Arzt und Recht - OUP 05/2016

Facharztstandard während Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft*

Gehört zu den Aufgaben eines Oberarztes die selbstständige Ableistung von Rufbereitschaftsdiensten, können dessen fachliche Defizite zwar grundsätzlich eine (Änderungs-)Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem solchen Oberarzt rechtfertigen. Hierzu reicht jedoch die bloße Behauptung, der Oberarzt sei fachlich nicht in der Lage, Rufbereitschaftsdienste zu leisten, weshalb er im Rahmen eines Rufbereitschaftsdienstes selbst andere Oberärzte anrufe und diese um Rat bitte, nicht aus18. Ebenso wenig reicht die bloße Behauptung des Krankenhausträgers, der Oberarzt sei nur dann zum Rufbereitschaftsdienst eingeteilt worden, wenn die anderen Oberärzte in ihrer Freizeit freiwillig und überobligatorisch für evtl. Ratschläge zur Verfügung gestanden hätten, weil das alles keine Rückschlüsse auf eine erheblich hinter den berechtigten Erwartungen des Krankenhausträgers zurückbleibende Leistung des Oberarztes zulässt.

3. Pflichten des Arztes im
Bereitschaftsdienst

Im Zivilrecht gilt ein objektiver Sorgfaltsmaßstab. Daher muss auch ein Assistenzarzt im Bereitschaftsdienst ungeachtet seiner subjektiven Kenntnisse und Fertigkeiten die Sorgfalt gewährleisten, die von einem gewissenhaft arbeitenden Facharzt in derselben (Bereitschaftsdienst-)Situation erwartet werden kann und darf. Der Arzt im Bereitschaftsdienst muss also seine Kenntnisse und Fähigkeiten zunächst ordnungsgemäß einsetzen und – nur im Hinblick hierauf ist das System von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft überhaupt zu rechtfertigen – den in der Rufbereitschaft befindlichen Facharzt befragen bzw. hinzuziehen, wenn er die weitere fachärztliche Versorgung des Patienten nicht mehr alleine gewährleisten kann. Ob er genau hierzu in der Lage ist und damit zum Bereitschaftsdienst überhaupt eingeteilt werden kann, obliegt der Beurteilung und Verantwortung des Chefarztes der jeweiligen Abteilung. Dabei müssen Verhaltensmaßregeln für den Einzelfall nicht grundsätzlich im Detail fixiert werden. Es genügt die Festlegung der Weisungsbefugnis und grundsätzlichen Verantwortlichkeit für die Pflichtenkreise des Einzelnen, während Verhaltensmaßregeln im Detail nicht Gegenstand allgemeiner Anordnungen sein müssen. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat hierzu in einem Urteil vom 18.4.2006 wörtlich ausgeführt19:

„Wer sich in welcher Situation grundsätzlich wie zu verhalten hat, ergibt sich aus der Struktur der Arbeitsteilung und der Verantwortungsübernahme. So ist es selbstverständlich, dass beispielsweise die Hebamme den Arzt und der Assistenzarzt den Facharzt zu rufen hat, wenn zur Beherrschung der Situation die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen und die eigenen Kompetenzen überschritten würden. Die Frage, ob dann im konkreten Einzelfall eine solche Situation gegeben war und korrekt gehandelt worden ist, ist für diesen Einzelfall zu beantworten.“

Gleichwohl empfiehlt es sich, für besonders gefahrenträchtige Situationen oder aus gegebenem Anlass (z.B. in der eigenen Abteilung vorgekommene Mängel) schriftliche Verhaltensanweisungen zu erteilen, auch wenn dadurch die spezifische Gefahr des Rufdienstes, dass der Arzt im Bereitschaftsdienst die Gefahr nicht erkennt und den Hintergrunddienst nicht alarmiert, nicht sicher beseitigt werden kann.

Unterläuft einem Assistenzarzt im Bereitschaftsdienst ein Fehler, kann er dafür unter Umständen unter dem Gesichtspunkt eines Übernahmeverschuldens zur Verantwortung gezogen werden. Die Bejahung eines Übernahmeverschuldens hängt davon ab, ob der Arzt nach den bei ihm vorauszusetzenden Kenntnissen und Erfahrungen Bedenken gegen die Übernahme der Verantwortung für die Behandlung (im Bereitschaftsdienst) hätte haben und eine Gefährdung des Patienten hätte voraussehen müssen. Es kommt darauf an, ob er sich unter den besonderen Umständen des Falles darauf verlassen durfte, dass die vorgesehene Behandlung ihn nicht überforderte20. Ist für Komplikationen dadurch Vorsorge getroffen worden, dass der Oberarzt zu Hause in Rufbereitschaft steht, darf der Assistenzarzt im Bereitschaftsdienst auf die Funktionstüchtigkeit und Erprobtheit dieser Organisation vertrauen, es sei denn, er musste aufgrund konkreter Anhaltspunkte wissen, dass der Oberarzt im Fall von Komplikationen, mit denen nach Lage der Dinge gerechnet werden musste, nicht rechtzeitig zur Stelle sein werde. Der Bundesgerichtshof hat ein solches Übernahmeverschulden diskutiert – jedoch letztlich nicht entschieden – bei einem gynäkologischen Assistenzarzt, der Nachts die eigenverantwortliche Leitung einer Geburt übernommen und bei einem Kind, das mit enger Nabelschnurumschlingung um den Hals geboren wurde, eine Sauerstoffbeatmung mit Maske vorgenommen hatte, aber eine notwendige Intubation des Kindes unterließ, weil er die Intubationstechnik nicht beherrschte.

Allerdings erwartet die Rechtsprechung gerade von einem ärztlichen Berufsanfänger, dass er gegenüber seinen Fähigkeiten besonders kritisch und sich der unter Umständen lebensbedrohenden Gefahren für einen Patienten bewusst ist, die er durch gedankenloses Festhalten an einem Behandlungsplan, durch Mangel an Umsicht oder durch das vorschnelle Unterdrücken von Zweifeln heraufbeschwören kann. Es ist daher von einem Berufsanfänger jedenfalls zu fordern, dass er in schwierigen Behandlungssituationen zumindest den Rat seiner erfahrenen Fachkollegen einholt21.

Wenn dann aber ein Arzt im Bereitschaftsdienst aufgrund seines Ausbildungsstandes noch nicht in der Lage ist, in einer komplexen Situation, in der sich die Befundlage nach einer komplikationslosen Geburt zunehmend verschlechterte und die Blutgasanalyse einen bedrohlichen Wert ergab, die richtigen medizinischen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist es nicht fehlerhaft, wenn dieser Assistenzarzt den Oberarzt anruft, um ihm die Entscheidung über das weitere Vorgehen zu überlassen. Der Arzt im Bereitschaftsdienst darf dann auf die ärztliche Beurteilung und auf die Anweisung des ihm vorgesetzten Oberarztes vertrauen. Der Arzt im Bereitschaftsdienst überträgt damit die Verantwortung für das weitere Vorgehen auf den Oberarzt in der Rufbereitschaft zurück, der in dieser Situation den Facharztstandard zu gewährleisten und die erforderlichen Maßnahmen in die Wege zu leiten hat22.

4. Pflichten des Arztes in der Rufbereitschaft

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