Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Dysphagie als Komplikation nach einer Operation an der Halswirbelsäule
Schnittstelle zwischen Logopädie und Orthopädie

Für jedes Leitsymptom können verschiedene biomechanische und schluckphysiologische Beeinträchtigungen verantwortlich sein und um gezielt therapeutisch an der Schluckstörung arbeiten zu können, ist eine grundlegende Kenntnis über die zugrundliegenden Einschränkungen notwendig [5].

Auswirkungen von
Schluckstörungen

Die Fähigkeit zu Schlucken ist einerseits für die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme essentiell, trägt andererseits jedoch auch entscheidend zur Lebensqualität bei, demnach können Dysphagien zu massiven Einschränkungen führen. Die Auswirkungen von Dysphagien sind vielfältig. Neben der Funktionsebene können Patienten vor allem auch in den Bereichen Aktivität und Partizipation massiven Leidensdruck empfinden. Gerade die Patienten mit Schluckstörungen nach Operation an der HWS leiden häufig besonders unter dem Auftreten von Schluckstörungen, da sie ansonsten in der Regel mobil sind, und daher an einem gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Demnach kann der Schluck entweder hinsichtlich der Sicherheit oder der Effektivität oder einer Kombination aus beidem beeinträchtigt sein. Ist die Effektivität der Schluckfunktion beeinträchtigt, kann es in der Folge zu einem ungewollten Gewichtsverlust, zu Malnutrition oder auch zu Dehydration kommen. Ist die Sicherheit des Schluckens beeinträchtigt, kann es in der Folge zu schwerwiegende Komplikationen wie bspw. einer Aspirationspneumonie kommen. Diese Komplikationen können zu einem längeren Krankenhausaufenthalt und erhöhten Kosten führen [27].

HWS-OP und Dysphagie

Der funktionelle Zusammenhang von Halswirbelsäule (HWS) und Schluckfunktion bzw. Schluckstörungen rückt seit einigen Jahren zunehmend in den Fokus des Interesses der klinisch-wissenschaftlichen Forschung. Lange Zeit galten Schluckstörungen bei Patienten mit Erkrankungen der Halswirbelsäule als seltene Komplikation. Und auch aktuelle Studien stellen immer wieder fest, dass viele Verläufe leichtgradig und passager zu sein scheinen, es jedoch schwere und langwierige Verläufe gibt [16, 24]. Es wird von multifaktoriellen Ursachen ausgegangen, die zu einer postoperativen Dysphagie führen können. Sowohl Nervenschädigungen durch die Operation selbst, als auch postoperative Schwellungen werden immer wieder beschrieben [26].

Kostas et al. explorierten in ihrer Studie die isolierte Dysphagie mit 9,5 % als häufigste postoperative Komplikationen nach einer ACDF Operation, insbesondere nach einer Mehretagenversorgung. Grundsätzlich gehen die Autoren davon aus, dass die Häufigkeit postoperativer Komplikationen nach ventralen HWS-Eingriffen von Wirbelsäulenchirurgen unterschätzt werde, zumal die Dysphagie ein häufig „subjektives“ Symptom sei und eine validierte Erfassung auch in Studien anderer Arbeitsgruppen nicht durchgeführt worden sei [10]. Eingriffe an der HWS können das sagittale Profil der HWS und damit die Schluckphysiologie beeinflussen. So kann z.B. eine Verkleinerung des O-C/2 Winkels infolge einer Fusion in Flexion zu einer Verkleinerung des oropharyngealen Volumens und in der Folge zu Dysphagie und Dyspnoe führen [17]. Während die Einflüsse der Fusionen im occipito-cervicalen Bereich auf mögliche mechanische und funktionelle Störungen des Schluckakts beschrieben sind, liegen bislang nur wenige Daten zur Korrelation zwischen dem sagittalen prä- und postoperativen Profil der mittleren und unteren Halswirbelsäule und dem Auftreten einer postoperativen Dysphagie vor. Ein interessanter Aspekt ergibt sich auch aus der Arbeit von Liu et al., dass eine Überkorrektur bzw. Verstärkung der patientenindividuellen Lordose zu einer Vorwölbung der Rachenhinterwand und in der Folge zu einer Einengung und Funktionsstörung von Pharynx und Larynx führen könne. Eine signifikante Korrelation ergab sich in einer Studie zwischen dem C2-C7 Angle und den Auftreten einer postoperativen Dysphagie. Es wird die Arbeit von Tian et al. zitiert, in der empfohlen wurde, aus diesem Grund eine Überkorrektur des sagittalen Alignements und damit die Entwicklung einer postoperativen Dysphagie zu vermeiden [11, 28] (Abb. 1–2).

Zusammenhang von HWS und Schluckfunktion

Die Halswirbelsäule bildet mit dem Kiefergelenk sowie den direkt für die Bewegung zuständigen Kaumuskeln, den drei Schichten der hinteren Nackenmuskulatur, der supra- und infrahyoidale Muskulatur, dem Hyoid, dem M. sternocleidomastoideus und dem Schultergürtel (inkl. Clavicula mit Sternum und dem oberen Scapularand) gemeinsam eine komplexe kinematische Kette [30].

Bewegungen im Kiefergelenk (Mundöffnung) erfordern bei ruhiger Kopfhaltung eine Stabilisierung in den Kopfgelenken durch eine kompensatorische Anspannung der Nackenmuskulatur. Bei einer Reklination des Kopfes wiederum ist eine Aktivierung der Kaumuskeln notwendig, um den Mund geschlossen zu halten [30]. Diese komplexen Zusammenspiele von Nerven und Muskeln machen verschiedene risikobehaftete anatomische Strukturen deutlich, die bei einer ventralen oder auch einer dorsalen Operation der Halswirbelsäule beschädigt werden können. Es wird vermutet, dass es für schmerzempfindliche (nozizeptive) Störsignale aus der Peripherie ein Leichtes wäre, die Koordination von Kopf- und Kieferbewegungen aus der Balance zu bringen [19].

Zudem bewegen sich während des Schluckens einzelne Segmente der HWS im Millimeterbereich [15]. Mittels der dynamischen Röntgenschluckuntersuchung Videofluoroskopie (VFSS) wurden von Mekata et al. an jungen, gesunden Probanden die Bewegungen der einzelnen Wirbelkörper während der oralen Phase (Kauen und Bolusvorbereitung im Mund) und pharyngealen Phase (Schluckinitiierung und Transport des Bolus durch den Pharynx in den Ösophagus) des Schluckens gemessen und es zeigte sich, dass während der pharyngealen Phase die Wirbel C1, C2 und C3 flektiert, wohingegen C5 und C6 extendiert waren. Die einzelnen Wirbelkörper verschieben sich in verschiedene Freiheitsgrade (ventral, dorsal, cranial und kaudal). Die Autoren schlussfolgern, dass sich die Halswirbelsäule bewegt, um während des Schluckens die physiologische Lordose zu reduzieren [15]. Diese Ergebnisse lassen im Umkehrschluss vermuten, dass eine Einschränkung dieser Bewegungsfähigkeit der Wirbelkörper durch Fixierung oder Versteifung auch Auswirkungen auf die biomechanischen Parameter des Schluckens haben könnte.

Inzidenz, Risikoparameter und Prävention von postoperativen Dysphagien

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