Arzt und Recht - OUP 05/2016

Facharztstandard während Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft*

Uwe Schulte-Sasse, Heilbronn und Bernhard Debong, Karlsruhe1

Der nachfolgende Beitrag beruht auf Vorträgen der Autoren auf den Chefarztseminaren der Arbeitsgemeinschaft für ArztRecht. Es wird die Organisationsverantwortung des Krankenhausträgers von der Auswahl-, Einteilungs- und Überwachungsverantwortung des Chefarztes abgegrenzt. Darüber hinaus werden die Pflichten des Arztes im Bereitschaftsdienst und in der Rufbereitschaft dargestellt.

Nach § 630 a Abs. 2 BGB hat die Behandlung eines Patienten nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber lediglich kodifiziert, was auch schon vor dem Inkrafttreten des sog. Patientenrechtegesetzes galt und unverändert weitergilt: Der Arzt schuldet dem Patienten eine Behandlung, die dem Standard eines sorgfältig arbeitenden Facharztes in der Situation des behandelnden Arztes entspricht2.

Bei einer (stationären) Krankenhausbehandlung muss dieser Facharztstandard für jedes an der Behandlung des Patienten beteiligte Fachgebiet durchgängig vom Zeitpunkt der Aufnahme bis zur Entlassung des Patienten auch nachts sowie am Wochenende und an Feiertagen gewährleistet sein. Dabei ist jedoch anerkannt, dass aufgrund der Begrenzung der wirtschaftlichen Mittel und im Hinblick auf personelle Gegebenheiten nicht zu jeder Tageszeit, am Wochenende sowie an Sonn- und Feiertagen die gleiche Besetzung zu erfolgen hat wie während der regulären Dienstzeiten. Mit anderen Worten: Das in den deutschen Krankenhäusern seit Jahrzehnten praktizierte System von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft nachts, am Wochenende sowie an Sonn- und Feiertagen ist auch haftungsrechtlich unter dem Aspekt des durchgängig zu gewährleistenden Facharztstandards grundsätzlich anerkannt3.

1. Die Dienststruktur liegt in der Organisationsverantwortung des Krankenhausträgers

Für eine mangelhafte Dienststruktur haftet der Krankenhausträger aus eigenem Organisationsverschulden (§ 823 BGB). Zu den Aufgaben des Chefarztes gehört insoweit, den Krankenhausträger über Unzulänglichkeiten (z.B. Personalmangel) in seiner Abteilung zu informieren und auf Abhilfe zu drängen. Das muss nicht etwa „mit besonderem Nachdruck“ oder besonders „nachhaltig“ geschehen. Es reicht aus, dass dem Krankenhausträger die Situation im Krankenhaus bzw. der Abteilung bekannt ist4.

Dabei ergeben sich gerade für die zugelassenen Krankenhäuser im Sinne des § 108 SGB V zunehmend auch Anforderungen unter dem Aspekt der Qualitätssicherung z.B. in Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses5.

Hat der Krankenhausträger angeordnet, dass zu den von ihm bestimmten Zeiten Bereitschaftsdienste und/ oder Rufbereitschaften zu erbringen sind, muss der Chefarzt der jeweiligen Abteilung regelmäßig die personelle Besetzung dieser Dienste organisieren. Hierfür trägt der Chefarzt die Auswahl-, Einteilungs- und Überwachungsverantwortung.

a) Beispielsfälle für die
Organisationsverantwortung
des Krankenhausträgers

aa) OLG Stuttgart6: Krankenhausträger muss in ausreichendem Maße fachkundiges Personal stellen.

Im dortigen Fall kam es wegen eines grob fehlerhaften Verhaltens zweier Nachtschwestern auf einer geburtshilflichen 80-Betten-(Beleg-)Abteilung, für die lediglich 2 Nachtschwestern eingeteilt waren und bei der auch der ärztliche Nachtdienst nur in einer Rufbereitschaft bestand, zu einem schwerwiegenden Geburtsschaden. Das Oberlandesgericht sah den Krankenhausträger als verpflichtet an, „… in ausreichendem Maße fachkundiges, nichtärztliches Personal zu stellen.“

Darüber hinaus haftete der Krankenhausträger auch deshalb, weil er die Aufnahme von Risikogeburten in die geburtshilfliche (Beleg-)Abteilung zugelassen und nicht unterbunden hatte, obwohl dort zusätzlich zu der ungenügenden nächtlichen Pflegesituation und nicht ausreichenden ärztlichen Anweisungen weder ein präsenter gynäkologischer Bereitschaftsdienst noch ein präsenter anästhesiologischer Bereitschaftsdienst vorhanden war.

bb) Arbeitsgericht Elmshorn7 – Unwirksame Kündigung eines Chefarztes wegen nicht rechtzeitiger Verfügbarkeit während der Rufbereitschaft

Der Chefarzt einer neonatologischen Abteilung (Perinatalzentrum Level 1) erhielt die fristlose Kündigung mit der Begründung, er habe pflichtwidrig den Hintergrunddienst für die Kinderklinik von seinem rund 60 km von der Klinik entfernten Wohnort aus geleistet. Es sei ihm daher nicht möglich gewesen, kurzfristig innerhalb von rund 15 Minuten in der Klinik zu sein. Hierdurch habe er bewusst Schäden für Leben und Gesundheit der Patienten in Kauf genommen. Es hätte zwingend ein Neonatologe anwesend bzw. in kurzer Zeit verfügbar sein müssen.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigung als unwirksam erachtet. Zunächst hat es darauf hingewiesen, dass der Chefarzt während der Rufbereitschaft seinen Aufenthaltsort frei bestimmen durfte und nicht verpflichtet war, im Alarmierungsfall innerhalb von 15 oder 20 Minuten die Arbeit aufzunehmen. Wenn der Krankenhausträger in dem Bereich der Neonatologie eine zügigere Arbeitsaufnahme einfordern wollte, z.B. eine Arbeitsaufnahme innerhalb von 20–30 Minuten, hätte er das von ihm vorgegebene System der Dienste um einen Bereitschaftsdienst erweitern müssen. Der Chefarzt hätte dann diese Position organisatorisch mit einem Arzt besetzen müssen. Dies hatte der Krankenhausträger jedoch nicht getan.

cc) Landgericht Mainz8 Persönliche Haftung des Klinik-Geschäftsführers für die insuffiziente Organisation der postoperativen Nachsorge

In dem vom Landgericht Mainz entschiedenen Fall kam es nach einem plastischen Eingriff am Gesicht einer Patientin (Oberlidstraffung, Unterlidstraffung, Halsstraffung, Facelift) postoperativ zu groben Fehlern der Nachtwache. Dadurch erlitt die Patientin einen irreparablen Hirnschaden. Als einziges medizinisches Personal stand in der dortigen Klinik eine Medizinstudentin im 10. Semester zur Verfügung. Das Landgericht Mainz hat u.a. den Geschäftsführer der Klinik persönlich zu Schadensersatzzahlungen wegen Organisationsverschuldens verurteilt, weil er für die Organisation der Klinik und damit auch der postoperativen Betreuung der Patientin verantwortlich war. Den Einwand des Klinik-Geschäftsführers, es können an eine Klinik der „Minimalversorgung“, wie es die dortige Klinik gewesen sei, nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie an eine Klinik der Maximalversorgung oder Universitätsklinik, hat das Landgericht Mainz nicht gelten lassen. Zwar sei dies im Grundsatz richtig, bedeute allerdings nicht, dass die Klinik ihren eigenen Standard setzen könne. Eine Klinik, die nicht Klinik der Maximalversorgung ist, könne nicht alle medizinischen Leistungen anbieten und wird dies im Zweifel auch nicht tun. Wenn sie es tut, obwohl sie nicht das geeignete Personal hat, um die entsprechende medizinische Leistung zu erbringen, geht sie das Risiko ein, sich gegenüber dem Patienten schadensersatzpflichtig zu machen9.

dd) OLG Zweibrücken10: Haftung des Krankenhausträgers für risikobehaftete Organisation des anästhesiologischen Bereitschaftsdienstes im Falle einer krankenhausübergreifenden Dienststruktur

Der Krankenhausträger betrieb zwei Krankenhäuser an den Standorten A und B. Eine Anästhesieabteilung gab es nur am Standort des größeren Hauses in A. Im kleineren Haus gab es eine belegärztliche Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe. Die Anästhesiebereitschaft für diese Geburtshilfe wurde gleichzeitig für beide Standorte von den Ärzten der Anästhesieabteilung in A wahrgenommen. Die Chefärztin der Anästhesieabteilung hatte dem Krankenhausträger schriftlich mitgeteilt, dass bei der Versorgung geburtshilflicher Notfälle am Standort B mit einer Anfahrtszeit des Bereitschafts-Anästhesisten von 20–40 Minuten gerechnet werden müsse, was schon seit Jahren nicht mehr den geltenden Mindestanforderungen für geburtshilfliche Abteilungen entspräche. Gleichwohl ließ der Krankenhausträger die Dienststruktur unverändert. Nach einem Nabelschnurvorfall musste dann im Krankenhaus am Standort B eine Notsectio vorgenommen werden, was wegen verspätetem Eintreffen des Anästhesisten aus A nicht innerhalb der E-E-Zeit von 20 Minuten, sondern erst nach mindestens 37 Minuten erfolgt ist. Das Oberlandesgericht hat neben dem gynäkologischen Belegarzt den Krankenhausträger zum Schadensersatz wegen der mangelhaften Organisation des anästhesiologischen Bereitschaftsdienstes verurteilt, weil dieser Organisationsfehler die Überschreitung der E-E-Zeit der Notsectio zumindest mitverursacht hatte und sich zum Behandlungszeitpunkt „schlechterdings nicht ereignen“ durfte.

b) Beispielsfälle für die Auswahl-, Einteilungs- und Überwachungsverantwortung des Chefarztes

aa) BGH11: Einteilung einer Assistenzärztin im 2. Weiterbildungsjahr als Gynäkologin im Bereitschaftsdienst der geburtshilflichen Abteilung nicht fehlerhaft Der Bundesgerichtshof erachtete es in diesem Fall nicht als fehlerhaft, eine Ärztin im 2. Weiterbildungsjahr zum Nachtdienst in der geburtshilflichen Abteilung einzusetzen, obwohl diese nach Teilnahme an lediglich 3 oder 4 Beckenendlagengeburten die für die Leitung einer Problemgeburt des höchsten Schwierigkeitsgrades erforderliche umfassende Erfahrung und manuelle Übung noch nicht besaß. Die Einteilung der Ärztin in der Weiterbildung für den Nachtdienst war nicht fehlerhaft, weil die Schwangere unerwartet in der Klinik erschien, so dass sich diese hierauf nicht einstellen musste und es ausreichend war, wenn bei unerwarteten geburtshilflichen Problemfällen sofort ein erfahrener Facharzt hinzugezogen werden und sich unverzüglich einfinden konnte. Kommt es in einem solchen Fall zu einem die Fähigkeiten des in der Weiterbildung befindlichen Arztes übersteigenden Problem, liegt kein organisatorischer Fehler vor. Dann ist auch eine Beweislastumkehr zu Lasten der Behandlungsseite nicht berechtigt. Denn die Beweislastumkehr ist für Fälle fehlerhaften Einsatzes eines Arztes in Weiterbildung oder Ausbildung in der Klinik entwickelt worden12.

Diese an sich begrüßenswerte Entscheidung des Bundesgerichtshofs kann jedoch nicht über die Problematik hinwegtäuschen, dass der Chefarzt bei Zweifeln am Ausbildungsstand junger Kollegen schon aus Gründen der Patientensicherheit für die Überwachung des Arztes in der Weiterbildung durch einen Facharzt sorgen muss13.

bb) OLG Hamm14: Verletzung der Auswahl- und Überwachungspflicht des Chefarztes bei Nichtreaktion auf Diagnosefehler mehrerer nachgeordneter Ärzte

In diesem Fall hatten die im Bereitschaftsdienst befindlichen Ärzte die dynamischen Veränderungen in einem Kontroll-EKG im Vergleich zum Aufnahme-EKG übersehen und deshalb den Patienten – entgegen dem Facharztstandard – nicht unverzüglich zur Herzkatheteruntersuchung in eine Spezialklinik überwiesen. Das Oberlandesgericht hat auch den Chefarzt der Inneren Abteilung zu Schadensersatz verurteilt, weil dieser dafür Sorge zu tragen habe, „dass ein von ihm eingesetzter Arzt für die Behandlungsmaßnahmen ausreichend qualifiziert ist und die für ein selbstständiges Arbeiten allgemein zu fordernde fachliche Qualifikation besitzt.“ Diese Sorgfaltspflichten habe der Chefarzt im entschiedenen Fall verletzt. Aufgrund der vom gerichtlichen Sachverständigen festgestellten Kette von schweren Behandlungsfehlern – an 3 Behandlungstagen waren 3 unterschiedlichen, in der Abteilung tätigen Ärzten fundamentale Diagnosefehler bei der Auswertung von EKGs unterlaufen – und der gleichzeitigen Forderung des Sachverständigen, dass jeder am Bereitschaftsdienst teilnehmende Arzt sichere Kenntnisse in der Beurteilung eines EKGs haben muss, stand für das Oberlandesgericht indiziell fest, dass die hier im Rahmen der Behandlung des Patienten tätigen Ärzte nicht ordnungsgemäß ausgewählt und überwacht wurden.

cc) Landgericht Augsburg15: Sorgfaltspflichtverletzung des Chefarztes, weil internistischer Assistenzarzt im Rahmen eines fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes eine chirurgische Komplikation nicht erkannt hat.

Das Landgericht Augsburg verurteilte den Chefarzt einer chirurgischen Abteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen. Während eines fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes hatte der diensthabende internistische Assistenzarzt bei einer frisch operierten Schilddrüsenpatientin postoperativ eine chirurgische Nachblutungskomplikation nicht rechtzeitig erkannt. Dadurch erlitt die Patientin einen hypoxischen Hirnschaden. Das Landgericht Augsburg lastete dem Chefarzt an, dass er es unterlassen habe, geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu treffen, dass das Bestehen von Nachblutungen nach Schilddrüsenoperationen während der postoperativen Nachsorge auch zu Bereitschaftsdienstzeiten so rechtzeitig erkannt wird, dass Schädigungen durch eine Kompression der Luftröhre wie bei der betroffenen Patientin vermieden werden. Die Verteidigung des Chefarztes, er habe eine mündliche Dienstanweisung gegeben, wonach die Bereitschaftsdienstärzte gehalten waren, schon bei geringsten Anzeichen für Komplikationen auf fachfremdem Gebiet den jeweiligen Hintergrunddienst zu verständigen, ließ das Landgericht nicht gelten. Denn eine solche Dienstanweisung gehe ins Leere, wenn der Bereitschaftsdienst vor Ort infolge eines Kenntnisdefizits auf dem für ihn fremden Fachgebiet Anzeichen einer gefährlichen Komplikation schon gar nicht als solche erkennt.

2. Arbeitsrechtliches Spiegelbild der straf- und haftungsrechtlichen Verantwortung

Nimmt ein Chefarzt seine Auswahl- und Einteilungsverantwortung mit dem Ergebnis wahr, dass er einen Arzt nicht (mehr) zum Bereitschaftsdienst oder zur Rufbereitschaft einteilt, kann dieser Arzt seine Einteilung zu den Diensten grundsätzlich nicht durch arbeitsgerichtliches Urteil erzwingen16. Es genügt die subjektiv nachvollziehbare Einschätzung durch den Chefarzt. Schon das mangelnde fachliche Vertrauen des Chefarztes in die Leistungsfähigkeit des nachgeordneten Arztes reicht aus, um diesen nicht zum Bereitschaftsdienst heranzuziehen. Ob der nachgeordnete Arzt objektiv untauglich ist, spielt keine Rolle. Bei unterschiedlicher Auffassung zwischen dem Chefarzt und dem nachgeordneten Arzt, der am Bereitschaftsdienst teilnehmen möchte, bedarf es deshalb keiner Beweisaufnahme über die Qualifikation des Arztes17.

Gehört zu den Aufgaben eines Oberarztes die selbstständige Ableistung von Rufbereitschaftsdiensten, können dessen fachliche Defizite zwar grundsätzlich eine (Änderungs-)Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem solchen Oberarzt rechtfertigen. Hierzu reicht jedoch die bloße Behauptung, der Oberarzt sei fachlich nicht in der Lage, Rufbereitschaftsdienste zu leisten, weshalb er im Rahmen eines Rufbereitschaftsdienstes selbst andere Oberärzte anrufe und diese um Rat bitte, nicht aus18. Ebenso wenig reicht die bloße Behauptung des Krankenhausträgers, der Oberarzt sei nur dann zum Rufbereitschaftsdienst eingeteilt worden, wenn die anderen Oberärzte in ihrer Freizeit freiwillig und überobligatorisch für evtl. Ratschläge zur Verfügung gestanden hätten, weil das alles keine Rückschlüsse auf eine erheblich hinter den berechtigten Erwartungen des Krankenhausträgers zurückbleibende Leistung des Oberarztes zulässt.

3. Pflichten des Arztes im
Bereitschaftsdienst

Im Zivilrecht gilt ein objektiver Sorgfaltsmaßstab. Daher muss auch ein Assistenzarzt im Bereitschaftsdienst ungeachtet seiner subjektiven Kenntnisse und Fertigkeiten die Sorgfalt gewährleisten, die von einem gewissenhaft arbeitenden Facharzt in derselben (Bereitschaftsdienst-)Situation erwartet werden kann und darf. Der Arzt im Bereitschaftsdienst muss also seine Kenntnisse und Fähigkeiten zunächst ordnungsgemäß einsetzen und – nur im Hinblick hierauf ist das System von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft überhaupt zu rechtfertigen – den in der Rufbereitschaft befindlichen Facharzt befragen bzw. hinzuziehen, wenn er die weitere fachärztliche Versorgung des Patienten nicht mehr alleine gewährleisten kann. Ob er genau hierzu in der Lage ist und damit zum Bereitschaftsdienst überhaupt eingeteilt werden kann, obliegt der Beurteilung und Verantwortung des Chefarztes der jeweiligen Abteilung. Dabei müssen Verhaltensmaßregeln für den Einzelfall nicht grundsätzlich im Detail fixiert werden. Es genügt die Festlegung der Weisungsbefugnis und grundsätzlichen Verantwortlichkeit für die Pflichtenkreise des Einzelnen, während Verhaltensmaßregeln im Detail nicht Gegenstand allgemeiner Anordnungen sein müssen. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat hierzu in einem Urteil vom 18.4.2006 wörtlich ausgeführt19:

„Wer sich in welcher Situation grundsätzlich wie zu verhalten hat, ergibt sich aus der Struktur der Arbeitsteilung und der Verantwortungsübernahme. So ist es selbstverständlich, dass beispielsweise die Hebamme den Arzt und der Assistenzarzt den Facharzt zu rufen hat, wenn zur Beherrschung der Situation die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen und die eigenen Kompetenzen überschritten würden. Die Frage, ob dann im konkreten Einzelfall eine solche Situation gegeben war und korrekt gehandelt worden ist, ist für diesen Einzelfall zu beantworten.“

Gleichwohl empfiehlt es sich, für besonders gefahrenträchtige Situationen oder aus gegebenem Anlass (z.B. in der eigenen Abteilung vorgekommene Mängel) schriftliche Verhaltensanweisungen zu erteilen, auch wenn dadurch die spezifische Gefahr des Rufdienstes, dass der Arzt im Bereitschaftsdienst die Gefahr nicht erkennt und den Hintergrunddienst nicht alarmiert, nicht sicher beseitigt werden kann.

Unterläuft einem Assistenzarzt im Bereitschaftsdienst ein Fehler, kann er dafür unter Umständen unter dem Gesichtspunkt eines Übernahmeverschuldens zur Verantwortung gezogen werden. Die Bejahung eines Übernahmeverschuldens hängt davon ab, ob der Arzt nach den bei ihm vorauszusetzenden Kenntnissen und Erfahrungen Bedenken gegen die Übernahme der Verantwortung für die Behandlung (im Bereitschaftsdienst) hätte haben und eine Gefährdung des Patienten hätte voraussehen müssen. Es kommt darauf an, ob er sich unter den besonderen Umständen des Falles darauf verlassen durfte, dass die vorgesehene Behandlung ihn nicht überforderte20. Ist für Komplikationen dadurch Vorsorge getroffen worden, dass der Oberarzt zu Hause in Rufbereitschaft steht, darf der Assistenzarzt im Bereitschaftsdienst auf die Funktionstüchtigkeit und Erprobtheit dieser Organisation vertrauen, es sei denn, er musste aufgrund konkreter Anhaltspunkte wissen, dass der Oberarzt im Fall von Komplikationen, mit denen nach Lage der Dinge gerechnet werden musste, nicht rechtzeitig zur Stelle sein werde. Der Bundesgerichtshof hat ein solches Übernahmeverschulden diskutiert – jedoch letztlich nicht entschieden – bei einem gynäkologischen Assistenzarzt, der Nachts die eigenverantwortliche Leitung einer Geburt übernommen und bei einem Kind, das mit enger Nabelschnurumschlingung um den Hals geboren wurde, eine Sauerstoffbeatmung mit Maske vorgenommen hatte, aber eine notwendige Intubation des Kindes unterließ, weil er die Intubationstechnik nicht beherrschte.

Allerdings erwartet die Rechtsprechung gerade von einem ärztlichen Berufsanfänger, dass er gegenüber seinen Fähigkeiten besonders kritisch und sich der unter Umständen lebensbedrohenden Gefahren für einen Patienten bewusst ist, die er durch gedankenloses Festhalten an einem Behandlungsplan, durch Mangel an Umsicht oder durch das vorschnelle Unterdrücken von Zweifeln heraufbeschwören kann. Es ist daher von einem Berufsanfänger jedenfalls zu fordern, dass er in schwierigen Behandlungssituationen zumindest den Rat seiner erfahrenen Fachkollegen einholt21.

Wenn dann aber ein Arzt im Bereitschaftsdienst aufgrund seines Ausbildungsstandes noch nicht in der Lage ist, in einer komplexen Situation, in der sich die Befundlage nach einer komplikationslosen Geburt zunehmend verschlechterte und die Blutgasanalyse einen bedrohlichen Wert ergab, die richtigen medizinischen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist es nicht fehlerhaft, wenn dieser Assistenzarzt den Oberarzt anruft, um ihm die Entscheidung über das weitere Vorgehen zu überlassen. Der Arzt im Bereitschaftsdienst darf dann auf die ärztliche Beurteilung und auf die Anweisung des ihm vorgesetzten Oberarztes vertrauen. Der Arzt im Bereitschaftsdienst überträgt damit die Verantwortung für das weitere Vorgehen auf den Oberarzt in der Rufbereitschaft zurück, der in dieser Situation den Facharztstandard zu gewährleisten und die erforderlichen Maßnahmen in die Wege zu leiten hat22.

4. Pflichten des Arztes in der Rufbereitschaft

Ist für den in der Rufbereitschaft befindlichen Arzt bereits vor Dienstbeginn bei einem konkreten Patienten absehbar, dass es zu Komplikationen kommen könnte, die der im Bereitschaftsdienst befindliche Arzt nicht bzw. nicht sicher beherrschen kann, muss er dem im Bereitschaftsdienst befindlichen Arzt Verhaltens- und/oder Alarmierungsanweisungen geben.

Ebenso kann es zu den Aufgaben des Arztes in der Rufbereitschaft gehören zu erkennen, ob der Arzt im Bereitschaftsdienst ein aktuell zu bewältigendes medizinisches Problem angesichts seiner Aufgabenfülle überhaupt meistern kann23.

Schließlich beschränkt sich die Dienstpflicht eines in der Rufbereitschaft befindlichen Arztes nicht nur darauf, am Telefon für Rückfragen zur Verfügung zu stehen. Vielmehr kann es, je nach Situation und Qualifikation des im Bereitschaftsdienst befindlichen Arztes geboten sein, Anweisungen zu erteilen, in welchen Situationen (z.B. Notaufnahme eines Patienten in der Nacht, Aufnahme eines Patienten auf die Intensivstation usw.) der Arzt in der Rufbereitschaft zu informieren ist und es nicht dem (Assistenz-)Arzt im Bereitschaftsdienst zu überlassen, wann er aktiv wird und sich an den Facharzt im Hintergrund wendet.

Wird der in der Rufbereitschaft befindliche Arzt informiert oder alarmiert, muss er sich die Situation schildern lassen und die zur Gewährleistung des Facharztstandards erforderlichen Maßnahmen in die Wege leiten24. Dazu gehört dann auch die Entscheidung, ob die Anweisungen auf der Grundlage des geschilderten Sachverhalts telefonisch getroffen werden können oder das unverzügliche Aufsuchen des Patienten im Krankenhaus erforderlich ist.

Der in Rufbereitschaft befindliche Arzt muss sämtliche relevanten Tatsachen von dem Arzt im Bereitschaftsdienst abfragen! Schon Florence Nightingale hat in ihren „Notes on nursing25“ zu Recht darauf hingewiesen, dass es Tatsachen sind und nicht Meinungen, die abzufragen sind. Antworten wie die, dass es dem Patient „gut“ oder auch „schon besser“ geht, der Patient „stabil“ oder „ansprechbar“ sei, sind nichtssagend und damit für den Arzt in der Rufbereitschaft nicht hilfreich. Die Frage des Arztes in der Rufbereitschaft kann also nicht lauten „Wie geht’s dem Patienten?“. Vielmehr sind Tatsachen, konkrete Befunde usw. abzufragen, um sich ein verlässliches Bild von der Situation des Patienten machen zu können.

Wird der in der Rufbereitschaft befindliche Oberarzt von der Hebamme alarmiert und gebeten, ins Krankenhaus zu kommen, übernimmt dieser Oberarzt regelmäßig noch keine Verpflichtung, ärztlich tätig zu werden, wenn er die Hebamme zunächst anweist, sie solle ein engmaschiges CTG erstellen. Damit hält er sich noch als bloßer Ratgeber im Hintergrund. Ist die Anleitung zur engmaschigen Erstellung eines CTG sachgerecht, kann er insbesondere auch nicht für eine Entwicklung verantwortlich gemacht werden, die zwischen dieser Anweisung und seinem Eintreffen im Krankenhaus eintritt26.

Fussnoten

* Nachdruck aus ArztRecht 3/2016 mit freundlicher Genehmigung des Verlags für ArztRecht, Fiduciastraße 2, 76227 Karlsruhe, www.arztrecht.org

1 Prof. Dr. med. Uwe Schulte-Sasse, Heilbronn; Rechtsanwalt Dr. Bernhard Debong, Fachanwalt für Medizinrecht und Arbeitsrecht, Kanzlei für ArztRecht, Karlsruhe

2 BGH, Urteil vom 10.3.1992 – VI ZR 64/91 – ArztR 1992, 368ff

3 so z.B. OLG Frankfurt, Urteil vom 23.9.1993 – 1 U 226/89 – MedR 1995, 75ff

4 vgl. dazu Kern in Ratzel/Lissel, Handbuch des Medizinschadensrechts, § 3 Rdnr. 17 mit Nachweisen zur Rechtsprechung

5 z.B. Qualitätssicherungsrichtlinie zum Bauchaortenaneurysma (Bundesanzeiger AT 31.12.2014 B 7), in Kraft getreten am 1.1.2015, wonach bei der Versorgung von Patienten mit offen-chirurgisch oder endovaskulär behandlungsbedürftigem Bauchaortenaneurysma entweder ein eigenständiger fachärztlicher gefäßchirurgischer Bereitschaftsdienst im Haus oder binnen 30 Minuten ein fachärztlicher gefäßchirurgischer Rufbereitschaftsdienst am Patienten zur Verfügung stehen muss.

6 Urteil vom 20.8.1992 – 14 U 3/92 – ArztR 1994, 19ff

7 Urteil vom 8.8.2013 – 1 Ca 1807d/12

8 Urteil vom 15.4.2014 – 2 O 266/11 – vgl. dazu Besprechungsaufsatz Bruns, Zu wenig und zu schlecht ausgebildetes Personal – Der Klinik-Geschäftsführer haftet persönlich! – ArztR 2014, 285ff

9 Urteil vom 15.4.2014 a.a.O. Seite 288

10 Urteil vom 27.3.2012 – 5 U 7/08

11 Urteil vom 3.2.1998 – VI ZR 356/96 – ArztR 1998, 260

12 so ausdrücklich BGH a.a.O.

13 BGH, Urteil vom 27.9.1983 – VI ZR 238/81 – NJW 1984, 655 f

14 Urteil vom 1.9.2008 –3 U 245/07

15 Urteil vom 30.9.2004 – 3 KLs 400 Js 109903/01 – ArztR 2005, 205ff.; vgl. dazu auch Schulte-Sasse/Bruns, Fachübergreifender Bereitschaftsdienst – Lebensgefahr als Folge von Kosteneinsparungen – ArztR 2006, 116ff

16 so Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 13.5.1994 – 9 Sa 1555/93 – ArztR 1996,187ff

17 so ausdrücklich Hessisches Landesarbeitsgericht a.a.O.

18 so Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25.3.2014 – 6 Sa 357/13

19 Urteil vom 18.4.2006 – 8 U 107/05

20 so ausdrücklich BGH, Urteil vom 12.7.1994 – VI ZR 299/93 – NJW 1994, 3008f

21 so ausdrücklich BGH, Urteil vom 26.4.1988 – VI ZR 246/86 – ArztR 1989, 241ff

22 so OLG Düsseldorf, Urteil vom 17.3.2011 – 8 U 108/09

23 Dies ist bei Zuständigkeit eines Arztes im Bereitschaftsdienst für Notaufnahme, Bettenstationen und Intensivstation zumindest fraglich.

24 so OLG Düsseldorf, Urteil vom 17.3.2011 – 8 U 108/09

25 Florence Nightingale, Notes on nursing, What is and what is not, Dover Publications New York, 1969, S. 105ff

26 so OLG Koblenz, Urteil vom 5.2.2009 – 5 U 854/08 – ArztR 2011, 134

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