Arzt und Recht - OUP 05/2016

Facharztstandard während Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft*

Uwe Schulte-Sasse, Heilbronn und Bernhard Debong, Karlsruhe1

Der nachfolgende Beitrag beruht auf Vorträgen der Autoren auf den Chefarztseminaren der Arbeitsgemeinschaft für ArztRecht. Es wird die Organisationsverantwortung des Krankenhausträgers von der Auswahl-, Einteilungs- und Überwachungsverantwortung des Chefarztes abgegrenzt. Darüber hinaus werden die Pflichten des Arztes im Bereitschaftsdienst und in der Rufbereitschaft dargestellt.

Nach § 630 a Abs. 2 BGB hat die Behandlung eines Patienten nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber lediglich kodifiziert, was auch schon vor dem Inkrafttreten des sog. Patientenrechtegesetzes galt und unverändert weitergilt: Der Arzt schuldet dem Patienten eine Behandlung, die dem Standard eines sorgfältig arbeitenden Facharztes in der Situation des behandelnden Arztes entspricht2.

Bei einer (stationären) Krankenhausbehandlung muss dieser Facharztstandard für jedes an der Behandlung des Patienten beteiligte Fachgebiet durchgängig vom Zeitpunkt der Aufnahme bis zur Entlassung des Patienten auch nachts sowie am Wochenende und an Feiertagen gewährleistet sein. Dabei ist jedoch anerkannt, dass aufgrund der Begrenzung der wirtschaftlichen Mittel und im Hinblick auf personelle Gegebenheiten nicht zu jeder Tageszeit, am Wochenende sowie an Sonn- und Feiertagen die gleiche Besetzung zu erfolgen hat wie während der regulären Dienstzeiten. Mit anderen Worten: Das in den deutschen Krankenhäusern seit Jahrzehnten praktizierte System von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft nachts, am Wochenende sowie an Sonn- und Feiertagen ist auch haftungsrechtlich unter dem Aspekt des durchgängig zu gewährleistenden Facharztstandards grundsätzlich anerkannt3.

1. Die Dienststruktur liegt in der Organisationsverantwortung des Krankenhausträgers

Für eine mangelhafte Dienststruktur haftet der Krankenhausträger aus eigenem Organisationsverschulden (§ 823 BGB). Zu den Aufgaben des Chefarztes gehört insoweit, den Krankenhausträger über Unzulänglichkeiten (z.B. Personalmangel) in seiner Abteilung zu informieren und auf Abhilfe zu drängen. Das muss nicht etwa „mit besonderem Nachdruck“ oder besonders „nachhaltig“ geschehen. Es reicht aus, dass dem Krankenhausträger die Situation im Krankenhaus bzw. der Abteilung bekannt ist4.

Dabei ergeben sich gerade für die zugelassenen Krankenhäuser im Sinne des § 108 SGB V zunehmend auch Anforderungen unter dem Aspekt der Qualitätssicherung z.B. in Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses5.

Hat der Krankenhausträger angeordnet, dass zu den von ihm bestimmten Zeiten Bereitschaftsdienste und/ oder Rufbereitschaften zu erbringen sind, muss der Chefarzt der jeweiligen Abteilung regelmäßig die personelle Besetzung dieser Dienste organisieren. Hierfür trägt der Chefarzt die Auswahl-, Einteilungs- und Überwachungsverantwortung.

a) Beispielsfälle für die
Organisationsverantwortung
des Krankenhausträgers

aa) OLG Stuttgart6: Krankenhausträger muss in ausreichendem Maße fachkundiges Personal stellen.

Im dortigen Fall kam es wegen eines grob fehlerhaften Verhaltens zweier Nachtschwestern auf einer geburtshilflichen 80-Betten-(Beleg-)Abteilung, für die lediglich 2 Nachtschwestern eingeteilt waren und bei der auch der ärztliche Nachtdienst nur in einer Rufbereitschaft bestand, zu einem schwerwiegenden Geburtsschaden. Das Oberlandesgericht sah den Krankenhausträger als verpflichtet an, „… in ausreichendem Maße fachkundiges, nichtärztliches Personal zu stellen.“

Darüber hinaus haftete der Krankenhausträger auch deshalb, weil er die Aufnahme von Risikogeburten in die geburtshilfliche (Beleg-)Abteilung zugelassen und nicht unterbunden hatte, obwohl dort zusätzlich zu der ungenügenden nächtlichen Pflegesituation und nicht ausreichenden ärztlichen Anweisungen weder ein präsenter gynäkologischer Bereitschaftsdienst noch ein präsenter anästhesiologischer Bereitschaftsdienst vorhanden war.

bb) Arbeitsgericht Elmshorn7 – Unwirksame Kündigung eines Chefarztes wegen nicht rechtzeitiger Verfügbarkeit während der Rufbereitschaft

Der Chefarzt einer neonatologischen Abteilung (Perinatalzentrum Level 1) erhielt die fristlose Kündigung mit der Begründung, er habe pflichtwidrig den Hintergrunddienst für die Kinderklinik von seinem rund 60 km von der Klinik entfernten Wohnort aus geleistet. Es sei ihm daher nicht möglich gewesen, kurzfristig innerhalb von rund 15 Minuten in der Klinik zu sein. Hierdurch habe er bewusst Schäden für Leben und Gesundheit der Patienten in Kauf genommen. Es hätte zwingend ein Neonatologe anwesend bzw. in kurzer Zeit verfügbar sein müssen.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigung als unwirksam erachtet. Zunächst hat es darauf hingewiesen, dass der Chefarzt während der Rufbereitschaft seinen Aufenthaltsort frei bestimmen durfte und nicht verpflichtet war, im Alarmierungsfall innerhalb von 15 oder 20 Minuten die Arbeit aufzunehmen. Wenn der Krankenhausträger in dem Bereich der Neonatologie eine zügigere Arbeitsaufnahme einfordern wollte, z.B. eine Arbeitsaufnahme innerhalb von 20–30 Minuten, hätte er das von ihm vorgegebene System der Dienste um einen Bereitschaftsdienst erweitern müssen. Der Chefarzt hätte dann diese Position organisatorisch mit einem Arzt besetzen müssen. Dies hatte der Krankenhausträger jedoch nicht getan.

cc) Landgericht Mainz8 Persönliche Haftung des Klinik-Geschäftsführers für die insuffiziente Organisation der postoperativen Nachsorge

In dem vom Landgericht Mainz entschiedenen Fall kam es nach einem plastischen Eingriff am Gesicht einer Patientin (Oberlidstraffung, Unterlidstraffung, Halsstraffung, Facelift) postoperativ zu groben Fehlern der Nachtwache. Dadurch erlitt die Patientin einen irreparablen Hirnschaden. Als einziges medizinisches Personal stand in der dortigen Klinik eine Medizinstudentin im 10. Semester zur Verfügung. Das Landgericht Mainz hat u.a. den Geschäftsführer der Klinik persönlich zu Schadensersatzzahlungen wegen Organisationsverschuldens verurteilt, weil er für die Organisation der Klinik und damit auch der postoperativen Betreuung der Patientin verantwortlich war. Den Einwand des Klinik-Geschäftsführers, es können an eine Klinik der „Minimalversorgung“, wie es die dortige Klinik gewesen sei, nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie an eine Klinik der Maximalversorgung oder Universitätsklinik, hat das Landgericht Mainz nicht gelten lassen. Zwar sei dies im Grundsatz richtig, bedeute allerdings nicht, dass die Klinik ihren eigenen Standard setzen könne. Eine Klinik, die nicht Klinik der Maximalversorgung ist, könne nicht alle medizinischen Leistungen anbieten und wird dies im Zweifel auch nicht tun. Wenn sie es tut, obwohl sie nicht das geeignete Personal hat, um die entsprechende medizinische Leistung zu erbringen, geht sie das Risiko ein, sich gegenüber dem Patienten schadensersatzpflichtig zu machen9.

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