Übersichtsarbeiten - OUP 02/2014

Leitlinie zur konservativen und rehabilitativen Versorgung bei Bandscheibenvorfällen mit radikulärer Symptomatik1
Gekürzte Version der Originalfassung vor Bestätigung der Aktualisierung durch die DGOOC

Liegen „red flags“ vor, so ist in der Regel eine Kernspintomografie aufgrund der besseren Beurteilbarkeit der ligamentären Strukturen, der wirbelsäulennahen Weichteile, des Knochenmarks und auch des Spinalkanals mit seiner Binnenstruktur bei gleichzeitig fehlender Strahlenexposition mit bildgebender Methode die primäre Wahl [52, 53, 54]. Die Röntgenuntersuchung der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte in 2 Ebenen ergibt Hinweise auf Veränderungen der knöchernen Strukturen, sekundäre Hinweise auf degenerative Prozesse, rheumatische Grundursachen und insbesondere bei der Durchführung von Funktionsaufnahmen (Flexions- bzw. Extensionsaufnahmen), Hinweise für segmentale Instabilitäten. …

b) Chronischer Rückenschmerz

Bei chronischem Rückenschmerz ist insbesondere der Analyse und dem Ausschluss von psychologischen Chronifizierungsfaktoren Beachtung zu schenken. Auch bei Vorliegen von psychologischen Chronifizierungsfaktoren ist die Indikation zur Bildgebung bei klinischen Hinweisen auf eine begleitende Organpathologie zu stellen. …

2.2 Allgemeine Hinweise zu den Therapieformen (Abb. 2)

2.2.1 Schmerztherapie

Medikamentöse Schmerztherapie

Bei medikamentöser Schmerztherapie sind Überlegungen zu den grundlegenden Pathomechanismen der Schmerzgeneration (nozizeptiv-neuropathisch-mixed pain) und den nachfolgenden neurophysiologischen Prozessen unabdingbar.

In Anlehnung an das WHO-Stufenschema zur medikamentösen (Tumor-)Schmerztherapie werden die angewendeten Substanzen in 3 Gruppen nach ihrer analgetischen Potenz eingeteilt. Je nach Schmerztyp (nozizeptiv-neuropathisch- mixed pain) können Ko-Analgetika eingesetzt werden. Ko-Analgetika wirken primär nicht als Analgetikum, können aber zur Schmerzlinderung beitragen. Sie beeinflussen nozizeptive Afferenzen und interferieren mit absteigenden nozifensiven Bahnen. Bei der Auswahl der Medikamente müssen die individuellen Risiken (z.B. Allergien, Begleiterkrankungen, Alter), die Zulassung des Medikaments und dessen Pharmakologie/Nebenwirkungsprofil sowie auch wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt werden. Die medikamentöse Behandlung soll die nichtmedikamentösen Maßnahmen unterstützen, damit die Betroffenen frühzeitig ihre üblichen Aktivitäten wieder aufnehmen können.

a) Analgetika/Kortikoide

Zur Durchbrechung des Schmerzkreislaufs bei akuten Rückenschmerzen empfehlen van Tulder et al.1997 [88] zunächst einfache Analgetika wie z.B. Paracetamol. Dass auch nicht-steroidale Antirheumatika (tNSARs) bei der Behandlung wirken, konnte bereits vor Jahren gezeigt werden [128]. Die Evidenz dafür, dass sie besser als Paracetamol sind, ist aber widersprüchlich. Eine bessere Beeinflussung stärkerer Schmerzen durch tNSAR wurde von Towheed et al. 2005 [127] nachgewiesen. Es gibt gemäß neueren Erkenntnissen auch keine Evidenz dafür, dass ein bestimmtes Präparat aus der tNSAR-Wirkstoffgruppe besser als die anderen sei [82]. t-NSAR sollen zur Therapie akuter Rückenschmerzen eingesetzt werden.

Cox-2 Hemmer zeigten in den Studien zwar weniger Nebenwirkungen als die traditionellen NSARs, sind aber bei bestimmten Patienten mit einem höheren kardiovaskulären Risiko assoziiert und für die Behandlung von Rückenschmerzen nicht zugelassen. Cox-2-Hemmer sollen unter Berücksichtigung der Warnhinweise, wenn t-NSAR kontraindiziert sind oder nicht vertragen werden („off label use“) eingesetzt werden. Da es neben der Nervenwurzelbedrängung (mixed-pain) häufig auch zur Aktivierung degenerativ veränderter Wirbelgelenke mit nachfolgender Nozigeneration kommt, ist die Therapie mit Cox-2-Hemmern gerechtfertigt und entspricht der Zulassung für diese Stoffgruppe.

Aus der Gruppe der nichtsauren Pyrazolonderivate steht auch der Wirkstoff Metamizol zur Verfügung. Zugelassen ist es für die Behandlung akuter und chronischer starker Schmerzen, wenn andere Analgetika kontraindiziert sind. Die Wirksamkeit von Pyrazolonen bei der Behandlung von Rückenschmerzen wurde bisher nicht untersucht. Entsprechend der Zulassung sollten Pyrazolone zur Behandlung eingesetzt werden.

Bei hochgradigen, akuten Beschwerden kann der kurzfristige parenterale Einsatz von Medikamenten gerechtfertigt sein. Die Behandlung chronischer Rückenschmerzen mittels intravenöser oder intramuskulärer Applikation von Analgetika oder deren Kombination mit anderen Substanzgruppen (Vitamine, Kortison) soll aufgrund der Nebenwirkungsgefahren und fehlender Überlegenheit gegenüber oraler Gabe nicht durchgeführt werden.

Die Wirkung der oralen Kortikoidgabe, z.B. Prednisolon 50 mg/d für 3–-5 Tage, dann ggf. Ausschleichen (Reduktion um 10 mg pro Tag), ist nicht sicher belegt [79].

Bei starken Schmerzen werden auch Opioide eingesetzt. Ein europäisches Expertenpanel gibt eine evidenzbasierte Empfehlung zugunsten von Opioiden bei chronischen Rückenschmerzpatienten, bei denen andere Schmerztherapien keine Wirkung zeigten [80, 130]. Diese Medikamente sollten aber im Zuge eines multimodalen interdisziplinären Therapieprogramms verordnet werden. Auch ein aktueller systematischer Review bescheinigt den Opioiden zumindest kurzfristige Wirksamkeit bei Kreuzschmerzen [84]. Bei therapierefraktären Schmerzen sollen Opioide bei akuten Schmerzen für 2–3 Wochen gegeben werden, bei chronischen Schmerzen unter Kontrolle der Wirksamkeit auch länger. Ein fehlendes Ansprechen innerhalb von 6 Wochen soll zum Absetzen führen. Hierzu existiert die S3-Leitlinie „Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen“ [AMWF Leitlinie LONTS-Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen, 78]. Der Einsatz sollte nach dem WHO-Schema nach einem festen Zeitplan oral erfolgen. In seltenen Fällen können auch höherpotente Opioide verabreicht werden (AWMF Leitlinie Lumbale Radikulopathie, Deutsche Gesellschaft für Neurologie 2008, [77]).

b) Myotrope Medikamente

Muskelrelaxanzien können kurzfristig unterstützend bei Patienten mit Muskelverspannungen, begleitend zur medikamentösen Schmerztherapie eingesetzt werden. 2 systematische Reviews aus 2003 und 2004 zeigten deren Wirksamkeit, warnen aber vor möglichem Missbrauch [86, 131]. Tolperison kann wie Flupirtin nach individueller Nutzen-Risikoeinschätzung nur als Mittel 2. Wahl zum Einsatz kommen. Der Nutzen von Flupirtin bei Rückenschmerzen ist laut arznei-telegramm nur unzureichend belegt, zudem gibt es vermehrt Berichte über das Suchtpotenzial des Wirkstoffs sowie über Leberschäden (laut Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) [178].

c) Ko-Analgetika

Antidepressiva kommen in der Regel nur bei Patienten mit chronischen Schmerzen zum Einsatz. Ein systematischer Review aus dem Jahre 2003 kam zu dem Ergebnis, dass tri- und tetrazyklische Antidepressiva, sog. nichtselektive Monoaminwiederaufnahmeinhibitoren (NSMRIs), z.B. Amitriptylin, einen mittelstarken Effekt bei der Schmerzbekämpfung haben. Für SSRIs, einer anderen Klasse von Antidepressiva, konnte kein Nutzen gefunden werden [85]. NSMRIs und Substanzen zur Behandlung neuropathischer Schmerzen (Pregabalin, Gabapentin) können bei radikulären Schmerzen (unter der Annahme eines mixed-pain) von Nutzen sein und sollten entsprechend eingesetzt werden.

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