Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Dysphagie als Komplikation nach einer Operation an der Halswirbelsäule
Schnittstelle zwischen Logopädie und Orthopädie

Die beiden existierenden systematischen Reviews von Cho et al. [3] und Riley et al. [24] geben hinsichtlich der Inzidenz von Schluckstörungen nach Operationen an der HWS eine enorme Streuung an (2 %–79 %), basierend auf den unterschiedlichen Definitionen von Dysphagie. Das Dysphagierisiko nach einer Operation an der HWS ist demnach unmittelbar nach der Operation am höchsten, innerhalb eines Monats sinkt diese Rate und liegt zwischen 50 % und 56 %, nach Ablauf eines Jahres bildet sich ein Plateau zwischen 13 % und 21 % [3, 24].

Häufig sind die Dysphagien also passager, es gibt jedoch auch extrem lange und komplizierte Verläufe, welche die Patienten deutlich in ihrer Lebensqualität beeinträchtigen und mit medizinischen Komplikationen wie Mangelernährung und aspirationsbedingten Lungenentzündungen einhergehen [16, 22].

Der Einfluss von Faktoren wie Geschlecht, Alter, Zugang (ventral oder dorsal), Anzahl der operierten Segmente, Raucherstatus, GERD, Hypertension, Operationsdauer sowie vorbestehenden Schluckbeschwerden werden häufig im Hinblick auf das Entstehen einer Dysphagie hin untersucht [4, 9, 18, 21]. Allerdings besteht in den bisherigen Publikationen kein Konsens über die Relevanz einiger der Faktoren. Beispielsweise wurde in einigen Studien Frauen mit einem höheren Dysphagierisiko identifiziert, in anderen Studien wurden Männer mit einem höheren Risiko beschrieben [29].

Das Dysphagierisiko scheint bei Operationen anzusteigen, in welchen die Segmente C4 oder C5 involviert waren [22]. Ebenso führen Operationen an 2 oder mehreren Segmenten, der Einsatz von Platten, eine längere Anästhesie- und Operationszeit signifikant häufiger zu postoperativen Dysphagien [22, 29]. Faktoren wie Alter, Geschlecht, Hypertension, BMI, postoperative Weichteilschwellungen, Intubationsparameter zeigten sich entweder nicht als signifikante Risikofaktoren oder werden kontrovers diskutiert [9, 21, 29].

Um das Risiko einer postoperativen Dysphagie zu minimieren, können während der Operation bereits präventive Maßnahmen umgesetzt werden. So konnte ein Reduzieren des endotrachealen Cuffdrucks, die lokale Irrigation mit Methylprednisolon sowie eine umsichtige pharyngelae/ösophageale Retraktion die Inzidenz von Dysphagien reduzieren [7]. Neben anatomischen Kenntnissen sollten auch operative Faktoren wie Schnitt-Naht, der Einsatz eines Senior-Operateurs (OP-Dauer), der Einsatz von Low Profile Platten in die Planung und Durchführung von HWS-Operationen als präventive Maßnahmen einbezogen werden.

Die Kenntnis über Risikofaktoren, die möglicherweise das Auftreten einer postoperativen Schluckstörung begünstigen, können bereits vor der Operation zu einer umfassenden Aufklärung der Patienten und zielgerichteten Planung hinsichtlich eines möglichen intensivmedizinischen Versorgungsbedarfs sowie eines ressourcenorientierten Einsatzes durch die Logopädie führen.

Erfassen von Dysphagien nach HWS-OP

Die große Streuung bezüglich der Inzidenz kann vor allem mit der methodischen Varianz der zugrundeliegenden Studien erklärt werden. So wird bspw. der Begriff Dysphagie zumeist nicht eindeutig definiert. In einigen Studien wird eine Dysphagie angenommen, sobald der Patient subjektiv von Einschränkungen berichtet, in anderen Studien wird eine Dysphagie diagnostiziert, wenn eine Aspiration vorliegt, die durch ein bildgebendes Verfahren bestätigt wurde [4].

Die meisten publizierten Studien (auch zu Inzidenz und Risikofaktoren) basieren im Bereich der HWS-operierten Patienten auf subjektiven Patienteneinschätzungen. Eine Vielzahl der veröffentlichten Studien setzten den Bazaz-Dysphagia-Score ein [2]. Es handelt sich hierbei um eine subjektive Einschätzung von Patienten bezüglich der Häufigkeit von Schwierigkeiten mit dem Schlucken von Flüssigkeiten bzw. fester Kost (Tab. 1). Gibt ein Patient an, keine Schluckbeschwerden zu haben, wird dies mit ‚keine Dysphagie’ bewertet. Die Dysphagie gilt als „leichtgradig“, wenn ein Patient nur selten auftretende Schwierigkeiten angibt. Die Patienten selbst werten hier die Schluckstörung nicht als gravierendes Problem. ‚Mittelschwere’ Dysphagien werden als gelegentliche Beschwerden mit spezifischen Nahrungsmitteln (beispielsweise Brot oder Steak) definiert. Die Definition für ‚schwere’ Dysphagie wurde als ‚häufige Schluckbeschwerden bei einer Vielzahl der Nahrungsmittel’ (Flüssigkeiten und feste Konsistenz) festgelegt [2]. Obwohl er sehr häufig eingesetzt wird, wurde dieser Score bislang nicht validiert.

Studien haben zudem gezeigt, dass subjektive Patienteneinschätzungen nicht reliabel eine Schluckstörung detektieren können, demnach sollte die Nutzung dieses oder ähnlicher Scores für die alleinige Erfassung von Schluckstörungen kritisch betrachtet werden [26].

Neben den subjektiven Patientenbefragungen, um Schluckstörungen zu erfassen, sollten auch klinische Verfahren eingesetzt werden. Diese sollte im ersten Schritt dazu dienen, mögliche Risikopatienten zu identifizieren. Durch Schluck-Screenings ist es möglich, innerhalb einer bestimmten Patientenpopulation Patienten zu identifizieren, die weiterführende Diagnostik und ggf. Therapie benötigen. Bislang gibt es lediglich im Bereich des akuten Schlaganfalls Empfehlungen zu strukturierten Vorgehensweisen. Bevor diese jedoch auf eine andere Population übertragen werden oder adaptiert werden können, müssen sie auf Validität und Reliabilität hin überprüft werden. Bislang gibt es keine speziell für den Einsatz bei HWS-operierten Patienten validierte Dysphagie-Screening.

Ergibt sich ein Verdacht auf eine bestehende Problematik, können Logopäden im Rahmen einer klinischen Untersuchung die Schluckfunktion überprüfen. Hierbei werden neben sensorischen und motorischen Anteilen des Schluckens, auch mittels klinischen Schluckversuchen Verdachtsdiagnosen über das Vorhandensein einer Schluckstörung erstellt [5].

Um jedoch die Biomechnanik des Schluckens beurteilen zu können, ist die Diagnostik durch bildgebende Verfahren zwingend erforderlich. Diese müssen bestimmte Eigenschaften besitzen, sowohl um die relevanten Strukturen, aber auch die komplexen, zeitlich schnellen und hochgradig aufeinander abgestimmten koordinierten Bewegungsabläufe während des Transports von Speisen und Flüssigkeiten durch den Schlucktrakt darstellen zu können [12]. Das bislang einzig gängige Verfahren, mit dem diese biomechanischen Eigenschaften des Schluckens identifizierbar sind, ist die Videofluoroskopie des Schluckens (VFSS). Bei diesem dynamischen radiographischen Verfahren (Röntgenschluckuntersuchung) kann der Patient mittels einer Pulsfrequenz von mindestens 25–30 Pulsen pro Sekunde (pps) durchleuchtet werden. Durch den lateralen Strahlengang können einige schluckrelevante Aspekte erfasst und die Schluckfunktion für verschiedene kontrastmittelhaltige Konsistenzen untersucht werden. Die Untersuchung im Strahlengang von posterior nach anterior (p-a) ermöglicht eine gezielte Bewertung der Symmetrie der schluckrelevanten Strukturen sowie ein Screening des Ösophagus [5, 12].

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