfunktion und
Dysphagie

Die Fähigkeit zu Schlucken ist ein hoch komplexer semi-reflexiver sensomotorischer Vorgang, bei dem eine Vielzahl an Strukturen, Hirnnerven und Muskeln dynamisch und mit höchster Koordination agieren müssen, um Speichel, Nahrung und Flüssigkeit (auch als Bolus bezeichnet) sicher und effektiv vom Mund in den Magen zu transportieren [25]. Durch die anatomische Besonderheit im Pharynx, wo sich Speise- und Atemweg kreuzen, müssen so bei jedem Schluck die Atemwege geschützt werden. Dies geschieht über verschiedene Verschlussmechanismen (Stimmlippen, Taschenfalten und Abkippung der Epiglottis) bei gleichzeitiger Öffnung des pharyngo-ösophagelaen Segments (PÖS), damit der Bolus vom Pharynx mittels einer koordinierten Kontraktionswelle in den Ösophagus ausgetrieben werden kann [25].

Eine Dysphagie ist demnach durch eine Unterbrechung der präzisen Aktivierungsmuster von Nerven und Muskeln charakterisiert, die normalerweise zu einem effektiven und funktionierenden Bolusfluss führen. Ein Leitsymptom ist Penetration/Aspiration (Penetration = Eindringen bis auf die Ebene der Stimmlippen, Aspiration = Eindringen bis unterhalb der Stimmlippen). Dies kann durch einen mangelnden Verschluss des Larynx verursacht werden. Ein weiteres Leitsymptom ist das Auftreten von Residuen, also der Verbleib von Speichel, Nahrung oder Flüssigkeit im Pharynx. Dies kann z.B. durch eine eingeschränkte Öffnung des pharyngo-ösophagealen Segments verursacht werden. Hierbei kann der Bolus nicht effektiv vom Rachen in die Speiseröhre transportiert werden. Es verbleiben Residuen im Pharynx, die entweder über Nachschlucken oder Expektorieren gereinigt werden müssen [25].

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6