Arzt und Recht - OUP 05/2016

Facharztstandard während Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft*

dd) OLG Zweibrücken10: Haftung des Krankenhausträgers für risikobehaftete Organisation des anästhesiologischen Bereitschaftsdienstes im Falle einer krankenhausübergreifenden Dienststruktur

Der Krankenhausträger betrieb zwei Krankenhäuser an den Standorten A und B. Eine Anästhesieabteilung gab es nur am Standort des größeren Hauses in A. Im kleineren Haus gab es eine belegärztliche Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe. Die Anästhesiebereitschaft für diese Geburtshilfe wurde gleichzeitig für beide Standorte von den Ärzten der Anästhesieabteilung in A wahrgenommen. Die Chefärztin der Anästhesieabteilung hatte dem Krankenhausträger schriftlich mitgeteilt, dass bei der Versorgung geburtshilflicher Notfälle am Standort B mit einer Anfahrtszeit des Bereitschafts-Anästhesisten von 20–40 Minuten gerechnet werden müsse, was schon seit Jahren nicht mehr den geltenden Mindestanforderungen für geburtshilfliche Abteilungen entspräche. Gleichwohl ließ der Krankenhausträger die Dienststruktur unverändert. Nach einem Nabelschnurvorfall musste dann im Krankenhaus am Standort B eine Notsectio vorgenommen werden, was wegen verspätetem Eintreffen des Anästhesisten aus A nicht innerhalb der E-E-Zeit von 20 Minuten, sondern erst nach mindestens 37 Minuten erfolgt ist. Das Oberlandesgericht hat neben dem gynäkologischen Belegarzt den Krankenhausträger zum Schadensersatz wegen der mangelhaften Organisation des anästhesiologischen Bereitschaftsdienstes verurteilt, weil dieser Organisationsfehler die Überschreitung der E-E-Zeit der Notsectio zumindest mitverursacht hatte und sich zum Behandlungszeitpunkt „schlechterdings nicht ereignen“ durfte.

b) Beispielsfälle für die Auswahl-, Einteilungs- und Überwachungsverantwortung des Chefarztes

aa) BGH11: Einteilung einer Assistenzärztin im 2. Weiterbildungsjahr als Gynäkologin im Bereitschaftsdienst der geburtshilflichen Abteilung nicht fehlerhaft Der Bundesgerichtshof erachtete es in diesem Fall nicht als fehlerhaft, eine Ärztin im 2. Weiterbildungsjahr zum Nachtdienst in der geburtshilflichen Abteilung einzusetzen, obwohl diese nach Teilnahme an lediglich 3 oder 4 Beckenendlagengeburten die für die Leitung einer Problemgeburt des höchsten Schwierigkeitsgrades erforderliche umfassende Erfahrung und manuelle Übung noch nicht besaß. Die Einteilung der Ärztin in der Weiterbildung für den Nachtdienst war nicht fehlerhaft, weil die Schwangere unerwartet in der Klinik erschien, so dass sich diese hierauf nicht einstellen musste und es ausreichend war, wenn bei unerwarteten geburtshilflichen Problemfällen sofort ein erfahrener Facharzt hinzugezogen werden und sich unverzüglich einfinden konnte. Kommt es in einem solchen Fall zu einem die Fähigkeiten des in der Weiterbildung befindlichen Arztes übersteigenden Problem, liegt kein organisatorischer Fehler vor. Dann ist auch eine Beweislastumkehr zu Lasten der Behandlungsseite nicht berechtigt. Denn die Beweislastumkehr ist für Fälle fehlerhaften Einsatzes eines Arztes in Weiterbildung oder Ausbildung in der Klinik entwickelt worden12.

Diese an sich begrüßenswerte Entscheidung des Bundesgerichtshofs kann jedoch nicht über die Problematik hinwegtäuschen, dass der Chefarzt bei Zweifeln am Ausbildungsstand junger Kollegen schon aus Gründen der Patientensicherheit für die Überwachung des Arztes in der Weiterbildung durch einen Facharzt sorgen muss13.

bb) OLG Hamm14: Verletzung der Auswahl- und Überwachungspflicht des Chefarztes bei Nichtreaktion auf Diagnosefehler mehrerer nachgeordneter Ärzte

In diesem Fall hatten die im Bereitschaftsdienst befindlichen Ärzte die dynamischen Veränderungen in einem Kontroll-EKG im Vergleich zum Aufnahme-EKG übersehen und deshalb den Patienten – entgegen dem Facharztstandard – nicht unverzüglich zur Herzkatheteruntersuchung in eine Spezialklinik überwiesen. Das Oberlandesgericht hat auch den Chefarzt der Inneren Abteilung zu Schadensersatz verurteilt, weil dieser dafür Sorge zu tragen habe, „dass ein von ihm eingesetzter Arzt für die Behandlungsmaßnahmen ausreichend qualifiziert ist und die für ein selbstständiges Arbeiten allgemein zu fordernde fachliche Qualifikation besitzt.“ Diese Sorgfaltspflichten habe der Chefarzt im entschiedenen Fall verletzt. Aufgrund der vom gerichtlichen Sachverständigen festgestellten Kette von schweren Behandlungsfehlern – an 3 Behandlungstagen waren 3 unterschiedlichen, in der Abteilung tätigen Ärzten fundamentale Diagnosefehler bei der Auswertung von EKGs unterlaufen – und der gleichzeitigen Forderung des Sachverständigen, dass jeder am Bereitschaftsdienst teilnehmende Arzt sichere Kenntnisse in der Beurteilung eines EKGs haben muss, stand für das Oberlandesgericht indiziell fest, dass die hier im Rahmen der Behandlung des Patienten tätigen Ärzte nicht ordnungsgemäß ausgewählt und überwacht wurden.

cc) Landgericht Augsburg15: Sorgfaltspflichtverletzung des Chefarztes, weil internistischer Assistenzarzt im Rahmen eines fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes eine chirurgische Komplikation nicht erkannt hat.

Das Landgericht Augsburg verurteilte den Chefarzt einer chirurgischen Abteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen. Während eines fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes hatte der diensthabende internistische Assistenzarzt bei einer frisch operierten Schilddrüsenpatientin postoperativ eine chirurgische Nachblutungskomplikation nicht rechtzeitig erkannt. Dadurch erlitt die Patientin einen hypoxischen Hirnschaden. Das Landgericht Augsburg lastete dem Chefarzt an, dass er es unterlassen habe, geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu treffen, dass das Bestehen von Nachblutungen nach Schilddrüsenoperationen während der postoperativen Nachsorge auch zu Bereitschaftsdienstzeiten so rechtzeitig erkannt wird, dass Schädigungen durch eine Kompression der Luftröhre wie bei der betroffenen Patientin vermieden werden. Die Verteidigung des Chefarztes, er habe eine mündliche Dienstanweisung gegeben, wonach die Bereitschaftsdienstärzte gehalten waren, schon bei geringsten Anzeichen für Komplikationen auf fachfremdem Gebiet den jeweiligen Hintergrunddienst zu verständigen, ließ das Landgericht nicht gelten. Denn eine solche Dienstanweisung gehe ins Leere, wenn der Bereitschaftsdienst vor Ort infolge eines Kenntnisdefizits auf dem für ihn fremden Fachgebiet Anzeichen einer gefährlichen Komplikation schon gar nicht als solche erkennt.

2. Arbeitsrechtliches Spiegelbild der straf- und haftungsrechtlichen Verantwortung

Nimmt ein Chefarzt seine Auswahl- und Einteilungsverantwortung mit dem Ergebnis wahr, dass er einen Arzt nicht (mehr) zum Bereitschaftsdienst oder zur Rufbereitschaft einteilt, kann dieser Arzt seine Einteilung zu den Diensten grundsätzlich nicht durch arbeitsgerichtliches Urteil erzwingen16. Es genügt die subjektiv nachvollziehbare Einschätzung durch den Chefarzt. Schon das mangelnde fachliche Vertrauen des Chefarztes in die Leistungsfähigkeit des nachgeordneten Arztes reicht aus, um diesen nicht zum Bereitschaftsdienst heranzuziehen. Ob der nachgeordnete Arzt objektiv untauglich ist, spielt keine Rolle. Bei unterschiedlicher Auffassung zwischen dem Chefarzt und dem nachgeordneten Arzt, der am Bereitschaftsdienst teilnehmen möchte, bedarf es deshalb keiner Beweisaufnahme über die Qualifikation des Arztes17.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5